1958

1958, 9. Juni: Tod des ersten Vorsitzendenden der Jüdische Kultusgemeinde nach dem Zweiten Weltkrieg, Levi, genannt Ludwig de Vries

Quelle: Stadt- und Vestisches Archiv Recklinghausen, Verfasser: Dr. Matthias Kordes, Leiter des Stadt- und Vestischen Archivs Recklinghausen.

 

Levi, genannt Ludwig de Vries, kam nicht aus Recklinghausen. Er stammte vielmehr aus einer alteingesessenen und im Emsland verzweigten jüdischen Familie; sein Heimatort war Lathen im heutigen Landkreis Emsland, unweit der Grenze zu den Niederlanden gelegen. Seine Vorfahren, insbes. sein Vater Moses de Vries (Synagogenvorsteher in Lathen, zusammen mit seiner Frau Ida 1942 im NS-Vernichtungslager Treblinka ermordet), übte den traditionellen Beruf des sog. Landjudentums aus; er war Viehhändler.

Moses und Ida de Vries hatten zwei Söhne: Josef und Levi de Vries. Levi, genannt Ludwig de Vries wurde am 30. Dezember 1904 in Lathen geboren. seine erste Ehe schloss er im Mai 1932 in Delitzsch/Saale mit Hertha, geborene Salomons, die 1943 ebenso wie der gemeinsame neunjährige Sohn Leo/Leonhard in Auschwitz umgebracht wurde. Nach Kriegsende 1945 ging der Holocaust-Überlebende Levi de Vries zunächst nach Lathen zurück, doch 1946 kam er nach Recklinghausen, um dort Martha Markus, Tochter der bekannten jüdischen Kaufmannsfamilie Markus von der Bochumer Straße in Recklinghausen-Süd zu heiraten, auch er gibt als Beruf Viehhändler an, seine Braut Martha (geboren am 16. Oktober 1911, gestorben am 30. Dezember 1988). die als junge Frau mit ihren Angehörigen Ende Januar 1942 nach Riga deportiert wurde, wird als Geschäftsinhaberin bezeichnet: Auf der Steinstraße 12 baute sie, die als einzige ihrer Familie den Holocaust überlebt hatte, zu dieser Zeit einen Obst- und Gemüsehandel auf und trat damit in die gewerbliche Tradition ihrer ermordeten Eltern.

Die Eheschließung von Levi de Vries und Martha geb. Markus, zu deren Trauzeugen auch der Bruder Levis, Joseph de Vries (1908–1981; wohnhaft in Lathen, Bahnhofstraße 20) angereist war, hat als die erste jüdische Heirat in Recklinghausen nach dem Zweiten Weltkrieg zu gelten. Da beide Eheleute zahlreiche Angehörige durch den Holocaust verloren hatten, war ihnen das persönliche und zugleich sichtbare und öffentliche Gedenken an die jüdischen Mordopfer des NS-Regimes ein besonderes Anliegen. Bereits 1947 hatten die Brüder Levi und Joseph de Vries auf dem Jüdischen Friedhof in Lathen einen Gedenkstein für ihre Familienmitglieder errichtet, welche die Shoa nicht überlebt hatten (Josephs Ehefrau Rosette geb. Jacobs, starb ebenfalls in einem Vernichtungslager). 1948 nahmen die Eheleute de Vries für Recklinghausen noch Größeres in Angriff: Am 12. September 1948 wurde auf ihr Betreiben auf dem von den Nazis zu großen Teilen verwüsteten Friedhof am Nordcharweg feierlich ein Mahnmal enthüllt, dass an alle 215 Holocaust-Opfer der Jüdische Gemeinde Recklinghausen erinnert (siehe auch unter 1948).

Ludwig und Martha de Vries gehörten zu den ersten Gemeindemitgliedern, die das jüdische Leben in Recklinghausen wiederbelebten. 1946 lud das Ehepaar zum ersten Gottesdienst in ihre Wohnung ein. Ludwig de Vries hatte nämlich die Thorarolle aus der Synagoge seiner Heimatstadt Lathen vor der Vernichtung durch die Nazis retten können. Nach dem Krieg holte er sie aus einem Versteck und brachte sie nach Recklinghausen, zumal in Lathen die erst 1932 erbaute und im November 1938 zerstörte Synagoge nicht wiedererrichtet wurde. Bis zu seinem Tod 1958 leitete Ludwig de Vries die Recklinghäuser Gemeinde. Hinter dem Gemeindehaus ließ er durch den Recklinghäuser Architekten Karl Gerle 1954/55 einen Trakt als Versammlungsraum bauen und im Obergeschoss ein Synagogenraum einrichten. Ludwig de Vries starb erst 54-jährig im Knappschaftskrankenhaus Recklinghausen; seine Frau Martha überlebte ihn um 30 Jahre. Beide ruhen heute in einer gemeinsamen Grabstätte am Nordcharweg.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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