Über uns

Recklinghausen

Die Marktsiedlung Recklinghausen bekam um 1230 vom Kölner Erzbischof die Stadtrechte verliehen. Namentlich bekannt ist Gottschalk von Recklinghausen, der von Lochern aus seinen Geschäften nachging und in erster Linie als Geldverleiher tätig war. Er wurde während der Judenverfolgungen zur Zeit des Schwarzen Todes 1349–1350 getötet. Für ein organisiertes jüdisches Gemeindewesen im Mittelalter und früher Neuzeit ist bisher in den Quellen kein Nachweis zu finden.(Quelle: de.wikipedia.org/wiki/Jüdische_Gemeinde_Recklinghausen)

Bereits im 15./16. Jahrhundert gab es in Recklinghausen jüdisches Leben. Das spielte sich bis zum Jahre 1824 allerdings nicht als Gemeinde, sondern im privaten Rahmen ab. Zu Gottesdiensten und Religionsunterricht pflegten sich die Recklinghäser Juden regelmäßig im Haus der Familie Levy zu treffen.

 

 

 

 

 

Kupferstich von „Recklinshaussen“, Matthäus Merian: Topographia Westphaliae, 1647 (Abb. aus: wikipedia.org, gemeinfrei)

14. Jahrhundert – Fragment einer hebräischen Bibel (Pergamentblatt, beidseitig beschriftet) mit Randkommentaren, überliefert als sog. Kopert-Einband eines frühneuzeitlichen Ratsprotokollbuches der Stadt Recklinghausen

von Dr. Matthias Kordes, Leiter des Stadt- und Vestischen Archivs Recklinghausen

Quelle (Trägerband): Stadt- und Vestisches Archiv Recklinghausen, Bestand I, R 23: „Prothocollum aller gerichtlicher handell da vur Burgermeister und Rhätt der Stadt Recklinghausen, criminaliter oder civiliter, in Camera seindt verhandeltt und ergangen, Anno 1590 ann gefangen.“ (Papier, 119 Bl., fadengeheftet, mit losen Beilagen, Laufzeit 1590–1630);

Außen: Pergamentblatt (beidseitig beschriftet) einer hebräischen Bibel mit Randkommentaren, 14. Jahrhundert, überliefert als Einband eines frühneuzeitlichen Ratsprotokollbuches der Stadt Recklinghausen. Format des Fragments: Großfolio, Pergament, ca. 44 cm x 33 cm, auf sorgfältig angebrachter Liniierung dreispaltig beschrieben, aschkenazische Quadratschrift mit Punktierung (Vokalisationen).

Beschreibung

Das hebräische Bibelfragment aus Recklinghausen ist in sorgfältigem Layout nach Art einer sefer torah niedergeschrieben. Das Textstück wurde ursprünglich als Kodex, das heißt im traditionell Sinne als Buch, nicht aber in Rollenform überliefert. In heute stark abgegriffenen und gedunkeltem Zustand hat es sich als sog. Einband-Makulatur eines frühneuzeitlichen Aktenbandes erhalten. Demnach liegt hier der zerstückelte Rest eines biblischen Textkorpus (Tanach) vor, das vor rund vier Jahrhunderten in einem zeittypischen Recyclingverfahren für handwerkliche, genauer gesagt: für Zwecke der Schriftgutverwaltung wiederverwendet wurde. Das Fragment enthält den Text von Bemidbar (= Numeri / 4. Buch Mose) 23, 1–15, und erzählt den Anfang der Geschichte von der prophetischen Gestalt namens Bileam, der auf Befehl des Moabiterkönigs Balak die Israeliten verfluchen sollte, am Ende aber auf Geheiß Gottes das Volk Israel segnete. Diese – hier natürlich rein zufällig erhalten gebliebene – Textpassage liegt auch in aramäischer Übersetzung (Targum) vor und wurde mit erläuternde Randbemerkungen (Masora) in sehr kleiner, kursivierter Schrift versehen. Das Blatt stammte wohl aus einer sog. masoretischen Bibel, die von Schriftgelehrten für Schul- und Studierzwecke benutzt wurde.

Das zur Text- und Schriftanordnung des Aktenkonvolutes um 90 Grad nach links gedrehte Pergamentblatt weist eine sorgfältige Vertikal- und Horizontalliniierung drei schlanker und eleganter Textsäulen auf. Die hebräische Schrift kann paläographisch nur im Ungefähren datiert werden. Der Text präsentiert sich auf Vor- und Rückseite in drei Kolumnen à 30 Zeilen – an die liturgisch-repräsentativen Großformate spätmittelalterlicher Tora-Rollen (mit Maßen von bis zu 70 x 60 cm pro Blatt und zwischen 50 und 60 Zeilen pro Textspalte) reicht das Layout somit nicht heran.

Das vorliegende Bruchstück wurde als sog. Kopert verarbeitet (von mittellateinisch: coopertorium bzw. coopertum: Bedeckung, Einwicklung, (Schutz-) Hülle, konkret: Umschlag aus Leder oder Pergament). Dieser Befund weist auf eine zeittypische, schon seit dem 15. Jahrhundert vermehrt auftretende und einfach herzustellende Einfassung von Geschäfts- und Gebrauchsschriftgut hin. Akten, Rechnungs- und Amtsbücher kaufmännischer, juristischer oder administrativer Provenienzen wurden auf diese Art mit leichten, flexiblen, ohne stabilen Holzdeckel auskommenden Umschlägen aus Pergamentblättern eingefasst, seien sie nun beschrieben oder blanko, gleiches gilt für das Äußere von Studienliteratur und Schultexten. Ein besonderes Können von Buchbindern war für diese Art der Heftung kaum erforderlich; Stadt- und Gerichtsschreiber, Kanzlisten oder Registratoren konnten so etwas zur Not auch selbst bewerkstelligen. Diese Kopert-Einbände dienten vornehmlich flacher Lagerung von Schriftgut in Aktenfächern von Registraturen, nicht der senkrechten – mit dem Rücken zum Betrachter gewendeten – Aufstellung in (Bibliotheks-) Regalen nach Art eines gebundenen Buches.

Typisch ist jedenfalls, dass man hier ein ganzes Pergamentblatt im Großfolio-Format für die Heftung des – etwa halb so großen – Protokollbuches des Recklinghäuser Stadtgerichtes (Folio, ca. 32 x 20 cm) verwenden konnte. Dieses besteht übrigens aus zwei getrennt voneinander gehefteten Faszikeln, die Einträge des einen Konvolutes reichen von 1590 bis 1594, das zweite setzt erst 1622 ein und endet 1630. Der dermaßen zweigeteilte Papierblock, dem noch lose Beilagen hinzugefügt wurden, und das Pergamentblatt sind in zwei auseinanderliegenden Arbeitsvorgängen durch simple Fadenheftung miteinander verbunden worden. Die Innenseite des kräftigen, großen Blattes war im Übrigen mit zusätzlichem Papier verleimt, was der Stabilisierung des Aktenbandes offenbar zusätzliche Substanz verleihen sollte.

Einband-Makulatur

Für die Herstellung solcher Buch- und Aktenumschläge wurden Hilfsmittel aus einschlägigem, meist aus zweiter Hand stammendem Wertstoff gewonnen. Man griff auf ausgesonderte, für nicht mehr erhaltungswürdig erachtete Pergamenthandschriften zurückliegender Jahrhunderte zurück. Ihr ‚überschüssiges‘ Vorkommen im 16. Jahrhundert hat mit Konsequenzen des epochalen Medienwandels, d.h. mit dem Durchbruch des Buchdrucks im ersten Viertel des 16. Jahrhunderts zu tun, wodurch zahlreiche handgeschriebene, verschlissene, unter Umständen schwer lesbare Texte auf Pergament gegenüber moderneren, standardisierten und rationalisierten Druckausgaben auf Papier für obsolet gehalten wurden. Von jeglichen text- und buchimmanenten Wertigkeiten, ästhetischen Kategorien oder religiös-liturgischen Zweckbestimmungen entkleidet, wurden „außer Dienst gestellte“ christlich-kirchliche Bücher (darunter auch Bibeln, Breviere, Choralhandschriften, Missale und zentrale theologische Werke) oder auch jüdische Kodizes fachmännisch auseinandergeheftet und Blatt für Blatt neu auf verschiedene Formate zugeschnitten.

Qualitätsvolle Pergamentblätter – für Tora und Tanach wurde freilich nur bestes und koscheres Material verwendet – galten jedenfalls als langlebig, robust, strapazierfähig und vergleichsweise reißfest, sie konnten weitaus empfindlichere Papierkonvolute wirksam schützen. Demzufolge war das Ausmaß der Zerstörung mittelalterlicher Handschriften im 16. Jahrhundert – auch ohne Kriege, Pogrome und andere Katastrophen – immens. Die Resultate, sprich: die materiellen Relikte dieses rohen Umgangs mit Buchtexten christlicher (und jüdischer) Provenienz sind bezüglich der Bestände des 16. und 17. Jahrhunderts ein breit angelegter Befund europäischer Archive und Bibliotheken. Heute befinden sich diese Einband-Makulaturen entweder, wie etwa in Recklinghausen, unverändert am Trägerband, oder aber, meist im Zuge von Restaurierungsmaßnahmen, abgelöst in separaten Sammlungen.

Geniza

Hebräische Fragmente, die auf diese Weise tradiert wurden, nehmen dabei eine Sonderstellung ein. Sie liegt freilich darin begründet, dass jüdische Buchkultur und Glaubenspraxis eine solche pragmatische Sekundärverwendung von Bibelhandschriften nicht vorsehen, sondern eine dem sakralen Textinhalt angemessene und diskrete Ablage in der Synagoge vorschreiben. Für dieses „Versteck“, das in seinem textlichen Gehalt für die moderne Forschung ein besonderer Quellenfundus sein kann, wird traditionell die Bezeichnung Geniza verwendet. Eine derartige Deponierung in einem eigens dafür vorgesehenen Behältnis bzw. einer kleinen, verschlossenen (Abstell-) Kammer ist dabei jedoch nicht als Archivierung zu verstehen, sondern als eine physische Verwahrung, die achtlose Vernichtung und würdelose Entsorgung verbrauchter, abgenutzter und liturgisch nicht mehr verwendbarer Schriftrollen durch Unbefugte verhindern sollte. Der heutigen Forschung gelten solche Depots buchstäblich als Fundgruben für Quellen zur jüdischen Kultur, Literatur und Theologie. Das jüngst fertiggestellte Projekt „Geniza Germania“, das auch das vorliegende Blatt erfasst hat, katalogisiert und erschließt systematisch alle überlieferten hebräischen Handschriftenfragmente.

Zwischen einer Geniza und einer westfälischen Kanzlei um 1600 gibt es aber natürlich keine funktionalen oder personalen Verbindungen. Indem heute zahlreiche hebräische (und aramäische) Einband-Makulaturen nicht in den alten, örtlichen Depots, sondern verstreut in europäischen Archiven und Bibliotheken vorfindlich sind, stellt sich also die Frage nach dem speziellen Schicksal solcher Handschriften. Raub, Plünderung, Beschlagnahme oder Vandalismus sind dabei in Rechnung zu stellen; Zerlegung und Zerstückelung der Bücher können ohne Zweifel Evidenzen der Zerstörung jüdischer Gotteshäuser und Vertreibung ganzer Gemeinden sein – eine jüdische Gemeinde mit einer Bücherausstattung, die einschlägigen synagogalen Erfordernissen entsprochen hätte, hat es in Recklinghausen im späten 16. Jahrhundert jedenfalls nicht gegeben.

Neue Forschungen gehen indes davon aus, dass es insbesondere im 16. Jahrhundert auch andere Gründe und Wege gab, die erst zur Vernachlässigung und Außerachtlassung älterer Schriften, dann zur Bereitschaft führten, Veräußerung und Wiederverwendung handschriftlicher Texte und Bücher stillschweigend zu dulden. Immer höhere Druckauflagen gebundener Bücher und ein Anwachs aktenmäßiger Justiz- und Verwaltungsschriftlichkeit führten zu einer steigenden Nachfrage nach geeignetem Einbandmaterial. Verstärkt wurde der Pergamenthandel zu einem lukrativen Geschäft, das nicht nur lokale Bedürfnisse befriedigte.

Gutes, altes Pergament, ob beschriftet oder nicht, erwarb einen überregionalen Handels- und Marktwert, der womöglich auch jüdischen Buchbindern ein Handlungsfeld eröffnete Gutes, altes Pergament, ob beschriftet oder nicht, genoss einen überregionalen Handels- und Marktwert, der womöglich auch einzelnen jüdischen Kaufleuten und Buchhändlern ein Geschäftsmodell eröffnete, im Rahmen dessen sie – unbeschadet bestehender Schutzvorschriften – aus Geniza-Beständen gewonnene Makulatur an christliche Buchbinder, Pergamenthändler, Bibliothekare oder Kanzleibeamte veräußerten. Einen solchen oder ähnlichen Weg könnte auch das vorliegende Blatt genommen haben, bis es um 1600 in der Schreibstube des Recklinghäuser Rathauses als Umschlag eines städtischen Protokollbandes seinen endgültigen Überlieferungszustand erreichte.

Eine andere, rein hypothetisch bleibende Möglichkeit bestünde darin, dass das Blatt aus dem Besitz des Talmud-Gelehrten Gershon ben Meir Biberach (geboren am 1. August 1567 in Recklinghausen, gestorben am 25. September 1622 in Bernburg/Saale) stammt, der Ende des 16. Jahrhunderts in Recklinghausen lebte. Gershon wurde ab 1607 unter dem Namen Christian Gerson mit einer – bis ins 1722 in sieben Auflagen gedruckten – theologischen Widerlegung des Talmuds als protestantischer Konvertit, Judenmissionar und früher Hebraist publizistisch bekannt. Möglicherweise ließe er eine masoretische Bibel in Recklinghausen zurück, als er sich im Jahre 1600 nach Halberstadt und Bernburg aufmachte, wo er evangelisch getauft wurde und später als Pfarrer und Theologe wirkte.

Das vorliegende hebräische Bibelfragment ist jedenfalls das älteste schriftliche Zeugnis jüdischer Geschichte in Recklinghausen; seine besondere Überlieferungsgeschichte macht es zu einem singulären Dokument im Stadt- und Vestischen Archiv Recklinghausen.

 

Weiterführende Literatur (Auswahl):

Hüttenmeister, Nathanja, Möllers, Georg, Art. „Recklinghausen“, in: Historisches Handbuch der Jüdischen Gemeinschaften in Westfalen und Lippe: Die Ortschaften und Territorien im heutigen Regierungsbezirk Münster, hg. von Susanne Freund und Peter Johanek, Münster 2008, S. 574-595,

Hüttenmeister, Nathanja, Eine jüdische Familie im Spannungsverhältnis zwischen Judentum und Christentum, Der Konvertit Christian Gerson im Konflikt mit seiner jüdischen Verwandtschaft, in: Vestische Zeitschrift 99 (2002), S. 47–59.

Lehnardt, Andreas, Hebräische Handschriftenfragmente im Blick der judaistischen Forschung, in: Fragment und Makulatur. Überlieferungsstörungen und Forschungsbedarf bei Kulturgut in Archiven und Bibliotheken / herausgegeben von Hanns Peter Neuheuser und Wolfgang Schmitz. Wiesbaden 2015, S. 192-215.

Lehnardt, Andreas, Verborgene Schätze in Bucheinbänden. Hebräische und aramäische Handschriftenfragmente als Quelle jüdischer Kultur, in: Kirchliches Buch- und Bibliothekswesen: Jahrbuch 2007/08, S. 89-99.

Reimund Leicht, Verbrennen oder Verbergen? Über den Umgang mit heiligen und unheiligen Büchern im Judentum, in: Körte, Mona, Ortlieb, Cornelia (Hg.), Verbergen, Überschreiben, Zerreißen: Die Schicksale der Bücher, Berlin 2007, S. 123–141.

 

Weiterführende Links:

1800, April 22 – Regierungsverordnung im Auftrag des Kölner Erzbischofs Maximilian Franz von Österreich über die Lockerung von strafbewehrten Handelsbeschränkungen hinsichtlich auswärtiger Juden: Reskript der Erzstiftisch-Kölnischen Landesregierung zu Recklinghausen an den Stadtrat von Recklinghausen über die Abschaffung von Strafverfahren gegen Einwohner des Vestes Recklinghausen, die Rinder oder andere Waren an jüdische Viehhändler verkaufen.

Quelle: Stadt- und Vestisches Archiv Recklinghausen, Bestand I, S 3: Juden betreffend, Bl. 1-2, Verfasser: Dr. Matthias Kordes, Leiter des Stadt- und Vestischen Archivs Recklinghausen.

Maximilian Franz von Gottes Gnaden Erzbischof von Köln, des heiligen Römischen Reiches durch Italien Erzkanzler und Kurfürst, geborener Legat des heiligen apostolischen Stuhls zu Rom, königlicher Prinz von Ungarn und Böhmen, Erzherzog zu Österreich, Herzog zu Burgund und Lothringen etc. Administrator des Hochmeisterthums in Preußen, Meister des deutschen Ordens in Deutsch- und Wälschen Landen, Bischof zu Münster, in Westphalen und zu Engern Herzog, Graf zu Habsburg und Tyrol, etc etc. Burggraf zu Stromberg, Herr zu Odenkirchen, Borkelohe, Freudenthal und Eulenberg etc.

Liebe Getreue! Da in dem hiesigen Veste, wie bekannt, keine Juden geduldet werden, so hat es sich wie uns zu vernehmen vorgekommen, mehrmalen zugetragen, daß wenn irgendwo ein anderwärts wohnender Jude ein Stück Rindtvieh oder eine andere Sache von hiesigen Unterthanen angekauft, der fiscus wider den Verkäufer aufgetreten, und mit verursachung mehrerer Kosten auf desselben bestrafung angetragen habe, da aber eine solche ausdehnung der vermeintlichen fiscal befügnisse der souvenienz so wenig als dem rechtlichen Sinn des gesezes angemeßen ist, und Uebertreibung in diesem Stücke zur beschwerniß der Unterthanen von selbst auffällt, so befelen wir, daß künftig hin solche fiscal Klagen gegen den etwaigen Verkäufer nicht mehr angenommen werden, und die unterthanen, wenn sonst nichts sträfliches untergelassen damit verschont bleiben sollen. wornach ihr euch in dem vorkommenden Willen zu verhalten habt. Wir sind euch mit Gnaden gewogen. Recklinghausen, am 22ten April 1800 ./.

Aus besonderem S[eine]r K[ur]f[ür]st[i][ch[e]n D[urc]hl[auch]t

g[nädi]gsten befehl

W. Hörster

an den hiesigen Stadrath.

Betrifft den Handel

mit den Juden

hier im Lande

Unsern lieben Getreuwen Bürger-

meister und Rath unserer Stadt Recklinghausen

praes[entatum] in Curia

am 1ten Marz 1800

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Weiterführende Links:

1808, Januar 23: Rechtliches Ende der Judendiskriminierung im Vest Recklinghausen durch Edikt des Herzogs Prosper Ludwig von Arenberg über die Einführung des Code Napoléon in den Territorien des Herzogtums Arenberg

Quelle: Stadt- und Vestisches Archiv Recklinghausen, Bestand Herzoglich Arenbergisches Archiv, I A Nr. 59: Sammlung herzoglich Arenbergischer Gesetze, Verordnungen und Ausschreiben für Meppen, Recklinghausen und Dülmen vom Jahre 1802 – 1810, Bl. 94-97, Verfasser: Dr. Matthias Kordes, Leiter des Stadt- und Vestischen Archivs Recklinghausen.

Der Code Napoléon (eigentlich: code civil des francais), das am 27. März 1804 in Paris verkündete Zivilgesetzbuch des Kaiserreiches Frankreich, galt im Europa des 19. Jahrhundert als vorbildlich-modernes, ja überragendes Gesetzeswerk moderner Staatlichkeit. Dieses sah vor, Standesprivilegien, rechtliche Benachteiligungen und feudale Abhängigkeiten wie etwa die Leibeigenschaft oder Erbuntertänigkeit durch Schaffung eines einheitlichen Bürgerlichen Rechts einzuebnen, welches unterschiedslos für alle Staatsangehörigen gelten sollte. Mit Einführung des Code Napoléon auch im Herzogtum Arenberg (enthält: 2281 Artikel, gegliedert nach den Materien: Personenrecht, Ehe und Vormundschaftsrecht, Sachenrecht, Eigentum, beschränkte dingliche Rechte, Eigentumserwerb, Erbschaften und Testamente, Schuldrecht) wurde eine entscheidende rechtsgeschichtliche Entwicklung vollzogen, durch welche das 1663 kodifizierte kurkölnische Landrecht nebst älteren kurkölnischen Edikten, Statuten, Verordnungen, Sonderregelungen und überkommenen Gewohnheitsrechten außer Kraft gesetzt wurde.

Dadurch fielen auch manche alten Bestimmungen religionspolitischen bzw. diskriminierenden Inhaltes weg, durch welche Minderheiten wie Juden oder Protestanten im Vest Recklinghausen nicht geduldet waren. Bürgerliche Rechtsgleichheit, uneingeschränkte Rechtsteilhabe sowie die vertrags- und wirtschaftliche Betätigungsfreiheit aller (männlichen) Staatsbürger waren die neuen Leitgedanken des aus den revolutionären Errungenschaften von 1789 erwachsenen Rechts- und Gesellschaftsbildes. Diese Innovationen des französischen Zivilrechts, die nun auch für alle Untertanen zwischen Emscher und Lippe gelten sollten, betrafen auch die formale Außerkraftsetzung der immer noch in Geltung stehenden kurkölnischen Judenordnung von 1700 (in älteren Fassungen bereits 1592, 1599 und – auch für das Vest Recklinghausen – 1614 erlassen, in Teilen noch bis 1787 ergänzt und erneuert). Diese unterwarf die Ansiedlung sowie Handel und Wandel von Juden in den kurfürstlichen Territorien strengen Auflagen und Restriktionen und untersagte jüdisches Leben im Vest Recklinghausen, das seit Ende 1802 unter Arenbergischer Herrschaft stand, praktisch gänzlich.

Artikel 11 des Arenbergischen Ediktes, mit welchem Einführung und Inkraftsetzung des Code Napoléon für den 1. Juli 1808 angekündigt (und später auf Februar 1809 verlegt) wurde, brachte diesen egalitären Ansatz unmissverständlich zum Ausdruck: Demnach sollte es im bürgerlichen Rechtsverkehr keinen Unterschied mehr zwischen Angehörigen verschiedener Religionen und Konfessionen geben. Hinzutrat eine herzogliche Einzelverordnung von September 1808, die auswärtigen Juden an den Grenzen der Arenbergischen Territorien keinen sog. Leibzoll mehr abverlangten und damit ein altes Handelshindernis abschafften.

Das Herzogtum Arenberg-Recklinghausen war eins der ersten deutschen Territorien, in denen das Französische Recht eingeführt wurde. Im vorliegenden Gesetzestext ist zwar nirgendwo ausdrücklich von den Juden und der Konsequenz ihrer rechtlichen Emanzipation die Rede, aber eine auf Dauer angelegte Niederlassung von Juden zwischen Emscher und Lippe, die seit Beginn des 17. Jahrhunderts erstmals keine pauschale Unterdrückung oder von Staats wegen angeordnete Ausweisung bzw. Vertreibung mehr zu befürchten hatten, konnte auf dieser Grundlage ab 1808/09 beginnen. Bemerkenswert auch, dass in dem Edikt das Recht auf freie Ausübung der Religion gewährt wird.

Das französische Zivilgesetzbuch, das in einer 1807 in Koblenz erschienenen deutschen Übersetzung bei der Rechtsprechung in Dorsten und Recklinghausen zur Anwendung kommen sollte, galt in der hiesigen Region zwar nur bis 1814/15. Doch konnte auch der verwaltungsrechtliche Übertritt des Vestes Recklinghausen in die neu geschaffene preußische Provinz Westfalen (1815) und die Einführung des Allgemeinen Preußischen Landrechts die einmal begonnene Entwicklung der Judenemanzipation nicht mehr umkehren.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Weiterführende Links:

1812, März 11 – Edikt betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden in dem Preußischen Staate 

Quelle: Preußische Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten 1812, No. 5, S. 17-22. (Abb. aus dem Exemplar des Stadt- und Vestischen Archivs Recklinghausen, Signatur: J 90 (St.A.)), Verfasser: Dr. Matthias Kordes, Leiter des Stadt- und Vestischen Archivs Recklinghausen.

Mit dem in Berlin verfassten Edikt Königs Friedrich Wilhelms III. betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden in dem Preußischen Staate vom 11.  März 1812 wurden die in Preußen ansässigen Einwohner jüdischen Glaubens auf Antrag preußische Staatsbürger. Es löste das noch von Friedrich II. erlassene Revidierte General-Privileg von 1750 ab und gilt als wichtigster Schritt zur rechtlichen Gleichstellung der Juden in Preußen. Damit wurden die zu diesem Zeitpunkt dort wohnhaften und erwerbstätigen Juden juristisch nicht mehr als Fremde, die unter besonderem Recht (d.h. unter der Kuratel der sog. Schutzbriefe) zu stehen hatten, sondern als ‚Inländer‘, d.h. als preußische Staatsbürger eingestuft. So unterschieden sie sich bürgerrechtlich in weiten Teilen nicht mehr von den übrigen Untertanen – sogar Militärdienst war nun möglich bzw. verpflichtend, ebenso wie die Zulassung zum Lehrerberuf, zum Universitätsstudium  oder zu öffentlichen Gemeindeämtern

Ein weiterer wichtiger Faktor im historischen Hintergrund war die 1781 entstandene Denkschrift des preußischen Kriegsrates Christian Wilhelm von Dohm „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden, die in einem Neun-Punkte-Programm rechtlich und ökonomisch Trennendes und Diskriminierendes im Zusammenleben zwischen preußischen Juden und Christen einebnen wollte.

Das insgesamt 39 Paragrafen enthaltende Edikt enthielt auch Auflagen und Einschränkungen, die in der Folgezeit in Einzelverfügungen noch verschärft wurden. Einer der wichtigsten Bestimmungen für die Angleichung der jüdischen Lebensverhältnisse an die der christlichen Mehrheitsbevölkerung war jedenfalls die Bestimmung, sich ein für alle Mal feststehende, über Generationen unveränderliche Familiennamen zuzulegen und diese amtlich und buchstäblich „bei der Obrigkeit seines Wohnortes“ (also bei den Bürgermeistern) dokumentieren und festschreiben zu lassen – so nachzulesen in Paragraf 2 und 3 des Ediktes, das die Integration der Juden in das deutsche Namenssystem binnen sechs Monaten vorsah, wodurch der betreffende Jude und seine Familie ein „Zeugnis“ erhalten solle, „daß er Einländer und Staatsbürger sey“.

Absicht und Ziel dieses Emanzipationsediktes war also die möglichst weitgehende soziale, kulturelle, rechtliche, wirtschaftliche Assimilation der Juden. Das Edikt war nicht in allen Teilen Preußens – die Provinz Posen wies häufig Sonderregelungen auf – gültig, so dass zunächst kein einheitliches Recht entstand. Für die Juden in Stadt und Vest Recklinghausen, die nach Untergang des kurkölnischen Staates im Jahre 1802 zunächst nur sehr vereinzelt in die Emscher-Lippe-Region kamen, erhielt dieses grundlegende Edikt uneingeschränkte Gültigkeit, nachdem 1815 Westfalen staats- und völkerrechtlich an Preußen gelangte, wodurch im Augst 1816 die preußische Provinz Westfalen und der Kreis Recklinghausen eingerichtet wurden. Die beiden ersten Juden, die sich nach 1808 in der Stadt Recklinghausen niederließen, die beiden aus Castrop stammenden Metzger Jonas Cosmann und Joseph May, hatten diesen zukunftsträchtigen Verwaltungsakt problemlos absolviert; der bekannte und hochangesehene Name Cosmann wird die Wirtschaftsgeschichte Recklinghausens bis 1933 begleiten. Das Edikt wurde nach mehreren Novellierungen am 23. Juli 1847 durch das Gesetz über die Verhältnisse der Juden aufgehoben (sieh dort).

Weiterführende Links:

1815, 26. September: Abschrift des Bescheides des preußischen Landrates des Essenschen Kreises, Johann Georg Stemmer, an drei in Castrop wohnende Juden: Johann (Jonas) Cosmann, Israel Vogelsang und Joseph May betr. die Erlaubnis, unter Auflage eines amtlichen Leumundszeugnisses ihren Wohnsitz nach Recklinghausen zu verlegen und sich dort dauerhaft niederzulassen.

Quelle: Stadt-und Vestisches Archiv Recklinghausen, Bestand II, Nr:105: Acta specialia betreffend die Niederlaßung der Juden, Verfasser: Dr. Matthias Kordes, Leiter des Stadt- und Vestischen Archivs Recklinghausen.

d[en] 26. Sept[em]b[e]r 1815.

exped[itum]

 

Den Juden Johann Cosmann, Israel Vogelsang und Joseph May in Castrop wird hierdurch eröffnet, daß die hohe Landesdirection zu Dortmund auf die, an dieselbe eingereichte Vorstellung [am linken Blattrand eingefügt: unterm 13. d[es] M[onats] folgendes] resolvirt hat:

Die Supplicanten sollen sich vorab noch ausweisen, daß sie sich mit Genehmigung der Obrigkeit hier im Lande etabliert und sich redlich geführt haben; ist dies geschehen, dann kann denselben die Verlagerung des Domicils nach Recklinghausen nicht verweigert werden. Sobald wie daher ein Attest über die beyden in obiger Resolution enthaltenen Punkte vorgelegt wird, kann das Etablissement[1] gleich erfolgen.

Nach Zusammenbruch der napoleonischen Herrschaft über Westfalen im Herbst 1813 wurde Mitte November 1813 übergangsweise ein „Generalgouvernement zwischen Weser und Rhein“ eingerichtet, das bis zum Erreichen endgültiger staats- und völkerrechtlicher Regelungen die Territorien im Westen Deutschlands administrativ zusammenfassen sollte. Im Zuge dessen wurde das vormals kurkölnische Vest Recklinghausen (bzw. Herzogtum Arenberg-Recklinghausen) vorläufig dem „preußischen Landrat des Essenschen Kreises“, Johann Georg Stemmer, unterstellt. In Abstimmung mit einer übergeordneten, ebenfalls provisorisch eingerichteten Regierungsbehörde, die sich „Landesdirektion Dortmund“ nannte und unter Leitung von Gisbert von Romberg stand, gab besagter Landrat mit einer Verfügung vom 26. September 1815 dem Antrag von drei namentlich benannten Castroper Juden statt, sich legal in Recklinghausen ansiedeln zu wollen.

Bei den im August 1815 in Essen und Dortmund aktenkundig gewordenen Antragstellern handelt es sich um:

  1. Israel Vogelsang, gebürtig aus Erwitte, patentierter Stoffhändler, wohnhaft in Castrop.
  2. Jonas Cosmann, gebürtig aus Dorstfeld, Viehhändler, Schwager des Joseph Levi aus Castrop, wohnhaft in Castrop.
  3. Joseph May, gebürtig aus Elsoff (Westerwald), Bediensteter des Levi Joseph, Castrop.

Hintergrund: Im märkischen Castrop lebten – anders als in Recklinghausen – bereits im späten 18. Jahrhundert einige Juden, die – gemäß dem vom Preußenkönig Friedrich II. am 17. April 1750 publizierten „Revidierten General-Privilegium und Reglement vor die Judenschaft im Königreich Preußen […]“ – zumindest einen Duldungsstatus hatten, bestimmten Berufen nachgehen konnten, jedoch nicht ohne Weiteres heiraten durften. Aber durch ein Dekret vom 22. Juli 1808 hatte man den Juden in der vormalig preußischen

[1]           Niederlassung, Ansiedlung, fester Wohnsitz.

Grafschaft Mark, die im Januar 1808 an das Großherzogtum Berg abgetreten worden war, die allmähliche Gleichstellung mit der christlichen Bevölkerung in Aussicht gestellt und die Zahlung von Sondersteuern abgeschafft. Durch eine liberalisierte Politik des – politisch von Kaiser Napoleon abhängigen bzw. regierten – Großherzogtums Berg wuchs, auch verursacht durch weiteren Zuzug, zwischen 1808 und 1813 die Zahl der Castroper Juden an.

Freizügigkeit nebst dem Recht, sich ohne Weiteres an einem Ort seiner Wahl niederzulassen, gab es für die Juden im „Generalgouvernement zwischen Weser und Rhein“, das ja u.a. auch die ehemalige Grafschaft Mark und das Vest Recklinghausen einbezog, ab Herbst 1813 noch nicht. Der Verwaltungsakt besagter regionaler Übergangsadministration in Essen bzw. Dortmund vom 26. September 1815 hatte indes zur Folge, dass sich erstmals seit Ende des 17. Jahrhunderts Juden wieder in der Stadt Recklinghausen ansiedeln konnten. Mit Ankunft der drei Juden aus Castrop, denen der dortige Bürgermeister Adolph Biggeleben am 6. November 1815 in Mengede ein gemeinsames, an den Recklinghäuser Bürgermeister Joseph Wulff adressiertes Führungszeugnis ausgestellt hatte, beginnt die neuzeitliche Geschichte der Juden in Recklinghausen.

Jonas Cosmann, gebürtig aus Dorstfeld, wo sich nach der Vertreibung der Juden aus der benachbarten Reichsstadt Dortmund im Jahre 1596 vergleichsweise viele jüdische Familien angesiedelt hatten, wurde mit seinem Weggang aus Castrop zum Gründungsvater einer bedeutenden Recklinghäuser Familien- und Kaufmannstradition, die Mitte des 20. Jahrhunderts durch die Verbrechen der NS-Herrschaft ihr gewaltsames Ende fand. Jonas Cosmann starb 1823, wurde als erster Todesfall auf dem neu eingerichteten Jüdischen Friedhof am Börster Weg beerdigt und hinterließ seine Frau Anne Marie Sophie Jacob sowie drei Söhne mit Namen Isaak Jonas, Jonas und David. Siehe auch unter 1816 und 1823.

Literatur:

Georg Möllers: Die Cosmanns: Der vergebliche Patriotismus einer liberalbürgerlichen jüdischen Familie aus Recklinghausen, in: Vestischer Kalender 2014, S. 167-180.

 

Weiterführende Links:

1816 – Erste namentliche Erfassung der in Recklinghausen lebenden Juden durch die preußische Verwaltung

Quelle: Stadt- und Vestisches Archiv Recklinghausen, Bestand II, Nr. 100, Bl. 3 und 5, Verfasser: Dr. Matthias Kordes, Leiter des Stadt- und Vestischen Archivs Recklinghausen.

An den Herrn Bürgermeister

zu Recklinghausen

 

Ich ersuche mir in der möglichst kürzesten Frist ein Verzeichniß der in Ihrem Bezirks wohnenden Jüdischen Familien einzureichen, dieses Verzeichniß muß die Zahl und Nahmen dieser Familien enthalten, und in duplo eingesandt werden.

 

Westerholt, den 11ten May 1816

Unterschrift Graf von Westerholt-Gysenberg

No. 56.                                   Kreis Commissarius

Praesentatum 12 May 16, No. 502

Laufende Nr. Vornamen Zunamen Geburtsort Stand Bemerkungen
1 a Jonas Cosmann Dorstfeld Handelsmann
   b Sophie Jacob Heiden Ehefrau
2 Joseph May Elshoff Metzger
  b Sarah May – //- Schwester des Vorigen

Recklinghausen, am 18. May 1816

1818 – Weisung des Landrates des Kreises Recklinghausen, Wilhelm Josef Graf von Westerholt-Gysenberg, an den Recklinghäuser Bürgermeister Joseph Wulff zur Erhebung von Umlagebeiträgen der Mitglieder der Jüdischen Gemeinde in Recklinghausen für das Gehalt des Landrabbiners Abraham Sutro im Januar jedes Jahres.

Quelle: Stadt- und Vestisches Archiv Recklinghausen, Bestand II, Nr. 101, Bl. 9 r, Verfasser: Dr. Matthias Kordes, Leiter des Stadt- und Vestischen Archivs Recklinghausen.

In Bezug auf meiner Verfügung vom 3ten Nr. 1762 No 3347 trage ich Ihnen auf, die Beiträge der Juden Ihres Bezirks zu dem Gehalt des Landrabinners von jedem Jahr für die Zukunft, jedesmal im ersten Monate nach Ablauf  deßelben beizutreiben und an den Juden Vorsteher Jonas Cosmann in Recklinghausen einzusenden.

Westerholt 19. December 1818

der landräthliche Com[m]ißar

In Abwesenheit

Der delegierte Secretair

de Weldige

Praes[entatum] 24/12 18.

An

den H[errn] B[ür]g[er]m[ei]st[er] Wulff

zu Recklinghausen

No. 3749

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Weiterführende Links:

1818 – Frühform städtischen Einwohnermeldewesens, bezogen auf neu zugezogene Juden, die bei Bürgern Recklinghausens zur Miete wohnen.

Hier: Bescheinigung des schriftunkundigen Recklinghäuser Bäckers Ludwig Schachtmann, Große Geldstraße 14, für den Mieter Moyses Klein, geb. ca. 1795 in Elsoff (heute: Stadtteil von Bad Berleburg, Kreis Siegen)

Quelle: Stadt- und Vestisches Archiv Recklinghausen, Bestand II, Nr. 100, Bl. 18 r., Verfasser: Dr. Matthias Kordes, Leiter des Stadt- und Vestischen Archivs Recklinghausen.

daß Moyses Klein aus Elzoff Kreises Wittgenstein, bey mir sich eingeheuert, und einige Zimmer gemietet hat; bescheinigt statt Namens Schrift durch diese drei + + + Zeichen.

Recklinghausen, den 25ten October 1819.

daß der Bäcker Ludwich Schachtmann diese Kreuzzeichen untergezogen habe, bezeugen

[Unterschrift ] B.J. Schlemmer

[Unterschrift] Joseph Droste

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Weiterführende Links:

Mai 1822: Reise-Reglement für jüdische Handwerksgesellen, hier: Inländischer, für ein Jahr gültiger Reisepass des Königreiches Preußen für den passpflichtigen 16 Jahre alten Silberschmied-Gesellen Jonas Jacob aus Dortmund zwecks ungehinderter Reise von Dortmund über Waltrop nach Recklinghausen und meldepflichtigem Aufenthalt ebendort.

 Quelle: Stadt- und Vestisches Archiv Recklinghausen, Bestand II, Nr. 105: Acta Specialia betr. die Niederlaßung der Juden, Bl. 44 r-v, Verfasser: Dr. Matthias Kordes, Leiter des Stadt- und Vestischen Archivs Recklinghausen.

 

Gebührenstempel über ein Sechstel Thaler 5 Groschen

 

[Großes Preußisches Staatswappen]

I.

[Königliche Preußische Staaten]

No. des Paß-Journals 37                                                                              Paßpflichtig.

Reise-Paß im Inlande

gültig auf ein Jahr.

 

Signalement Da der Silberarbeiter gesell
des Paß-Inhaber Jonas Jacob
1.    Namen Jonas Jacob aus Dortmund
2.    Stand Silberarbeiter mit einem Tornister
3.    Vaterland Grafschaft Marck um in Condition zu treten
4.    Ort des gewöhnlichen Aufenthaltes Dortmund über Waltrop
5.    Religion: jüdisch nach Recklinghausen
6.    Alter 16 Jahre reiset und durch persöhnliche bekandtschaft
7.    Größe der Person: 5 Fuß        1 Zoll als unverdächtig legitimirt ist, so ist demselben der gegen-
8.    Haare schwarz braun wärtige Paß auf ein Jahr ertheilt und
9.    Stirne flach werden alle Civil- und Militair-Behörden dienstergebenst
10.  Augenbrauen blond ersucht, denselben mit angeführter
11.  Augen grau Begleitung frei und ungehindert reisen und zurückreisen, auch
12.  Nase lang noethigenfalls ihren Schutz und Beistand angedeihen zu lassen.
13.  Mund dick Dieser Paß muss aber von der Polizei-Obrigkeit eines
14.  Zähne vollständig jeden Ortes, an welchem der Inhaber sich länger als Vier
15.  Bart — und zwanzig Stunden aufhält, ohne Unterschied zwischen Stadt
16.  Kinn spitz und Dorf visirt und ihr deshalb vorgezeigt werden.
17.  Gesicht lang Gegeben, Dortmund, d[en] 31t[en] May 1822.
18.  Gesichtsfarbe blaß der Bürg[er]m[ei]st[e]r
19.  Statur schlank Mallinckrodt
20.  Besondere Kennzeichen Sommersproßen [Siegelstempel der Stadt Dortmund]
Unterschrift des Paß-Inhaber
Jonas Jacob
Stempel und Gebühren
1)    Stempel … 5 gute Groschen
2)    Gebühren … 2 ½ gute Groschen
Zusammen 7 ½ gute Groschen

Rückseite:

prod[uctum] Recklingh[ausen] 5. Juny 1822.

der Bürgermeister

J[oseph] Wulff

Nach 1815 modernisierten viele deutsche Staaten, darunter auch Preußen, nach französischem Vorbild ihr jeweiliges Reise-Reglement. Pässe waren nun nicht mehr nur punktuelle Empfehlungs- und Erlaubnisschreiben für legale Reisetätigkeiten, sondern entwickelten auch Ansätze zu einem persönlichen Existenznachweises des Pass-Inhabers. Regelmäßig tauchten dort auch sog. Signalements auf, d.h. eine stichwortartige Beschreibung des äußeren Erscheinungsbildes eines Menschen anhand seiner individuellen Identitätsmerkmalen.

Das Königreich Preußen publizierte am 22. Juni 1817 ein neues, „Allgemeines Pass-Edikt“, das Vorschriften über Ausweispflicht für Menschen enthielt, die auf Reisen sind. Das preußische Passwesen war nun vollständig im Sinne des Staates monopolisiert, Ausnahmen galten nur für Diplomaten, Politiker, Fürsten und andere hochrangige Funktionsträger. Eine Besonderheit bestand darin, dass es genauere Regelungen der Passpflicht nicht nur für den Grenzübertritt ins Ausland, sondern auch für inländische Reisen gab, das heißt für Fälle, in denen staatsangehörige Personen etwa von einer preußischen Provinz in die andere bzw. von einem Regierungsbezirk in den anderen wechselten – der preußische Staat strebte damit eine Aufsicht über die binnenländische Migration und das ‚Bewegungsprofil‘ von Angehörigen bestimmter sozialer Randgruppen an. Die Kontrollen und Überwachungen innerhalb des Landes waren mitunter strenger als an seinen Außengrenzen.

Spezielle Aufmerksamkeit galt demnach Teilen der Bevölkerung, die man mit einem häufigen Wohnsitzwechsel bzw. mit Nichtsesshaftigkeit in Verbindung brachte: dazu zählten – teilweise auch unerwünschte – Rand- und Sondergruppen, wie z.B. sog. Vagabunden, sog. Zigeuner, Heimatlose, Auswanderer, Wanderarbeiter, Studenten, arbeitsuchende, wandernde Handwerksgesellen, Hausierer, vielfach auch Juden in bestimmten zeittypischen Berufen wie Viehhändler o.ä. Eine berufsspezifische Ausnahmeregelung gab es daher spätestens seit den 1820er-Jahren, in Preußens schon seit 1817, für Handwerksgesellen, die in offiziellen ‚Wanderbüchern‘ die Wege, Etappen und wechselnden Aufenthaltsorte ihrer Handwerker-Lehrjahre zu dokumentieren und von zuständigen Stellen zu genehmigen hatten.

Im vorliegenden Fall hatte der Silberschmied-Geselle Jonas Jacob offenbar noch kein solches Wanderbuch vorzuweisen und erhielt stattdessen am 31. Mai 1822 vorschriftsmäßig von der Stadt Dortmund, die im Auftrag des Preußischen Staates auch als örtliche Pass- und Polizeibehörde auftrat, ein besiegeltes, gebührenpflichtiges, mit dem großen Preußischen Staatswappen versehenes und für ein Jahr gültiges Reise- und Legitimationsdokument, um seinen Aufenthaltsort regulär und zeitlich befristet von Dortmund nach Recklinghausen verlegen zu können. Am 5. Juni 1822 wurde dieser Pass dem Recklinghäuser Bürgermeister – hier ebenfalls als Personifikation der örtliche ‚Polizei-Obrigkeit’ auftretend  – persönlich vorgelegt, wie im Sinne eines Visumvermerkes auf der Rückseite ausdrücklich protokolliert wurde.

 

Weiterführende Links:

1823/24: Mittels Ankauf eines städtischen Grundstücks soll am Börster Weg ein jüdischer Friedhof in Recklinghausen eingerichtet werden, hier: Protokoll vom 24. Dezember 1823 über die Verhandlungen zwischen der Stadt Recklinghausen und Samuel Bendix betr. den am 19. Juni 1823 entworfenen Kaufvertrag für einen „Begräbnisplatz“ am Börster Weg, insbesondere über das von der Königlichen Regierung Münster nachträglich angeordnete städtische Widerrufs- und Rückkaufsrecht.

Quelle: Stadt- und Vestisches Archiv Recklinghausen, Bestand III, Nr. 6182, Bl. 5 r-v., Verfasser: Dr. Matthias Kordes, Leiter des Stadt- und Vestischen Archivs Recklinghausen.

Abschrift        Actum Recklinghausen, 24. Dec[embris] 1823 Heute erschien der jüdische Handelsmann Samuel Bendix, derselbe wurde mit der Verfügung Königl[icher] Regierung vom 16. September cur[rentis] betreff des der hiesigen Judenschaft an dem Börster Wege käuflich zu überlassenden begräbnis Platzes und ins besondere mit der darin enthaltenen Bedingung ausführlich bekannt gemacht, daß dieser Platz von 14 quadrat Ruthen Köllnisch[1] nur sub pacto de retro vendendo[2] gegen Zahlung von 15 R[eichs]th[al]l[e]r Cour[ant] verkauft werden dürfe.

Comparent bemerkte: ob wohl er versichert seye, daß die Stadt diesen unbedeutenden Fleck Grundes gegen diesen Kaufpreis wohl nie zurücknehmen würde, indem er über die Hälfe zu theuer verkauft werde, so könne die Judenschaft jedoch unter diesem Bedinge des Kauf nicht füglich eingehen, indem sie aus religiösen Gründen, so er nicht füglich anführen könne, nicht wagen dürfe, diesen Platz über kurz oder lang, immer einmal mit Leichen belegt seye, zu einem anderen Gebrauche wieder abgeben zu müssen.

Da er sich gleich wohl, so weit bey der Sache eingelaßen, auch der jüdische Kaufmann Jonas Cossmann[3], und späterhin sein Kind[4] daselbst habe begraben werden müssen, so wolle er unter dem vorbehaltenen Bedinge des Wiederkaufs den befragten Platz für sich wohl käuflich annehmen und es demnach mit der Judenschaft überlegen, wie man sich damit eingerichtet habe.

Resol[utum]

Dem Samuel Bendix soll auf erstatteten unseren Bericht an die vorgesetzte Behörde ferneren Bescheid über seinen Antrag ertheilt werden.

Vorg[elesen], genehm[igt] u[nd] unterschr[rieben]

Samuel Benedix

Für die Richtigk[eit] d[es] Protok[olls]

J[oseph] Wulff

B[ü]rg[e]rm[ei]st[e]r

[1]          Altes Flächenmaß; in Preußen ist nach der Maß- und Gewichtsordnung vom 16. Mai 1816 (in Geltung bis 1872) eine Quadratrute = 144 Quadratfuß Rheinisch. Eine Quadratrute = 14,18 Quadratmeter.

[2]          „Pactum (adiectum) de retro emendo“ bzw. „vendendo“: Neben-/Sonderabrede zu einem Kaufvertrag im sog. Gemeinen Recht: Vereinbarung über die Einräumung eines Rück- bzw. Wiederkaufsrechts bzw. der Wiedereinlösung eines Objektes zum gleichen oder zu einem höheren Preis (= Verkauf mit Vorbehalt des Rückkaufs).

[3]          Jonas Cosmann sen.: gestorben in Recklinghausen am 22. Juni 1823.

[4]          Vermutlich Isak Jonas Cosmann (geb. 1817, Todesdatum unbekannt).

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Weiterführende Links:

1825 – Heiratserlaubnis für ein jüdisches Paar nur mit Nachweis eines behördlich zugelassenen Berufes des Bräutigams und mit ausreichendem Vermögen nebst Führungszeugnis der aus dem Ausland stammenden Braut.

Weisung der Königlichen Regierung Münster, Abteilung I, an den Landrat des Kreises Recklinghausen zwecks Erkundigungen des Recklinghäuser Bürgermeisters Joseph Wulff über den Beruf des Hirsch Levi Klein in Recklinghausen sowie über Führungszeugnis und Mitgift der Jette Kugelman (Tochter des jüdischen Viehhändlers Wolf Kugelman aus Wohra, Großherzogtum Hessen, heute: Gemünden, Landkreis Marburg-Biedenkopf).

Quelle: Stadt- und Vestisches Archiv Recklinghausen, Bestand II, Nr. 100, Bl. 35 r., Verfasser: Dr. Matthias Kordes, Leiter des Stadt- und Vestischen Archivs Recklinghausen.

Abschrift

pr[aesentatum] 21/4 4355

pr[aesentatum] 23/4 377

Sie werden angewiesen, über den Handel des Hirsch Levi Klein zu Recklinghausen nähere Erkundigung einzuziehen, und wenn selbiger nicht bloß im Schacherhandel besteht, sich gleichzeitig nachweisen zu lassen, welches Vermögen dessen Braut, die Jette Kugelman aus Wohra ihm mitbringt und welche Wohlverhaltens Atteste dieselbe besitzt. Nach Beibringung dieser Erfordernisse können Sie dem Klein die Erlaubniß zur Verheirathung resp. Trauung mit der Kugelman ertheilen.

Münster, d[en] 14ten April 1825

Königliche Regierung I

gez[eichnet] v. Druffel   Schefferboichert   Gr[af] Merveldt   Geiling

 

An den Landräthlichen Commissar Herren Grafen v[on] Westerholt

zu Westerholt

 

No. 2695 A.

pol: 8

br[evi] m[anu] sub f[ranca] r[emissione] an den Herren Bürgermeister Wulff in Recklinghausen zur Berichtserstattung über den Handel des Hirsch Levi Klein und Einsendung der zu erfordernden Vermögensnachweise und Wohlverhaltungs zeugniße seiner Braut in 3 Wochen.

 

Westerholt, 21. April 1825

Landräthliche Behörde

[Unterschrift] de Weldige

 

Weiterführende Links:

1826 – kommunalpolizeiliche Heiratserlaubnis für das unbescholtene und vermögende jüdische Paar Isaac Leser und Lena Herz, wohnhaft in Recklinghausen, ausgestellt durch den Bürgermeister der Stadt Recklinghausen

Quelle: Stadt- und Vestisches Archiv Recklinghausen, Bestand II, Nr. 100, Bl. 37 r., Verfasser: Dr. Matthias Kordes, Leiter des Stadt- und Vestischen Archivs Recklinghausen.

Nachdem der hiesige Handelsmann Isaac Leser hier angezeigt, daß er beabsichtigt die Lena Herz, Wittwe des Salomon Hochheimer aus Bockholt zu heirathen, und zu diesem Ende die  vorgeschrieben Einwilligung der hohen landräthlichen Behörde nachzusuchen, wird ihm seinem Verlangen gemäß hierdurch pflichtmäßig bescheinigt, daß gegen diese seine Verheirathung in polizeilicher Hinsicht nichts zu erinnern steht, das der Isaac Leser ein bekanntlich begüterter Mann, auch seine Braut aus einem Orte ist, der mit der hiesigen Gegend eine gleiche Juden Verfassung hat.

(Locus Sigilli)              Recklinghausen, 15/4 26

Der Bürgermeister

 

 

 

 

 

 

1826 – Streit in der Gemeinde: Schreiben des Abraham Sutro, sog. Landrabbiner in den nördlichen Teilen der preußischen Provinz Westfalen, an den Recklinghäuser Bürgermeister Joseph Wulff über Zwietracht innerhalb der Jüdischen Gemeinde Recklinghausen nebst Bitte um Wahl und Zuweisung eines geeigneten Betraumes

Quelle: Stadt- und Vestisches Archiv Recklinghausen, Bestand II, Nr. 103, Bl. 1 r, Verfasser: Dr. Matthias Kordes, Leiter des Stadt- und Vestischen Archivs Recklinghausen. 

Mit Bedauern habe ich vernommen, daß unter den Mitgliedern der israelitischen Gemeinde zu Recklinghausen solche Zwietracht und Uneinigkeit obwaltet, daß sie so gar in zwei verschiedenen Häusern nemlich bei Levi Michel und bei Isaac Leser öffentlichen Gottesdienst halten.

Da nun dies durchaus widergesetzlich ist, so ersuche ich Ew[er] Wohlgeboren diese Sache gefälligst untersuchen zu wollen, um beide Locale besichtigen zu laßen, und dasjenige Local welches Ew[er] Wohlgeboren am geeignetsten erachtet soll auch bis dahin das die Gemeinde ein Anderes hierzu schickliches Zimmer miethet, zum öffentlichen Gottesdienste gebraucht werden, das Andere aber auf dero Befehl verschlossen bleiben.

Münster den 5ten October 1826

Der Land Rabbiner

[Unterschrift] Abraham Sutro

An

den Königlichen Wohllöblichen Bürgermeister Herrn Wulff

in Recklinghausen

 

 

 

 

 

Weiterführende Links:

1827, 2. Juli: Halbjährliche namentliche Erfassung von Geburten jüdischer Kinder zwecks Erhebung von Beiträgen für den Hebammen-Unterstützungsfonds 

Quelle: Stadt- und Vestisches Archiv Recklinghausen, Bestand II, Nr. 104: Acta generalia et specialia. Die von Geburten und Trauungen jüdischer Glaubens-Genossen zum Hebammen-Unterstützungs-Fond zu entrichtenden Gebühren, Bl. 4 r, Verfasser: Dr. Matthias Kordes, Leiter des Stadt- und Vestischen Archivs Recklinghausen.

Verzeichnis

der in der Bürgermeisterei Recklinghausen im Isten halben Jahr 1827 vorgekommenen jüdische Geburten, so wie den davon erhoben beyträgen zum Hebammen Unterstützungs Fonds

No. Tag der Geburt Namen der Zahlungspflichtigen Silbergroschen
1 21. Februar 1827 Bernardina, Tochter des Sam[uel] Bendix 2.
2 17. May    // Lena, Tochter der Levi Klein 2
3   3. Juni    // David, Sohn des Moses Klein 2
                                                Summa 6

Vorstehende jüdische Eingesessenen hierselbst werden hierdurch aufgefordert, die nebenstehende Gebüren als Beytrag zum Hebammen-Unterstützungsfond sofort dem Polizeidiener Weisfeld bey Vermeidung der sofortigen Execution zu zahlen.

 

Recklinghausen, 2. July 1827

der Bürgermeister

Unterschrift J[osef] Wulff

am 3/7. dem Steuer Einnehmer Bracht vorstehendes Verzeichniß mit dem Betrag zu 6 schillingen eingesandt

 

pro II. Sem[ester] 27

I 9. Octob[er] 1827     L. Leser, Sohn des Isack Leser

der Steuereinnehmer Bracht, 2/1. 28 zugestellt.

Kommunen und Kreise in den preußischen Provinzen des frühen 19. Jahrhunderts unterhielten und beaufsichtigten Hebammen, die nach einem strengen Reglement eine Zulassung für ihren Beruf erhielten. Sie mussten einen moralisch und wirtschaftlich einwandfreien Lebenswandel nachweisen und geistig wie körperlich gesund und belastbar sein; in Recklinghausen wie anderswo bewarben sich meist verheiratete Frauen, die selbst Kinder hatten, und erhielten ihr Amt in einem förmlichen Bewerbungs- und Auswahlverfahren. Ihre Fachkompetenz, die sie durch Approbation nachzuweisen hatten, galt den Wöchnerinnen und der Pflege der Neugeborenen nebst deren Ernährung.

Bei einer Geburt fielen im preußischen Regierungsbezirk Münster mindestens 15 Silbergroschen an, die von den Eltern selbst an die Hebamme zu entrichten waren. Zu deren finanziellen Absicherung existierte in Preußen darüber hinaus auch ein sog. Hebammen-Unterstützungsfonds, aus dessen Finanzmitteln die Hebammen für ihre Tätigkeiten zusätzliche Entgelte und Entlohnungen erhielten. Dabei waren im Zuge aller Eheschließungen und Geburten in einem Hebammen-Bezirk Umlagen bzw. Abgaben der Brautleute bzw. Eltern an diesen Unterstützungsfonds zu entrichten; städtische Vollzugsbeamte hatten diese Gelder nach einer Hochzeit bzw. Geburt unverzüglich einzutreiben.

Da die Hebammen für sämtliche Gebärenden und Neugeborenen einer Stadt bzw. eines Landkreises zuständig waren, gab es keine Unterscheidung bezüglich der Religion, Konfession, Herkunft oder Nationalität der betreffenden Eltern, Mütter bzw. Kinder, so dass auch jüdische Familien von Anfang an ausnahmslos in dieses System eingebunden waren. Und weil in den 1820er-Jahren in Preußen noch keine Synagogengemeinden im rechtlich-administrativen Sinne bestanden, die entsprechende Daten bzw. Gebühren erheben konnten, waren es die Bürgermeister, die zu diesem Zweck die Geburten und Trauungen der Juden halbjährlich genau zu protokollieren hatten.

Die über Jahrzehnte gleichbleibenden Gebührensätze sahen bei Juden und Christen gleichermaßen vor, dass pro Geburt zwei, für jede Eheschließung vier Silbergroschen zu entrichten waren. Auf diese Weise werden städtische Akten über den Hebammen-Unterstützungsfonds nebst der Dokumentation jüdischer Zahlungspflichtiger zu einer frühen personen- und familiengeschichtlichen Quelle über die jüdischen Einwohner einer westfälischen Kommune im 19. Jahrhundert. Erst mit der Einführung der Standesamtsregister in Preußen bzw. im Deutschen Reich 1874/75 verschwindet dieser Verwaltungsbrauch endgültig.

Im frühen 19. Jahrhunderts war in Deutschland die allgemeine Sterblichkeit unter Kleinkindern noch immer sehr hoch: Etwa 20 Prozent der Kleinkinder erreichten in Mitteleuropa nicht ihr 5. Lebensjahr, die Säuglingssterblichkeit lag im Preußen der 1820er-Jahre, in denen es keine großen Epidemien bzw. Klima- oder Hungerkrisen gab, bei mindestens 10 Prozent; in den Städten, in denen besonders unhygienische Verhältnisse herrschten, waren diese demografischen Werte tendenziell schlechter als auf dem platten Land, im nördlichen Deutschland sah es neueren Forschungen zufolge etwas besser aus als in den südlichen Landesteilen. Diesen historischen Sachverhalt ermisst man daran, dass Lena Klein (s.o.) bereits 1831 im Alter von vier Jahren starb und David Klein (s.o.) sein Geburtsjahr 1827 nicht überlebte. Ihre Grabstätte fanden beide Kinder auf dem 1823 auf Betreiben des Samuel Bendix neu eingerichteten jüdischen Friedhof am Börster Weg.

Weiterführende Links:

1832 – Maßnahme der Marks-Haindorf-Stiftung zur Förderung und Integration junger, mittelloser Juden in Recklinghausen durch Erlernung von Handwerksberufen: Korrespondenz zwischen Dr. med. Alexander Haindorf und dem Recklinghäuser Bürgermeister Joseph Wulff betr. Unterstützung beim Abschluss eines Lehrlingsvertrages für Isaac Jonas Cosmann, Stiefsohn des Levy Michel (Vorbeter der Jüdischen Gemeinde Recklinghausen)

Quelle: Stadt- und Vestisches Archiv Recklinghausen, Bestand II, Nr. 102 (Acta generalia et specialia Verein zur Verbreitung von Handwerken und Künsten unter den Juden und zur Errichtung einer Schulanstalt für dieselben (Mark-Haindorf‘sche-Stiftung), Bl. 10 r – vpr[aesentatum] 7/4. 380, Verfasser: Dr. Matthias Kordes, Leiter des Stadt- und Vestischen Archivs Recklinghausen.

Der Levy Michel daselbst ersuchte uns in diesem Tagen seinem zweiten 14jährigen Sohn auf unsere Kosten das Kupferschläger-Handwerk erlernen zu lassen. da der Knabe zu diesem Gewerbe Lust bezeige, zwei Meister dort wären, die zu dessen Annahme in die Lehre geneigt seien, er, der Vater, aber nicht in den Vermögens-Umständen lebe, um die Kosten bestreiten zu können. Bei der Wahrheit dieser Mittheilung und bei des Supplicanten Ansprüche auf unsere Unterstützung, was Beides, wir Ihrer Beurtheilung überlaßen müssen, geht unsre ergebenen Bitte an Ew[er] Wohlgeboren dahin, den Herrn Michel gütig zu bescheiden, daß wir seinen Sohn wohl als Lehrling aufnehmen wollen, wen[n] die Kosten sich nicht zu bedeutend stellen. Jedenfalls liegt es aber ihm ob, die freie Beköstigung des Knaben zu besorgen und wollen wir als dan[n] das betreff[ende] Lehrgeld bestreiten, zu welchem Ende Ewer Wohlgeboren gütigst mit dem Meister, den der Herrn Michel Ihnen zu bezeichnen hat, unterhandeln, die gegenseitige Bedingungen abschließen und uns / nebst Armuths- und Wohlverhaltungs-Attest des Knaben / zur Ertheilung unsrer Genehmigung geneigtest einsenden zu wollen.

Münster den 1t[e]n März 1832

Verein zur Errichtung einer Schulanstalt und zur Beförderung von Handwerken unter den Juden.

[Unterschrift] Dr. Alexander Haindorf

 

An

den Herrn Bürgerm[ei]st[e]r Wulff

Wohlgeboren

in Recklinghausen.                                                    verte

Daß der jüdische Knabe Isaac Jonas ehelicher Sohn des verstorbenen Jonas Cossmann hierselbst stets einen moralisch guten Lebenswandel geführt habe, nicht das mindeste Vermögen besitzt, sondern durchaus arm sei, wird von Amts wegen hiermit bescheinigt.

Recklinghausen, 20. März 1832

Der Bürgermeister

an den Verein zur …

in Münster

No 248

Einem … Verein überreiche ich hierneben zufolge gefälliger Requisition vom 1. huius den, mit dem Kupferschläger Fr[riedrich] Middelmann abgeschlossenen Kontrakt wegen Uebernahme des Isaac Jonas in die Lehre zur gefälligen Bestätigung, und füge das verlangte Wohlverhaltungs- und Armuths-Attest hierbei. Was den Lehrlohn betrifft, so bemerke ich, daß derselbe hier nicht geringer hat erlangt werden können, vielmehr von dem hier noch vorhandenen andern Meister zehn Thaler mehr gefordert worden seien.

Recklinghausen, 20. März 1832

der Bürgermeister

[Unterschrift] J[oseph] Wulff

 

 

 

Weiterführende Links:

1833 – Integration und Förderung der westfälischen Juden durch Schulbildung, Berufs- und Lehrerausbildung: 

Entwurf eines Spendenaufrufs des Recklinghäuser Bürgermeisters Joseph Wulff an die Recklinghäuser Bürgerschaft zur finanziellen Unterstützung des „Vereins zur Beförderung von Handwerken und Künsten unter den Juden und zur Errichtung einer Schul-Anstalt, worin arme und verwaisete Kinder unterrichtet und künftige jüdische Schullehrer gebildet werden sollen“ (Gründung in Münster am 28. November 1825, ab 1866: sog. Marks-Haindorf-Stiftung, Körperschaft öffentlichen Rechts), mit tabellarischem Spendenverzeichnis

Quelle: Stadt- und Vestisches Archiv Recklinghausen, Bestand II, Nr. 102 (Acta generalia et specialia Verein zur Verbreitung von Handwerken und Künsten unter den Juden und zur Errichtung einer Schulanstalt für dieselben (Mark-Haindorf‘sche-Stiftung)), Bl. 14 r-v., Verfasser: Dr. Matthias Kordes, Leiter des Stadt- und Vestischen Archivs Recklinghausen.

Einladung

Aus dem, zur Einsicht beigebogenen, sechsten Jahres-Bericht über den Verein zur Bildung von Elementar-Lehrern und Beförderung von Handwerken und Künsten unter den Juden wird ein geachtetes Publikum ersehen, welche Fortschritte diese Anstalt bei den bisherigen geringen Mitteln in wenigen Jahren gemacht hat. Das rege, löbliche Bestreben dieses Instituts zur Veredelung und zeitgemäßer Ausbildung eines ganzen, seither in der größten Verworfenheit unter uns lebenden Volksstammes ist wahrlich ein Gegenstand der unsere ungetheilteste Aufmerksamkeit und Mithülfe, unser ganzes Wohlwollen in Anspruch nim[m]t. Indessen wird das vorgesteckte Ziel nur dann vollkommen erreicht werden können, wenn das Publikum dieser Anstalt diejenige thätige Theilnahme und Mitwirkung zuwendet, deren sie zu ihrem Aufblühen bedarf.

Im Auftrage meiner vorgesetzten Behörde lade ich daher sämmtliche Menschenfreunde ergebenst ein, zu diesem Behuf nach ihren Kräften reichliche Beiträge zu spenden, und den Betrag derselben in das umstehende Verzeichnis selbst gefällig einzuschreiben.

Die Anerkennung der höheren Behörde, der Dank eines aus seiner sittlichen Verdorbenheit geretteten Volkes, so wie das wohltuende Gefühl, was der stete Begleiter edler Handlungen ist, würde der Lohn der freundlichen Geber sein.

Recklinghausen, 12. Februar 1833,

der Bürgermeister

[Unterschrift] J[oseph] Wulff

 

 

Lfd. Nr.NamenCharakter,
Stand oder
Gewerbe
WohnortSubscriptions
a.
jährlich
Betrag
b.
für ein Mal
Thaler SilbergroschenThaler Silbergroschen

Literatur:

Siegfried Braun: Die Marks-Haindorfsche Stiftung, in: Hans Chanoch Meyer (Hg.): Aus Geschichte und Leben der Juden in Westfalen. Eine Sammelschrift. Frankfurt 1962, S. 47-54.

Susanne Freund: Jüdische Bildungsgeschichte zwischen Emanzipation und Ausgrenzung – Das Beispiel der Marks-Haindorf-Stiftung in Münster (1825–1942), Münster / Paderborn 1997.

Hans-Joachim Schoeps: Alexander Haindorf (1784–1862), in: Westfälische Lebensbilder, Bd. 11, Münster 1975, S. 97-111.

 

Weiterführende Links:

1835 – Freizügigkeit als Voraussetzung für Assimilation und Integration der Juden in Westfalen. Schreiben an den Bürgermeister von Datteln und Recklinghausen über die erweiterte Niederlassungsfreiheit für Juden in den preußischen Westprovinzen

Quelle: Stadt- und Vestisches Archiv Recklinghausen, Bestand II, Nr. 105, Bl. 5 r., Verfasser: Dr. Matthias Kordes, Leiter des Stadt- und Vestischen Archivs Recklinghausen.

In Folge höherer Verfügung ist das Ueberziehen der Juden in den dies seitigen Regierungs-Bezirk gestattet

1. Aus dem Theile des Regierungsbezirks Minden, welcher ehedem französisch gewesen, also nicht zum vormaligen Königreich Westphalen gehört hat

2. Aus dem Theile des Regierungsbezirkes Arnsberg, welcher früher zum Großherzogthum Berg gehörte,

3. Aus denjenigen Theilen der Rhein-Provinz, welche vormals entweder Framzösisch oder Bergisch gewesen sind von allen übrigen Ländertheilen der Rhein-Provinz und der Provinz Westphalen wird angenommen, daß daselbst eine von der hiesigen abweichenden Juden Verfassung bestehe.

Welheim 24. April 1835

der Landrath

Abwesend

der Kreis–Secretair

Diening

An den Bürgermeister

Reif zu Datteln

Banniza Recklinghausen

No. 2052

1836 – Ausgrenzung durch Namensgebung:

Königliches Verbot des Führens christlicher Vornamens durch Juden in Preußen

Quelle: Stadt- und Vestisches Archiv Recklinghausen, Bestand II, Nr. 100, Bl. 50 r, Verfasser: Dr. Matthias Kordes, Leiter des Stadt- und Vestischen Archivs Recklinghausen.

Abschrift

Des Königs Majestät haben schon früher anbefohlen, daß den Juden nicht gestattet sein soll, christliche Taufnamen als Vornamen zu führen und haben gegenwärtig angeordnet, daß dieser  Befehl allgemein eingeschärft werden soll.

Wir veranlaßen Sie, dies den Synagogen und Cultus Beamten der Juden, als ein ausdrückliches Allerhöchstes Verbot bekannt zu machen und darauf zu halten, daß künftig keinem Juden ein  christlicher Vorname beigelegt werde.

Münster 24. August 1836

Königliche Regierung, Abtheilung des Innern

An

den Herrn Landrath Devens

zu Welheim

No. 6809

 

 

 

Abschrift zur Nachricht und Achtung

Welheim, 30. August 1836

Der Landrath

gez. Devens

An

die Herren Bürgermeister

Tosse zu Buer

Banniza zu Recklinghausen pr. 3.9. 1439 und eodem nach Waltrop gesandt

Leppelman Waltrop

No. 3599

1841 – Regierungsanweisung an die Stadt Recklinghausen, gegenüber den Juden ein modifiziertes Verbot auszusprechen, bestimmte christliche Vornamen zu führen

Quelle: Stadt- und Vestisches Archiv Recklinghausen, Bestand II, Nr. 100, Bl. 57 r, Verfasser: Dr. Matthias Kordes, Leiter des Stadt- und Vestischen Archivs Recklinghausen.

Des Königs Majestät haben durch Allerhöchste Ordre Vom 9ten des Monats das seitherige Verbot des Gebrauchs christlicher Vornamen für die Juden dahin zu erklären geruht, daß den Juden nur solche Namen ihren Kindern beyzulegen verboten seyn soll, welche mit der christlichen Religion in Beziehung stehen. Dahin gehören alle Vornamen, die sich, wie Renatus, Anastos, Baptist, Peter, auf eigenthümliche Dogmen der christlichen Kirche beziehen, so wie die von dem Namen des Erlösers hergeleiteten oder damit zusammen-hängenden Vornamen, wie Christoph, Christian u.s.w.

In Verfolg der Verfügung vom 24. August 1836 veranlassen wir den Magistrat hiernach die jüdischen Cultusbeamten mit Anweisung zu versehen und auf Befolgung der Allerhöchsten Vorschrift zu achten.

Münster, den 16. April 1841

Königliche Regierung, Abtheilung des Innern

Rüdiger

Brevi manu dem Levi Michels als Vorsteher

der hiesigen jüdischen Gemeinde vorzuzeigen

Recklingh[ausen]. 14 Mai 1841

der Bürgermeister

gelesen Levi Michel

An den Magistrat

  1. 4856 A zu Recklinghausen

1843 – Unterstützung für bedürftige Jüdische Schüler am Gymnasium Petrinum in Recklinghausen  

Antrag der Stadt Recklinghausen an den „Verein zur Beförderung von Handwerken und Künsten unter den Juden“ (gegründet in Münster am 28. November 1825) zwecks Ausstattung des in Armut lebenden Recklinghäuser Gymnasiasten Jacob Levi mit geeigneter Winterkleidung

Quelle: Stadt- und Vestisches Archiv Recklinghausen, Bestand II, Nr. 102 (Acta generalia et specialia Verein zur Verbreitung von Handwerken und Künsten unter den Juden und zur Errichtung einer Schulanstalt für dieselben (Mark-Haindorf‘sche-Stiftung), Bl. 56 r-v, Verfasser: Dr. Matthias Kordes, Leiter des Stadt- und Vestischen Archivs Recklinghausen.

An

den wohllöblichen Verein für die Provinz Westfahlen zur Verbreitung von Handwerken und Künsten unter den Juden.

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Der Jacob Levi Sohn des Gelehrten Levi Michels, 16 Jahre als besucht seit 4 Jahren das hiesige Gymnasium mit dem Vorsatze, sich zum Lehrerstande auszubilden. Wegen guter Führung und guter Fortschritte ist demselben vom Curatorio zwar die Zahlung des Schulgeldes erlassen, da dasselbe aber nicht die Mittel hat, ihm fernere Wohltaten zu erzeigen, es dem Jacob Levi bei der so großen Armuth der Eltern jedoch an allem, vorzüglich an warmen Kleidungsstücken mangelt, indem derselbe nichts als eine baumwollene Sommerkleidung hat, so ersuchen wir Einen Wohllöblichen Verein ergebenst, wo möglichst dem armen Jacob Levieinen Tuchrock

  1. einen Tuchrock
  2. eine Hose
  3. eine Weste
  4. ein Paar Schuhe oder Stiefel
  5. ein Paar Strümpfe
  6. einige Hemden

anschaffen zu wollen. Wir sind überzeugt, daß er diese Wohlthaten in der Folge wieder zurück erstatten wird, und daß er derselben wohl wohl würdig sei, das beurkundet daß anliegende Zeugniß des hies[igen] Gymnasialdirectors

Nieberding.

Reckl[ing]h[ausen], den 6. Dec[em]br[is] 1843

Der Magistrat

Literatur:

Siegfried Braun: Die Marks-Haindorfsche Stiftung, in: Hans Chanoch Meyer (Hg.): Aus Geschichte und Leben der Juden in Westfalen. Eine Sammelschrift. Frankfurt 1962, S. 47-54.

Susanne Freund: Jüdische Bildungsgeschichte zwischen Emanzipation und Ausgrenzung – Das Beispiel der Marks-Haindorf-Stiftung in Münster (1825–1942), Münster / Paderborn 1997.

Jan Henning Peters: Jüdische Schüler am Petrinum in Recklinghausen. Zwischen Assimilation und Vertreibung. Unveröffentlichtes Manuskript, Recklinghausen 1990.

Hans-Joachim Schoeps: Alexander Haindorf (1784–1862), in: Westfälische Lebensbilder, Bd. 11, Münster 1975, S. 97-111.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Weiterführende Links:

1845, 31. Oktober – Kabinettsordre des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. betr. Annahme und Festschreibung vererblicher Familiennamen seitens der jüdischen Bevölkerung in bestimmten preußischen Landesteilen 

Quelle: Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten 1846, No. 36, S. 682. (Abb. aus dem Exemplar des Stadt- und Vestischen Archivs Recklinghausen, Signatur: J 90 (St.A.)), Verfasser: Dr. Matthias Kordes, Leiter des Stadt- und Vestischen Archivs Recklinghausen.

Jahre nach der 1815/16 vollzogenen preußischen Annexion bestimmter ehemaliger Fürstentümer und untergegangener Territorien im Rheinland und in Westfalen entstanden in einigen Regionen Rechts- und Verwaltungsunsicherheiten über die Frage, ob Bestimmungen des Emanzipationsediktes von 1812 (siehe dort) ursprünglich, ausdrücklich und uneingeschränkt auch für die neu eingerichteten Provinz Westfalen mit ihren drei Regierungsbezirken, Arnsberg, Minden und Münster gelten. Insbesondere bei der in § 2 formulierten Norm, nach welcher die Juden nach Vorbild der christlichen Mehrheitsbevölkerung feststehende und vererbliche Familiennamen annehmen und diese amtlich dokumentieren lassen sollen, gab es Klärungs- und Nachholbedarf. Diese Vorschrift war nämlich insbesondere in den Kreisen Tecklenburg, Recklinghausen und Steinfurt noch nicht lückenlos und flächendeckend befolgt worden; hinzukam die Frage, ob das Vorkommen diverser jüdischer Familiennamen neueren Typs bereits überall ausdrücklich von den zuständigen preußischen Behörden genehmigt worden war.

Aus diesem Grunde kam es am 31. Oktober 1845 zu einer erneuten monarchischen Anweisung in dieser Angelegenheit, die das Ganze noch einmal verpflichtend machte. Diese Vorschrift, die im Range eines Gesetzes auftrat, setzte eine mit Bußgeld bewehrte Halbjahresfrist für ihre endgültige Umsetzung fest. Anders als in der Stadt Recklinghausen, wo schon seit den 1810er-Jahren die modernen Familiennamen Cosmann, Jacob und May etabliert waren, gab es im Kreis Recklinghausen resp. im Einzugsbereich der sieben Jahre später (1853) eingerichteten Synagogengemeinde Recklinghausen (d.h. in Wulfen, Datteln, Horneburg, Waltrop, Ahsen, besonders viele Fälle übrigens auch in Dorsten) noch immer einige ‚unerledigte‘ Altfälle. Diese waren weiterhin der Tradition der patronymischen Namensgebung gefolgt, indem sie dem Namen eines Kindes den Namen des Vaters als Beinamen hinzufügten. Diese Restbestände, die vornehmlich hebräische Namen aus dem Fundus des Tenach vorwiesen, sollten nun aber einer baldigen Lösung im Sinne der Kabinettsordre von 1846 zugeführt werden.

Wie hoch von Amts wegen die Bedeutung dieser Norm eingeschätzt wurde, ist auch einer neun Monate später, d.h. am 25. Juli 1846 erschienenen Sonderbeilege (“Extrablatt“) des Amtsblattes der Königlichen Regierung Münster zu entnehmen. Diese legte auf Anweisung des preußischen Innenministeriums vom 20. November 1845 eine vollständige und endgültige Liste mit den Namen der Haushaltsvorstände aller 536 jüdischen Familien im Regierungsbezirk Münster vor und dokumentierte dabei auch, welche Familiennamen als modernes bürgerliches Attribut nun für zulässig gehalten sowie irreversibel gewählt, gegebenenfalls behördlich noch einmal bestätigt und damit endgültig festgeschrieben werden sollten. Folge: Ab 1846 treten sämtliche jüdische Familien im Kreis Recklinghausen nur noch mit ihren individuell gewählten (und vom Regierungspräsidenten einzeln genehmigten) Nachnamen auf. Und als im Herbst 1853 die konstituierende Versammlung zur Bildung der Synagogengemeinde Recklinghausen zusammentrat, waren die neuen Familiennamen bereits ausnahmslos etabliert.

Weiterführende Links:

1847, Juli 23 – Das Preußisches Gesetz über die Verhältnisse der Juden schreibt die Gründung von Synagogengemeinden vor  

Quelle: Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten 1847, No. 30, S. 263-278. (Abb. aus dem Exemplar des Stadt- und Vestischen Archivs Recklinghausen, Signatur: J 90 (St.A.)), Verfasser: Dr. Matthias Kordes, Leiter des Stadt- und Vestischen Archivs Recklinghausen. 

Das umfangreiche Gesetz, das 73 Paragraphen einschließlich einiger Sonderregelungen für die Provinz Posen enthält, löst das Königliche Judenedikt von 1812 ab (siehe dort), mit dem die rechtliche Emanzipation der Juden on Preußen begann. Im Ersten Abschnitt regelt es detailreich das bürgerliche und wirtschaftliche Leben der preußischen Juden. Gewährt wird die Zulassung und Zugänglichkeit zu den meisten akademischen Studiengängen und Berufen – eine wichtige Ausnahme bilden nur die juristischen Berufe – und die Gewerbe- und Niederlassungsfreiheit. Erneut wird den Juden eingeschärft, erbliche Familiennamen zu tragen; hinzu kommt die Anweisung, Geschäfts- und Verwaltungsschriftgut nur mehr in deutscher Sprache und in lateinischer Schrift zu verfassen – Zuwiderhandlungen sollen mit der einer Geldstrafe geahndet werden.

Neu und wegweisend für das Rechtsleben, den Rechtsalltag und das Zusammenleben von Juden und Christen in Preußen ist die Bestimmung, nach welcher jüdische Zeugenaussagen und Zeugenbeweise in ihrer Glaubwürdigkeit allen anderen Beweismitteln gleichgestellt werden sollen. Preußische Gerichten obliegt die neue Aufgabe, Zivilstandsregister für die jüdische Bevölkerung einrichten, in denen Geburten, Eheschließungen und Todesfälle dokumentiert werden – eine Errungenschaft moderner Lokalverwaltung, die erst 1874/75 auf die gesamte deutsche Bevölkerung ausdehnt wird.

Ein wichtiger Zweiter Abschnitt widmet sich den „Kultus- und Unterrichtsgelegenheiten der Juden“, damit den Grundlagen, Bedingungen und Ausformungen innerjüdischer Gemeindeverfassung. Dieses Organisationstatut sieht verpflichtend vor, dass die Juden nach Maßgabe der Orts- und Bevölkerungsverhältnisse und mit Genehmigung der Bezirksregierungen lokale oder regionale Synagogengemeinden („Judenschaften“) gründen und jeder Jude/jede Jüdin in Preußen einer solchen Gemeinde angehören soll. Diese Synagogengemeinden erhalten in Bezug auf ihr Budgetrecht und ihre Vermögensverhältnisse die Rechtsqualität juristischer Personen, werden in diesem Punkt den Kirchen gleichgestellt. Grundstücksgeschäfte und Aufnahme von Krediten obliegen der Genehmigung durch die preußische Landesverwaltung.

Das Gesetz regelt auch die zahlenmäßige Zusammensetzung der Gemeindevertretung (bestehend aus einem ehrenamtlichen Vorstand und maximal 21 Repräsentanten, die die Synagogengemeinde gegenüber der nicht-jüdischen Öffentlichkeit, vor allem gegenüber staatlichen bzw. kommunalen Stellen verkörpern), die Wahl der Funktionsträger und die Funktionsweise ihrer Organe. Die Synagogengemeinden konnten sich eigene Statuten geben, welche vom Oberpräsidenten der preußischen Provinzen zu genehmigen waren. Die Königliche Bezirksregierung (für Recklinghausen: der Regierungspräsident in Münster) führt Aufsicht über die einzelnen Synagogengemeinden und hat die Befugnis einzugreifen, sofern einzelne Bestimmungen des Gesetzes oder die Vorgaben für die Organe und Amtsinhaber nicht beachtet werden.

Das Gesetz sieht ferner vor, dass jüdische Kinder ausnahmslos allgemeiner preußischer Schulpflicht unterliegen und in die örtlichen Elementarschulen einzuschulen sind, die Ausübung jüdischen Religionsunterrichtes jedoch in der Verantwortlichkeit der Synagogengemeinden liegt. Überdies räumt das Gesetz die Möglichkeit ein, unter Aufsicht der preußischen Provinzialschulverwaltung rein jüdische Elementarschulen einzurichten, in denen ausschließlich in deutscher Sprache zu unterrichten sei.

Dieses Gesetz, insbesondere die Bestimmungen des Zweiten Teils, blieb bis ins 20. Jahrhundert Grundlage für die äußere Verfassung der Synagogengemeinde Recklinghausen. Das Jahr 1847 markiert auch die Phase beschleunigter Modernisierung, Assimilierung, Integration und Emanzipation des preußischen Judentums und eine zeitweilige Zurückdrängung antisemitischer Tendenzen, die von der Jahrhundertmitte bis in Bismarckzeit reicht. Im Gefolge dieses Gesetzes wird 1853 die Synagogengemeinde Recklinghausen gegründet. Zu ihr gehörten auch die Juden in Datteln, Ahsen, Waltrop, Flaesheim, Henrichenburg, Herten und Horneburg. Alle rechtlichen und geschäftlichen Kontakte der Synagogengemeinde Recklinghausen mit kommunalen oder regionalen Verwaltungsinstanzen vollzogen sich bis zu Beginn der NS-Zeit auf Grundlage des Gesetzes von 1847.

Weiterführende Links:

1848 – Mitteilung des Landrates Friedrich Carl Devens an den Recklinghäuser Bürgermeister Franz Bracht betreffend das Führen von Familienstands-registern der Juden in Recklinghausen durch das Kreisgericht Recklinghausen und die Erhebung von Abgaben zur Unterstützung von Hebammen

Quelle: Stadt – und Vestisches Archiv Recklinghausen, Bestand III, Nr. 107, Bl. 16 r, Verfasser: Dr. Matthias Kordes, Leiter des Stadt- und Vestischen Archivs Recklinghausen.

Die Bestimmung des § 8 des Gesetzes über die Verhältnisse der Juden vom 23. Juli v[origen] J[ahres] (Ges. Samml[ung] P[agina] 263) entbindet für die Zukunft die Ortsbehörden von der denselben nach Verfügung vom 8. Januar 1822 (N 10926 A Amtsbl[att] pro 1822 pag[ina] 29) obliegenden Verpflichtung zur Führung der Register über die unter den Juden vorkommenden Geburts= Heirats= und Sterbefälle. Die Einziehung der Hebammen Unterstützungsgelder verbleibt aber der Ortsbehörde, da zwischen der Führung der jüdischen Familienstandsregister und der Einziehung jener Gelder ein innerer Zusammenhang nicht besteht, letztere mithin auf die Justiz Behörde nicht übergegangen ist.

Um Mißverständnissen vorzubeugen, eröffnen wir Vorstehendes Ew[er] Wohlgeboren

Münster 19 Februar 1848.

Königl[iche] Regierung. Abth[eilung] des Inneren

[von] Notze.

An

den H[er]r[n] Landrat Devens

pp Welheim

N 12 I I[n]M[argine]

Circulirt bei den Ortsbehörden

  1. zu Recklingh[ausen] pr[aesentatum]. 4/3 48 N Bracht
  2. Niering

Zur Kenntnisname und Beachtung

Welheim 28. Februar 1848

Devens

1849 – Zirkularverfügung der Königlichen Regierung Münster an die Stadt Recklinghausen über die privatrechtliche Autonomie der Jüdischen Gemeinde bezüglich ihrer Vermögensverwaltung, veranlasst durch eine auch in Recklinghausen durchzuführende Kollekte für den Neubau einer Synagoge in Vlotho (Kreis Herford)

Quelle: Stadt- und Vestisches Archiv Recklinghausen, Bestand II, Nr. 107, Bl. 18 r, Verfasser: Dr. Matthias Kordes, Leiter des Stadt- und Vestischen Archivs Recklinghausen.

Dem Magistrat wird auf die Anfrage vom 26ten d[es] M[onats], ob die im Amtsblatt N 25 angekündigte Haus-Collecte bei den jüdischen Familien zum Neubau einer Synagoge in Vlotho, wie die Collecten für anderweitige Zwecke zu controlliren sind? erwidert, daß, da nach den allgemeinen Grundsätzen die Judenschaften nur als Privat Gesellschaften betrachtet werden, um deren Vermögensverwaltung der Staat sich nicht bekümmert, es lediglich den Bekennern des mosaischen Glaubens zu überlassen ist, die Sammlung durch eines ihrer Mitglieder zu veranstalten und den Ertrag derjenigen Judenschaft zu übersenden, zu deren Vortheil die Collecte bewilligt worden ist.

Münster den 30. Juni 1849

Königl[iche] Regierung, Abth[eilung] des Innern

Abschrift vorstehender Verfügung zur Nachricht

Münster 30. Juni 1849

K[önigliche] R[egierung] A[btheilung] d[es] I[nnern]

An den Magistrat hier

An den Königlichen Landrathsamt

zu Recklinghausen

N. 897 I C – H Cultus.

Circuliert s[ub] f[die] r[emissionis]

1.    beim Magistrat hier praes 18/7 49 884

2.    Herrn Steuerempfänger Dr. Denhausen

Zur Kenntnisnahme

Recklinghausen 16. Juli 1849

Der landräthliche Commissar

[Unterschrift] von Reitzenstein

1853 – Registrierung der Juden im ehemaligen Gerichtsbezirk Recklinghausen zwecks Konstituierung der Synagogengemeinde Recklinghausen auf Grundlage des preußischen Gesetzes über die bürgerlichen Verhältnisse der Juden vom 23. Juli 1847

Quelle: Stadt – und Vestisches Archiv Recklinghausen, Bestand III, Nr. 107, Bl. 62 r, Verfasser: Dr. Matthias Kordes, Leiter des Stadt- und Vestischen Archivs Recklinghausen.

Verzeichnis

sämmtlicher israelitischer Gemeindemitglieder des früheren

Gerichtsbezirks Recklinghausen


  1. Simon Weyl in Recklinghausen
  2. David Cosmann             dito
  3. Adam Fassbender             dito
  4. Markus Aron             dito
  5. Isaac Leeser             dito
  6. Levi Michel             dito
  7. Markus Klein                         dito
  8. Markus Friedenberg             dito
  9. Isaac Jonas Cosmann dito
  10. Levi Klein dito
  11. Samuel Bendix dito
  12. Moses Cosmann junior dito
  13. Moses Cosmann senior dito
  14. Rosenberg, Levi in Horneburg
  15. Rosenthal Josef in Waltrop
  16. Rosenthal Markus in dito
  17. Rosenthal Moses dito
  18. Rosenthal Leser dito
  19. Lowenthal Pincus dito
  20. Hecht Mendel in Datteln
  21. Oelber Salomon dito
  22. Löwenberg Isaac dito
  23. Mendel Salomin in Ahsen
  24. Stern, Abraham dito

Recklinghausen 30. August 1853

Der comm[issarische] Bürgermeister

Hagemann

Vorstehendes Verzeichnis

hat 14 Tage in der Synagoge zu

Datteln offen gelegen

I. Löwenberg

 

1853 – Einladung an die wahlberechtigten Juden in Horneburg, Waltrop, Datteln und Ahsen zwecks Wiederholung der Wahl des Gemeindevorstandes im neu eingerichteten Synagogenbezirk Recklinghausen

Quelle: Stadt – und Vestisches Archiv Recklinghausen, Bestand III, Nr. 107, Bl. 67 r, Verfasser: Dr. Matthias Kordes, Leiter des Stadt- und Vestischen Archivs Recklinghausen.

Bekanntmachung

Nachdem Königliche Regierung laut Rescript vom August cur[rentis] den Protest vom 6. Juli c[urrentis] gegen die Wahl des Vorstandes und der Repräsentanten der hier zu bildenden Synagogen-Gemeinde als ungesetzlich verworfen hat, wird nochmals ein Termin zur Wahl des Vostandes und der Repräsentanten der Synagogen-Gemeinde im Rathause zu Recklinghausen auf Freitag den 16 September 1853 Morgens 10 Uhr anberaumt wozu untenbezeichnete Stimmberechtigte

  1. Rosenberg, Levi in Horneburg
  2. Rosenthal Joseph in Waltrop
  3. Rosenthal Markus in dito
  4. Rosenthal Leeser in dito
  5. Rosenthal Moses in dito
  6. Löwenberg Pincus in dito
  7. Hecht, Mendel in Datteln
  8. Oelber Salomon dito
  9. Löwenberg Isaak dito
  10. Mendel, Salomon in Ahsen
  11. Stern Abraham dito

unter dem Präjudize eingeladen worden, daß die Ausbleibenden die von den Erscheinenden vorzunehmende Wahl anerekennen müssen.

Es werden 3 Vorstands-Mitglieder und 9 Repräsentanten, so wie eine entsprechende Anzahl Stellvertreter gewählt.

Recklinghausen den 30 August 1853

der comiss[arische] Bürgermeister

gez[eichnet] Hagemann

1869 – Die Juden auf dem Weg zur vollen rechtlichen Gleichstellung im Königreich Preußen 

Preußisches „Gesetz betreffend die Eide der Juden“ vom 15. März 1869  

Quelle: Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten 1869, No. 25, S. 484-486. (Abb. aus dem Exemplar des Stadt- und Vestischen Archivs Recklinghausen, Signatur: J 90 (St.A.)), Verfasser: Dr. Matthias Kordes, Leiter des Stadt- und Vestischen Archivs Recklinghausen.

Mit dem Gesetz vom 15. März 1869 löste sich auch das Königreich Preußen endgültig von einer jahrhundertealten antijüdischen Tradition, nach welcher Juden, die sich in einem Rechtsstreit mit einem Christen befanden, vor Gericht besondere, zumal diskriminierende Eidesformeln aufgezwungen wurden. Diese beinhalteten komplizierte, mit ausladenden Selbstverfluchungssätzen ausgestattete Texte, die dazu dienten, Juden als eingeschränkt eidfähige, rechtlich minderbemittelte und mit wenig Ehre und Glaubwürdigkeit versehene Religionsgemeinschaft darzustellen, deren Eidesleitung man unterstellte, vor Gott und Gericht nur schwache Beweiskraft entwickeln zu können.

Da in der älteren europäischen Rechtskultur Eide und Eidesformeln eine besondere symbolisch-rituelle Bedeutung besaßen – sie waren ja eine formalisierte Wahrheitsversicherung unter Anrufung Gottes als Rächer des Eidbruchs und der Unwahrheit – missbrauchte man bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts den Judeneid (das sog. Iuramentum Iudaeorum / „Eid more judaico“, dieses ist nicht zu verwechseln mit dem zeremoniellen Eid, den Juden nach eigenem Recht innerhalb ihrer Gemeinde in der Synagoge leisten konnten) für demütigende Zeremonien vor Gericht. Auf dieser Grundlage wurden die Juden im Mittelalter an einigen Orten beispielsweise gezwungen, mit einer Dornenkrone bzw. einem spitzen „Judenhut“ auf dem Kopf oder sogar auf einer Schweinshaut stehend ihren Eid zu leisten.

Seit Mitte des 16. Jahrhunderts gab es zwischen den Rechtsordnungen protestantischer und katholischer Territorien des Reiches ohnehin konfessionelle Unterschiede in den Eidesformeln. Daraus entwickelten bürgerliche und liberale Kräfte im 19. Jahrhundert den Reformgedanken, die verschiedenen gerichtlichen Eidesformeln zu vereinheitlichen und der genuin religiösen Sphäre zumindest teilweise zu entziehen; einschlägige Petitionen der Synagogengemeinden in Berlin und Magdeburg aus den 1850er-Jahren unterstützten diesen Prozess, indem sie auch für die Juden eine vereinfachte und modernisierte Eidesformel forderten.

Die besonders demütigenden Aspekte des alten Judeneides waren nach 1800 schon verschwunden. Das preußische Gesetz vom 15. März 1869, mitunterzeichnet vom amtierenden Ministerpräsidenten Otto von Bismarck, trägt diesen Neuerungen in großem Umfang Rechnung. Die moderne, bewusst allgemein gehaltene Formel zu Beginn: „Ich schwöre bei Gott dem Allmächtigen und Allwissenden“ bzw. am Ende: „So wahr mir Gott helfe“ zeigte sich nun frei von diskriminierenden Elementen. Vorbild dafür war übrigens die ‚neutralisierte‘ Eidesformel, die schon ab 1831 in der preußische Armee Geltung hatte. Zusammengenommen wurden diese Formulierungen bald zu Schrittmachern einer Rechtsvereinheitlichung in ganz Deutschland. Nur noch im Detail gab es für einige Jahre Unterschiede: Das Zeigen der drei Finger des Schwörenden, die bei Christen ja die Anrufung der Dreifaltigkeit Gottes in Szene setzten soll, wurde bei Juden durch das Heben der rechten Hand (bzw. das Auflegen der rechten Hand auf die Brust ersetzt), dieser Gebrauch wurde ab 1877 in das Prozessrecht des Kaiserreiches übernommen.

Am Recklinghäuser Marktplatz gab es von 1815 bis 1877 ein Stadt- und Landgericht (ab 1877: Königliches Amtsgericht Recklinghausen), genauer gesagt eine zweistufige Gerichtsbarkeit, vor dem hauptsächlich Zivilprozesse ausgetragen, Nachlass- und Erbangelegenheiten geregelt, Testamente hinterlegt und Grundstückssachen verhandelt wurden. Auch Geburten, Heiraten und Sterbefälle von Juden wurden bis zur Einführung der Standesämter 1874 dort amtlich registriert. Als Rechtsgrundlagen dienten am Ende der 1860er-Jahre das sog. Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794, das 1815/16 auch in der Provinz Westfalen eingeführt wurde, sowie das Allgemeine Deutsche Handelsgesetzbuch (ADHGB) von 1861. Beide großen Kodifikationen galten natürlich ausnahmslos für Christen und Juden; das preußische Gesetz von 1869 bescherte den Juden eine lange angestrebte Rechtsangleichung.

 

Weiterführende Links:

1869, 3. Juli: Bundesgesetz über die rechtliche Gleichstellung der Juden in den Staaten des Norddeutschen Bundes

Quelle: Bundesgesetzblatt 1869, Nr. 28, S. 292., Verfasser: Dr. Matthias Kordes, Leiter des Stadt- und Vestischen Archivs Recklinghausen.

„Wir, Wilhelm, von Gottes Gnaden König von Preußen, verordnen hiermit im Namen des Norddeutschen Bundes, nach erfolgter Zustimmung des Bundesrathes und des Reichstages, was folgt:

Einziger Artikel.

Alle noch bestehenden, aus der Verschiedenheit des religiösen Bekenntnisses hergeleiteten Beschränkungen der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte werden hierdurch aufgehoben. Insbesondere soll die Befähigung zur Theilnahme an der Gemeinde- und Landesvertretung und zur Bekleidung öffentlicher Ämter vom religiösen Bekenntniß unabhängig sein.“

Hintergrund: Der im April 1867 unter politischer und militärischer Führung des Königreiches Preußen gegründete Norddeutsche Bund war ein Bundesstaat, der die deutschen Staaten, Fürstentümer, freien Hansestädte und Territorien nördlich des Mains unter einem föderalen Dach vereinigte. Der Präsident des Bundes war der König von Preußen, der amtierende Bundeskanzler hieß Otto von Bismarck, der zugleich auch preußischer Ministerpräsident war. Der Norddeutsche Bund hatte ein eigenes Parlament, das sich Reichstag nannte und knapp 300 Abgeordnete hatte. Dieses Parlament, das bundesweite Gesetzgebungskompetenz hatte, tagte in Berlin im sog. Herrenhaus des Preußischen Landtages.

In seiner nur knapp vier Jahre währenden Existenz, die etwa einer Legislaturperiode entsprach, verabschiedete der Reichstag über 80 Einzelgesetze, die mit liberalen Stimmenmehrheiten auf vielfache Weise reformerische Ziele verfolgten. Einen Katalog von Menschen- und Bürgerrechten gab es in der Verfassung des Norddeutschen Bundes vom Juni 1867 zwar nicht, besonders bekannt wurde indes das vom liberalen Rostocker Juristen Dr. Moritz Wiggers konzipierte Bundesgesetz vom 3. Juli 1869, das in allen Gliedstaaten des Norddeutschen Bundes die bürgerlichen Rechte für „vom religiösen Bekenntnis“ unabhängig erklärte. Wenige Jahre zuvor gab es ähnliche Regelungen über die Rechtsstellung der Juden bereits im Großherzogtum Baden (1862), in Frankfurt am Main (1864) und in Österreich-Ungarn (1867).

Damit fielen – jedenfalls formal – letzte rechtliche Schranken, die das Leben der Juden in den Staaten des Norddeutschen Bundes noch bestimmten. Der im 18. Jahrhundert einsetzende Prozess der Gleichstellung und Emanzipation der deutschen Juden hatte damit weitestgehend seine Ziele erreicht; ihre volle Teilhabe am wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, politischen, staatlichen und kulturellen Leben in den größten Teilen Deutschlands schien damit möglich.

Der Norddeutsche Bund hatte keine Verwaltungsexekutive, d.h. keine übergreifend tätigen Bundesbehörden oder -ämter; die Ausführung und Befolgung der Bundesgesetze von 1867 bis Anfang 1871 oblag daher den einzelnen Gliedstaaten, in denen die in Berlin verabschiedeten Bundesgesetze unmittelbare Gesetzeskraft erlangen sollten. Der Text des Gesetzes vom 3. Juli 1869, mit dem die Emanzipationsgesetzgebung in Deutschland im Wesentlichen zum Abschluss kam, taucht daher in der Preußischen Gesetz-Sammlung von 1869 (oder später) nicht auf, auch in den zeitgenössischen Archivakten der Stadt Recklinghausen finden sich keine Spuren dieses wichtigen Gesetzes.

Nichtsdestoweniger kamen auf diese Weise die Juden in Preußen, in der Preußischen Provinz Westfalen und damit auch im Kreis Recklinghausen ohne Verzögerung, soll heißen: ohne nachgelagertes preußisches Landesgesetzgebungsverfahren in den Genuss des Gleichstellungsgesetzes von 1869. Seinem Inhalt nach wurde es unverändert in die Rechtsordnung des Deutschen Reiches von 1871 übernommen. Und verbunden mit der Industrialisierung, der Urbanisierung und dem Aufschwung des Bergbaus in der Emscher-Lippe-Region ab 1870 konnte auch die ungehinderte Entwicklung der Juden in Stadt und Kreis Recklinghausen weiter Fahrt aufnehmen.

 

Weiterführende Links:

1871 – Bericht des Amtmanns der Landgemeinde Waltrop an den Landrat des Kreises Recklinghausen über die Erteilung von Religionsunterricht für Kinder jüdischer Familien in Waltrop

Quelle: Stadt- und Vestisches Archiv Recklinghausen, Bestand II, Nr. 107, Bl. 212 r, Verfasser: Dr. Matthias Kordes, Leiter des Stadt- und Vestischen Archivs Recklinghausen.

Waltrop, den 7. März 1871.

Die hiesige Judengenossenschaft betreffend.

Ad Verf[ügung] vom 1/3 1871 Nr. 1829

Praesentatum 8 / 3. I 2035

Zur Registratur eod[em]

Ewer Hochwohlgeboren beehre ich mich in Erledigung der neben allegierten verehrlichen Verfügung gehorsamst zu berichten, daß die Judengenossenschaft im diesseiti Amtsbezirk für ihre Cultusbedürfnisse einen besonderen Etat nicht hat, sondern dieselben unter sich vertheilen und bezahlen, sowie, daß die hiesigen jüdischen Eingesessenen ihre Kinder auf 1 oder 2 Jahre nach Verwandten in benachbarten Städten schicken, um dieselben in der betreffenden jüdischen Schulen in der Religion unterrichten zu lassen.

Der Amtmann

[Unterschrift] Cherouny

An

den Königlichen Landrath

Herrn von Reitzenstein Ritter pp.

Hochwohlgeboren

zu

Recklinghausen

No. 256

1871 – Bericht des Amtmanns der Landgemeinde Datteln an den Landrat des Kreises Recklinghausen über die Erteilung von Religionsunterricht für Kinder jüdischer Familien in Datteln, Ahsen und Flaesheim

Quelle: Stadt- und Vestisches Archiv Recklinghausen, Bestand II, Nr. 107, Bl. 213 r.

Cultus Bedürfnisse der Juden

Verfügung vom 1. d[es] M[onats] No. 1829

Praesentatum 16/3 1871 I 2330

Zur Registratur 17 / 3 71

Datteln, den 12. März 1871

 

Zur Erledigung oben gedachter Verfügung berichte ich gehorsamst, daß die Juden für ihre Cultus Bedürfnisse einen besonderen Etat haben, daß die Kinder in Datteln von einem angenommenen Lehrer, diejenigen in Ahsen von ihren Eltern Religions Unterricht empfan-gen und in Flaesheim keine Juden existieren

Der Amtmann

[Unterschrift] Wiesmann

No. 257

 

1872, 21. März: Gerichtliche Dokumentation und Beglaubigung einer jüdischen Eheschließung in Recklinghausen nebst amtlicher Mitteilung an den Recklinghäuser Bürgermeister Friedrich Hagemann 

Quelle: Stadt- und Vestisches Archiv Recklinghausen, Bestand II, Nr. 104: Acta gen[eralia] u[nd] spec[ialia]: Die von Geburten und Trauungen jüdischer Glaubens-Genossen zum Hebammen-Unterstützungs-Fond zu entrichtenden Abgaben, Bl. 36 r, 37 r, Verfasser: Dr. Matthias Kordes, Leiter des Stadt- und Vestischen Archivs Recklinghausen.

Daß in dem bei dem unterzeichneten Gerichte geführten Register für die Heirathsfälle der Juden folgende wörtlich lautende Vermerke:

„1872

laut Verhandlung vom 21ten des Monats haben der Kaufmann David Cosmann junior von hier und Dina Loewenstein von Werl beide zur Gemeinschaft der Juden gehörig, erklärt, daß sie sich als ehelich verbunden betrachten wollen: Eingetragen Recklinghausen, den drei und zwanzigsten März Achtzehnhundert zwei und siebenzig.

Königliche Kreisgerichts Deputation

Aulike                                     Fack

Kr[eis] G[erichts] Rath           Protokollführer“

[…]

eingetragen stehen, wird hierdurch amtlich bescheinigt.

 

Recklinghausen den 21. Januar 1873

Königliche Kreisgerichts Deputation.

Siegelstempel

Unterschrift [Ernesti]

 

An Herrn Bürgermeister Hagemann

hier

Vor Einführung des Standesamtswesens erst in Preußen, dann im ganzen Kaiserreich (1874/75) wurden in Westfalen die drei Personenstandsdaten (Geburt, Heirat, Tod) nicht bei einer staatlichen Stelle, sondern traditionell durch die örtlichen Kirchengemeinden – natürlich streng nach den beiden christlichen Konfessionen getrennt – in den sog. Pfarrmatrikeln bzw. Kirchenbüchern erfasst, wobei dort genau genommen nicht die Geburt, sondern die Taufe eines Neugeborenen verzeichnet wurde.

Für die Juden als religiöse, noch keineswegs gleichberechtigte Minderheit galt vor 1874/75 in Preußen in vielen Bereichen des bürgerlichen Lebens noch immer ein staatliches Sonderrecht. Dieses wurde im „Gesetz über die Verhältnisse der Juden“ vom 23. Juli 1847, das ja auch die Bildung von Synagogengemeinden vorsah, zuletzt umfassend und genau geregelt. Es sah in den Paragrafen 8–20 vor, dass Geburten, Heiraten und Todesfälle von Mitgliedern der Synagogengemeinden durch kurzfristiges, persönliches Erscheinen des/der Betroffenen bzw. eines Angehörigen bei den örtlichen Stadt- bzw. Kreisgerichten anzuzeigen, ebendort zu beglaubigen und dafür in ein spezielles Register einzutragen sind. Dabei fielen Verwaltungsgebühren an, schuldhaftes Versäumnis wurde mit Geld- und Haftstrafen sanktioniert. Wohnten die Brautleute in verschiedenen Städten bzw. Gerichtsbezirken, so war zwischen den beiden eine freie Ortswahl der Eheschließung möglich, woraufhin eine entsprechende Meldung an die jeweils andere, der Person nach zuständige Gerichtsbehörde und an den betreffenden Bürgermeister in seiner Eigenschaft als Ortspolizeibehörde zu erfolgen hatte.

Ein Kreisgericht, gelegen unmittelbar am Markt, gab es in Recklinghausen von 1849 bis 1851, danach bestand es bis 1879 in organisatorisch reduzierter Form als dreiköpfige Kreisgerichtskommission bzw. -deputation, d.h. als Außen- und Nebenstelle des Kreisgerichtes Dorsten weiter, die von 1858 bis 1879 unter Vorsitz des Gerichtsrates Heinrich Aulike stand, wohnhaft Heilige-Geist-Straße 16. Sie trat als erste Instanz einer zweistufigen Gerichtsbarkeit unter dem Appellationsgericht Münster auf und war zuständig für Grundbuchangelegenheiten, Schuldensachen, Gemeinheitsteilungen, Vormundschaftsangelegenheiten, seit 1847 auch für den Personenstand der Juden und seit 1849 für die rechtssichernde Deponierung von Testamenten und Letztwilligen Verfügungen.

Das seit dem 23. März 1872 ehelich verbundene Paar David Cosmann jun. und Dina geb. Löwenstein, wohnhaft Markt 11, Recklinghausen, bekam am 13. Dezember 1874 eine Tochter. Deren Geburt wurde aber nicht mehr, wie im Gesetz von 1847 noch vorgesehen, in einem speziellen Judenregister bei der Kreisgerichtsdeputation dokumentiert, sondern in die gerade erst in Preußen eingeführten neuartigen Standesamtsregister eingetragen. Diese sollten ausnahmslos alle Einwohner erfassen und wurden damit auch zu einem behördlichen Instrument der Judenemanzipation in Deutschland. Die Ehefrau des David Cosmann jun., Dina geb. Löwenstein (geb. am 1. Juni 1845 in Werl), überlebte die Geburt ihrer Tochter jedoch nicht und verstarb noch am selben Tag. Der Witwer, Angehöriger der bedeutenden Recklinghäuser Kaufmannsfamilie Cosmann, heiratete 1878 erneut, und zwar Kunigunde geb. Neukirchen.

 

Weiterführende Links:

1874, 15. Dezember: Erste standesamtliche Beurkundung der Geburt eines jüdischen Kindes in Recklinghausen

Quelle: Stadt.- und Vestisches Archiv Recklinghausen: Bestand Standesamt, Geburts-Hauptregister, Jahrgang 1874, Verfasser: Dr. Matthias Kordes, Leiter des Stadt- und Vestischen Archivs Recklinghausen.

Nr. 46

Stadt Recklinghausen am 15. December 1874

Vor dem unterzeichneten Standesbeamten erschien heute, der Person nach bekannt der Metzger Bendix Bendix, wohnhaft zu hierselbst breite Straße No. 39, jüdischer Religion, und zeigte an, daß von der Ehefrau Kaufmanns David Cosmann Dina geborene Löwenstein jüdischer Religion wohnhaft hierselbst Markt No. 11 zu hierselbst in ihrer Wohnung No. 11 am dreizehnten ten December des Jahres tausend acht hundert siebenzig und vier Vormittags um fünfeinhalb Uhr ein Kind weiblichen Geschlechts geboren worden sei, welches den Namen Dina erhalten habe.

Vorgelesen genehmigt und unterschrieben

[Unterschrift] B[endix] Bendix

Der Standesbeamte

[Unterschrift] Hagemann

 

Das Preußische „Gesetz über die Beurkundung des Personenstandes und die Form der Eheschließung“ vom 9. März 1874 ordnete an, dass ab 1. Oktober desselben Jahres in ganz Preußen Standesamtsregister eingeführt werden, so natürlich auch in Recklinghausen: Das Gesetz schrieb vor, dass sämtliche Geburten, Heiraten und Todesfälle ausschließlich durch die vom Staat bestellten Standesbeamten beurkundet werden dürfen, und zwar „mittels Eintragung in die dazu bestimmten Register“. Das galt für alle Einwohner Preußens gleichermaßen, ein Unterschied zwischen Angehörigen verschiedener Religionen, Konfessionen oder Volkszugehörigkeiten wurde dabei nicht gemacht. Die Feststellung der Religionszughörigkeit erhielt – zunächst nur bis 1919 – eine kurze Erwähnung, bei den Juden hieß es entweder „jüdisch“ oder „mosaisch“.

Die einzelnen personenbezogenen Niederschriften erfolgten handschriftlich auf ein vorgedrucktes Formularblatt, das spätestens am Ende eines Jahrganges zusammen mit übrigen Eintragungen zu einem Registerband zusammengebunden wurde. Einen speziell dafür eingesetzten Standesbeamten gab es für diesen unverzichtbaren Rechts- und Verwaltungsvorgang, der 1875 gesetzlich auch für das gesamte Deutsche Reich vorgeschrieben wurde, noch nicht, die behördliche Beurkundung

und Registrierung wurde vielmehr durch den amtierenden Bürgermeister selbst, hier: von Friedrich Hagemann (Amtszeit 1853–1890), vollzogen.

Das älteste Recklinghäuser Geburtenregister von 1874 umfasst von Anfang Oktober bis Ende Dezember 57 Einträge – Recklinghausen hatte damals nur etwa 5.700 Einwohner. Unter der laufenden Nummer 46 wird für Sonntag, den 13. Dezember 1874 die Geburt der Dina Cosmann verzeichnet, womit erstmals die Geburt einer Person jüdischen Glaubens in Recklinghausen nach den für das Königreich Preußen neu geltenden standesamtlichen Regelungen erfasst worden ist.

Die Tatsache, dass nicht David Cosmann junior, der Vater des neugeborenen Kindes, im Rathaus diese Geburt mündlich bekannt gab und die entsprechende Beurkundung vornehmen ließ, sondern der jüdische Metzger Benedikt Bendix Bendix, Breite Straße, Haus Nr. 39, hat vermutlich mit einem tragischen Ereignis zu tun: Die 29 Jahre alte Mutter des neugeborenen Kindes, Dina Cosmann geb. Löwenstein (geboren am 1. Juni 1845 in Werl, Tochter des Kaufmanns Levy Löwenstein und der Jeanette Kohlberg), die am 21. Juni 1872 David Cosmann jun. geheiratet hatte, überlebte die Geburt ihres Kindes nur um wenige Stunden. Im – ebenfalls im Oktober 1874 angelegten – ältesten Sterberegister des Standesamtes Recklinghausen findet sich daher zum selben Tagesdatum unter der laufenden Nummer 51 ein entsprechender Todesfall-Eintrag.

 

Weiterführende Links:

1879 – Genehmigung für ein verzinstes Darlehen (nebst Tilgungsplan) der Synagogengemeinde Recklinghausen zwecks Bau einer Synagoge an der Wallstraße / Ecke Klosterstraße seitens der Königlichen Regierung in Münster

Quelle: Stadt- und Vestisches Archiv Recklinghausen, Bestand II, Nr. 106, Bl. 32 , Verfasser: Dr. Matthias Kordes, Leiter des Stadt- und Vestischen Archivs Recklinghausen.

Münster, 15 September 1879

Bei Remission der Anlagen des Berichts vom 8. d[es] M[onats] J[ournal] No. 8949 betreffend das Darlehen zum Synagogenbau daselbst genehmigen wir den Repräsentanten Beschluss von 28 v[origen] M[onats] wonach zur Bestreitung der fehlenden Baukosten noch ein in 30 Jahren zu amortisierendes verzinsliches

Darlehen von 2100 M[ar]k aufgenommen werden soll und die Amortisationsrate 136 M[ark] 50 Pf[ennig] nach Verhältniß der Staats-

steuer umzulegen ist, zur weiteren Ausführung.

Bericht über die weitere Lage der Sache in 6 Monaten Königliche Regier[ung] Abtheil[ung] des Innern 2510 I U gez[eichnet] von Tzschoppe

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9669 Recklinghausen, 19. September

Abschrift mit Anlage an Magistrat hier zur Nachricht und weiteren Mittheilung den geforderten Bericht will ich bis zum 11 März 1880 erwarten.

der Landrath

[Reitzenstein]

No. 3041

p[raesentatum] Bendix

nachrichtlich.

Reckl[inghausen] 23 / 9 1870

H[agemann]

1879 – Auszug aus den Protokollen der Stadtverordnetenversammlung betr. den Antrag des Gemeindevorstehers Bendix auf Ermäßigung des Kaufpreises eines städtischen Grundstücks, auf dem die Recklinghäuser Synagoge erbaut werden soll.

Quelle: Stadt- und Vestisches Archiv Recklinghausen, Bestand II, Nr. 106, Bl. 34 r.

Nachstehende Verhandlung

Anwesend

  1. Bürgermeister Hagemann
  2. Stadtverordnete Werth
  3. Winkelmann
  4. Eckmann
  5. Vethacke
  6. Ganteführer
  7. Bramen
  8. Kamper
  9. Leushacke
  10. Sanders
  11. Reimer
  12. Schipper
  13. Gruthölter

Verhandelt im Rathhause zu Recklinghausen am 6. October 1879.  In heutiger Stadtverordne-

ten Sitzung worin die nebengenannten Mitglieder sich eingefunden hatten wurden die Gegenstände

der Tages-Ordnung zum Vortrag gebracht und darüber beschlossen was folgt: quoad claus[ula] conc[ernens]

Antrag auf Ermäßigung des Kaufpreises für den Synagogenbauplatz.

D[ecretum]   No. 3039

Der Antrag wurde von der Versammlung abgelehnt.

Ad acta, nachdem der

Vorsteher Bendix mündlich                                       Folgen Unterschriften

beschieden ist                                                            gez[eichnet] Hagemann

Recklingh[ausen] 9. / 10. 79

d[er] B[ürgermeister]

Hagemann

wird hiermit in beglaubigter Form ausgefertigt

Recklinghausen, 7. October 1879

Der Bürgermeister

[Siegelstempel]          Hagemann

Recklinghausens jüdische Geschichte reicht bis ins ausgehende 13. Jahrhundert zurück. Vor allem aber im 19. Jahrhundert stieg die Zahl der Juden in der Stadt rasch an. Die Recklinghausener Gemeinde entschloss sich 1877 ein eigenes Gotteshaus zu errichten.

Am 20./21. August 1880 konnte die offiziell 1829 gegründeten Gemeinde in der Altstadt die Einweihung der ersten Synagoge feiern. Die Weiherede wurde von Herrn Prediger Laubheim aus Bochum gehalten. Das Grundstück an der Wallstraße 24 wurde von Stadt erworben. Für Bürgermeister Friedrich Hagemann war „auch vom christlichen Standpunkt aus“ der Bau „unter allen Umständen zu fördern“.

Hier entstand für die etwa 80 Mitglieder ein schlichter, rechtwinkliger, eingeschossiger Backstein – Saalbau (6,92 x 9,52 m) mit einem Gesims und dem Konsolfries als Gliederungselement. Die Giebel der Ost- und WEstfassade überragten den Dachfirst. Der Ostgiebel war mit Blindfenster versehen. Hier befand sich im Inneren der Thoraschrein.

Im Jahre 1880 wurde die erste Synagoge an der Klosterstraße (neu Herzoswall) erbaut.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die alte Synagoge in Recklinghausen (hist. Aufn., Stadtarchiv)

1903 – Plan der Synagogengemeinde Recklinghausen, an Stelle der bereits beschlossenen Erweiterung der seit 1880 bestehenden Synagoge an der Wallstraße einen Synagogenneubau auf einem an der Hedwigstraße gelegenen Grundstück des Recklinghäuser Fabrikanten Franz Limper auszuführen 

Quelle: Stadt- und Vestisches Archiv Recklinghausen, Bestand II, Nr. 106, Bl. 63 , Verfasser: Dr. Matthias Kordes, Leiter des Stadt- und Vestischen Archivs Recklinghausen.

Erwerb eines Baugrundstückes zur Errichtung einer Synagoge

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Die Synagogengemeinde Recklingh[ausen] beabsichtigt, von der früher geplanten Erweiterung der Synagoge abzusehen  und einen Neubau zu errichten. Zu diesem Zwecke will sie von dem mit der Stadtgemeinde vereinbarten Vertrage, welcher bereits von der Königl[ichen] Regierung genehmigt ist, zurücktreten und hat beschlossen, ein neues Baugrundstück von  dem Fabrikanten Limper, an der Hedwigstraße gelegen, zu erwerben und zwar von Flur 18 No. 5420/1216 groß 30 Ruthen zum Preise von 200 M[ark] pro Ruthe = 6000 M[ark]

#  # No 609 I

 

V[erfügung]

Erledigt 17 / 2 03 C.

ab 18/2 03

  1. An den Vorstand der Synagogengemeinde hier

Bevor ich den Antrag auf Genehmigung zum Ankauf eines Bauplatzes für die neu zu errichtenden Synagoge weiter reiche,

ersuche ich noch einen Situationsplan bzw eine Grundzeichnung über die Lage des Baugrundstückes vorzulegen.

#  #

2. Nach 8 Tagen etc.

R[ecklinghausen] 16/ II 03

d[er] E[rste] B[ürgermeister]

R[ensing]

N[ota] B[ene] Wegen Zurücktretens von dem mit der Stadt abgeschlossen Vertrage will der Vorstand demnächst, nach Eingang der Genehmigung, besondere Verhandlungen einleiten

Eine erste jüdische Privatschule datiert aus dem Jahre 1885, als ca. 15 Kinder in einem angemieteten Raume Unterricht erhielten. Sieben Jahre später bezog die Schule einen Anbau an die Synagoge in der Klosterstraße. 1903 wurde die private in eine öffentliche Volksschule umgewandelt, und wenige Jahre später in einem neuerbauten Gebäude am Westerholter Weg, später Am Steintor, untergebracht. Allerdings besuchten nicht alle jüdischen Kinder diese Schule, sondern erhielten ihre Bildung auf christlichen Schulen. Mit der Einweihung des Jugend- und Gemeindehauses in unmittelbarer Nähe der Synagoge wurde im Oktober 1930 das religiös-kulturelle Zentrum in Recklinghausen komplettiert.

Im Jahr 1903 wurde die erste private jüdische Schule am Westerholter Weg, später Am Steintor, gegründet.

 

Mit dem kontinuerlichen Wachsen der Gemeinde auf rund 500 Mitglieder wuchs auch der Wunsch nach einer neuen Synagoge, die 1904 an der Limperstraße eingeweiht werden konnte.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Bauzeichnung des Recklinghäser Synagogenbaus, März 1903.

1903 – Synagogenarchitektur als Aktenschriftstück.

Bauantrag der Jüdischen Gemeinde Recklinghausen, mit bautechnischer Beschreibung der vom Recklinghäuser Architekten Cuno Pohlig entworfenen neuen Synagoge Recklinghausen, der Baupolizeibehörde der Stadt Recklinghausen zur Prüfung vorgelegt, mit handgezeichnetem Lageplan der neuen Synagoge, Maßstab 1 : 500  

Quelle: Stadt- und Vestisches Archiv Recklinghausen; Bestand 630/581: Hausakten betr. das Grundstück Limper Straße Nr. 39

 

Baubeschreibung

zum Neubau einer Synagoge für die israelitische Gemeinde in Recklinghausen

Die Synagogen-Gemeinde beabsichtigt auf dem von ihr erworbenen Grundstück Flur 18 Parzelle 3349/1216 an der Hedwigstraße hier selbst belegen, den Neubau einer Synagoge wie auf beiliegender Zeichnung dargestellt ist, zu errichten.

Das Gebäude soll ganz massiv, die Bedachung soll vorn in Schiefer und auf dem Rückteil des Gebäudes in Falzziegeldeckung ausgeführt werden.

Die Emporen sind in Holzkonstruktionen mit Einfügung einer Schutzdecke, wie beim Wohnhausbau üblich, angenommen, die tragenden Construktionsteile der Empore bilden gußeiserne Säulen, deren Stärke aus beiliegender. statischen Berechnung hervorgeht, die Fußböden sind außer den Vorräumen in Holz gedeckt, für die Vorräume in Platten, die hier nach vorgesehene Treppe zur Empore ist massiv in Cementstein mit Untermauerung der Wangen projektiert. Die Gewölbeform der Decken wird durch Anwendung von Monierkonstruktion mit Gipsmörtel gebildet. Der Putz im Innern wird in leichter Spritzmanier ausgeführt; das Außen in Stuckputz, wie Zeichnung besagt. Zur Beheizung der Räume dienen Gasöfen, welche an gußeiserne Abzugsrohre, die in das Mauerwerk geführt, angeschlossen werden.

Alles Übrige dürfte aus der Zeichnung ersichtlich sein, und soll unter genauester Beachtung der Baupolizei-Vorschriften zur Ausführung kommen.

Recklinghausen, den 31. März 1903

 

der Bauherr:                                                                          der Architekt:

Für die Synagogengemeinde                                                            Pohlig

D[avid] Cosmann

 

 

Ges[ehen] u[nd] geprüft

Fegeler 31./5.

 

 

 

 

 

 

1904 – Einladung der Synagogengemeinde Recklinghausen an sämtliche Stadtverordneten Recklinghausens, als Ehrengäste an der Eröffnung und Einweihung der neuen Synagoge an der Hedwigstraße teilzunehmen 

Quelle: Stadt- und Vestisches Archiv Recklinghausen, Bestand II, Nr. 106, Bl. 77 r, Verfasser: Dr. Matthias Kordes, Leiter des Stadt- und Vestischen Archivs Recklinghausen.

Synagogen-Gemeinde

Recklinghausen                                                         Recklinghausen, 17. August 1904

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Stadt Recklinghausen

Eing. 18.Aug. 1904

T[age] B[uch] I 3743

An den

Wohllöbl[ichen] Magistrat der Stadt

Recklinghausen.

 

Freitag den 26. August, Nachmittags 4 Uhr, begeht die hiesige Synagigengemeinde am Portale der neuen Synagoge (Hedwigstraße) die feierliche Eröffnung und Einweihung ihres Gotteshauses. Wir beehren uns, zu dieser Feier unsere verehrte Stadtvertretung als Ehrengäste ganz ergebenst einzuladen, und bitten nur der Reservierung der Plätze wegen um gütigen Bescheid.

Namens der Synagogengemeinde.

das Rabbinat.                         der Vorstand.

Dr. Marx                                 A. Stern

Der Anstieg auf 220 (1900) bzw. 450 (1933) Gemeindemitglieder ging einher mit dem Wachstum der Stadt auf 34 bzw. 88 Tsd. Einwohner. Am 26. August 1914 wurden die Thorarollen feierlich in die neue Synagoge an der Hedwigstraße (später: Limperstr.) übertragen.

Der 23 m x 13 m große und 12 m hohen Saalbau des Recklinghäuser Architekten Cuno Pohlig im gerade entstehenden Westviertel bot 120 Männern im Erdgeschoss und 110 Frauen auf der Galerie Platz. Äußerlich griff der Bau romanische wie maurische Elemente auf; verschieden farbige Backsteinschichten erzeugten eine horizontale Hell-Dunkel-Gliederung. Der Innenraum wurde vom Kirchenmaler Schröder gestaltet. Prägend für die Straßenfront ist der durch eine Rosette geschmückte Turmaufbau, eine Adaption christlicher Gotteshäuser.

Die Zwiebelhaube des 25,65 m hohen Turms wurde durch den Davidstern gekrönt. Das Eingangsportal unterstrich den repräsentativen Charakter: Zwei vorgelagerte Säulen erinnerten an den zerstörten Tempel und die beiden Dekalog-Tafeln oberhalb an die Gebote Gottes.

Im Inneren richten sich die Bankreihen im Langhaus auf die Ostapsis aus. So wird die Aufmerksamkeit auf die höher gelegte Bima und den durch Stufen weiter erhöhten Thoraschrein gelenkt. In ihm werden Heiliegen Schriftrollen aufbewahrt, die auf dem Lesetisch der Bima, die durch ein Geländer abgetrennt ist, währenddes Gottesdienstes verlesen werden. Der Synagogenbau im neoromanischen Stil verfügte – wie es eine religiös-orthodox eingestellte Gemeinde verlangte – über eine Frauenempore; etwa 120 Männer und fast ebenso viele Frauen fanden im Gebäude Platz. Auf den Einbau einer Orgel wurde bewusst verzichtet.

Mit der Einweihung des Jugend- und Gemeindehauses in unmittelbarer Nähe der Synagoge wurde im Oktober 1930 das religiös-kulturelle Zentrum in Recklinghausen komplettiert.

Über die Einweihung vom 26.August 1904 berichtete die „Recklinghäuser Zeitung”:

„ Unsere Synagogengemeinde hatte heute einen ganz besonderen Fest- und Freudentag. Er galt der Weihe des im letzten Jahr erbauten neuen Gotteshauses an der Hedwigstraße. Das nach dem Plane des Architekten Pohlig von dem Bauunternehmer Tillmann erbaute Haus ist ein würdiges Gotteshaus geworden, welches sich außen wie innen in wohlgefälligster Weise präsentiert. Im Innern hat der Kirchenmaler Schröder an seinem Teile in künstlerischer Weise mitgeholfen an der Herstellung eines dem Auge sehr gefälligen Eindrucks. Das Haus zeigt den romanischen Stil. Innen wölbt sich eine mächtige Halle mit einer dreiseitigen Gallerie in wohlgelungener Anordnung und Einzelausführung. Die Akkustik ist eine sehr vorzügliche. Besonders vorteilhaft präsentiert sich das Altargewölbe und der heilige Schrein, in dem die Thorarollen ihre Stätte haben. Alles in allem haben unsere Israeliten alle Veranlassung, sich ihres Gotteshauses zu freuen.”

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Quelle: 2. Synagoge in Recklinghausen (Stadtarchiv, aus: recklinghaeuser-zeitung.de)

1904, April – Mai: Verwaltungsverfahren zur staatlichen Genehmigung einer neuen Jüdischen Friedhofsanlage am Nordcharweg, gelegen auf einem durch Kauf erworbenen Grundstück des Speckhorner Landwirtes Theodor Berns hier: Auszug aus dem Magistratsprotokoll mit Beschluss vom 25. April 1904 nebst Vermerk über Eingabe der Jüdischen Gemeinde vom 17. Mai 1904 sowie Abschrift des Schreibens des Ersten Bürgermeisters Albert von Bruchhausen an den Regierungspräsidenten in Münster vom 18. Mai 1904.

Quelle: Stadt- und Vestisches Archiv Recklinghausen, Bestand III, Nr. 6182, Special Acten betr. den jüdischen Begräbnisplatz, Bl. 56 r-v, Verfasser: Dr. Matthias Kordes, Leiter des Stadt- und Vestischen Archivs Recklinghausen.

Auszug

Die Synagogen Vorstand sendet mit Bericht vom 17. Mai 1904 die Beschlüsse des Vorstandes und der Repräsentanten der hiesigen Synagogengemeinde sowie 6 Zeichnungen der Bitte um Genehmigung zur Friedhofsanlage auf dem vom Oeconom Berns in Speckhorn zu erwerbenden Grundstück Flur 12 No. 97.

Gutachten des Kreisarztes Herrn Medikus Dr. Többen ist beigefügt.

Eingegangen 17/5 04

Journal No. 2424 I

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Recklinghausen d[en] 18. Mai 1904.

Ab mit Anlagen

Herrn Regierungs-Präsidenten

zu

Münster

mit der Bitte um geneigte baldige Erteilung der Genehmigung zurückgereicht, da auf dem jetzigen Friedhofe nur noch 2 Plätze frei sind.

Der nunmehr ausgewählte Platz ist außerhalb des Bebauungsplans und genügend weit von der Altstadt gelegen. Zur Orientierung habe ich auf dem Lageplan die Lage des neuen evangelischen Friedhofes mit einem blauen Kreuze bezeichnet.

gez. von Bruchhausen.

 

[Anlage:]

Lageplan

zur projectierten Anlage eines Friedhofes für die israelitische Gemeinde zu Recklinghausen

Gemarkung Recklinghausen Stadt.

Angefertigt Recklinghausen, im Mai 1904

H. Hollmann, vereideter Landmesser.

Für die Synagogen Gemeinde

Rosenberg

Synagogen-Vorsteher.

 

Maßstab 1 : 5.000; genordet, mit farbiger Einzeichnung des Evangelischen Friedhofs an der Halterner Straße und des neuen Jüdischen Friedhofes am Nordcharweg.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Weiterführende Links:

Der Jüdische Friedhof am Nordcharweg in Recklinghausen

Quelle: Stadt- und Vestisches Archiv Recklinghausen, Verfasser: Dr. Matthias Kordes, Leiter des Stadt- und Vestischen Archivs Recklinghausen.

Anfang 1816 genehmigte die Stadt Recklinghausen den Zuzug erster jüdischer Familien aus dem Umland; es waren diejenigen der Metzgermeister Jonas Cosmann und Joseph May, denen bald danach Aaron Marcus und Samuel Bendix sowie die Kaufleute Levi und Moses Klein folgten. 1823 kaufte Samuel Bendix als Vorsteher der jüdischen Gemeinde von der Stadt ein 577 qm großes Grundstück am Börster Weg zwecks Anlage eines Jüdischen Friedhofes. Anlass dafür war die schwere Erkrankung des Jonas Cosmann (1765–1823), der drei Tage nach Abschluss des Kaufvertrages starb und als erster dort begraben wurde. Damals lag dieser Friedhof nördlich des alten Siedlungsgebietes der Stadt Recklinghausen, die immer noch von ihren spätmittelalterlichen Mauern umgeben war. Bestandteil des Kaufvertrages war auf Drängen der Bezirksregierung in Münster auch das Recht auf Rückkauf und Rückfall des Geländes zugunsten der Stadt Recklinghausen.

Nach achtzig Jahren war dieser Friedhof, ehemals auf freiem Feld gelegen, vollständig belegt und zudem von immer mehr Wohnhäusern der ab 1900 auch nach Norden expandierenden Stadt umgeben. So musste sich die Synagogengemeinde, die ebenfalls stark angewachsen war, zur Anlage eines neuen, größeren Friedhofes entschließen, und zwar wiederum außerhalb des bebauten Stadtgebietes. Nach Verhandlungen mit dem Magistrat und der Königlichen Regierung in Münster wurde im Frühjahr 1904 ein – unweit der preußischen Landstraße von Recklinghausen nach Haltern gelegenes – Gelände an der Grenze zur Bauerschaft Speckhorn förmlich genehmigt und für geeignet befunden, das in der Größe von rd. 2000 qm von einem ortsansässigen Landwirt angekauft und 1926 durch Zukauf von 5100 qm erheblich erweitert wurde. Auch ein Bodengutachten wurde dafür angefertigt. Die Jüdische Gemeinde nahm für dieses Grundstücksgeschäft einen Kredit auf.

Der neue Friedhof am Nordcharweg wurde in kurzer Zeit hergerichtet und am 7. September 1905 durch Rabbiner Dr. Moses Marx (1876–1924) seiner Bestimmung übergeben. Ein Jahr nach Eröffnung der Recklinghäuser Synagoge an der Limperstraße hatte die Jüdische Gemeinde nun einen zeitgemäßen, mit ausreichend Platz versehenen neuen Begräbnisplatz. Er wurde von Juni 1906 bis August 1941 zur Bestattung jüdischer Gemeindemitglieder aus Recklinghausen und den Nachbarorten genutzt. Bald nach dem Ersten Weltkrieg errichtete die Synagogengemeinde dort auch ein Kriegerdenkmal für 15 gefallene Soldaten aus ihren Reihen. Drei Jahre nach Kriegsende wurde das Monument am 13. November 1921 durch den Bezirksrabbiner Dr. Josef Weiß feierlich eingeweiht, die Inschrift lautet: „Zur Erinnerung an die 1914-1918 fürs Vaterland gefallenen Gemeindemitglieder.“ Das Mahnmal, das bis heute mit Davidstern und Eisernem Kreuz patriotisch-symbolträchtig geschmückt ist, war das erste öffentliche Objekt, das in Recklinghausen an Gefallene des Großen Krieges erinnert.

Der alte Friedhof am Börster Weg, der im Dezember 1904 sein letztes Begräbnis erlebte, blieb zunächst unverändert bestehen und wurde 1928 von Kaufmann Otto Cosmann, dem Nachfahren des Metzgers Jonas Cosmann, ein letztes Mal instandgesetzt. Doch Anfang der 1930er-Jahre, als bereits erste gewalttätige Übergriffe örtlicher Antisemiten zu beobachten waren, wurden 19 verbliebene Grabsteine nebst noch erhaltenen Gebeinen auf den südwestlichen Teil des neuen Friedhofes überführt, wo sie bis heute zu finden sind. Im Jahre 1937 wurde schließlich das Grundstück des alten Friedhofs von der nationalsozialistischen Stadtverwaltung eingezogen und in einen Spielplatz umgewandelt.

Während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft wurde der Jüdische Friedhof am Nordcharweg mehrmals geschändet und nach der Pogromnacht im November 1938 weitgehend verwüstet. Nicht wenige Grabsteine wurden umgestoßen oder in Stücke geschlagen. Spuren davon sieht man noch heute an vielen Grabmälern, deren Inschriften zerstört sind. Das Denkmal für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs überdauerte die NS-Jahre indes unbeschädigt.

107 Begräbnisse hatte es bis Ende 1941 am Nordcharweg gegeben, 80 hebräische Grabinschriften sind bis zu diesem Jahr dokumentiert. Nach dem Zweiten Weltkrieg stellte die kleine Gemeinde heimgekehrter Überlebender ihren Friedhof wieder her. Viele Grabsteine wurden durch die Angehörigen – vielfach von solchen, die nach 1945 ins Ausland emigriert waren – restauriert und wiederaufgerichtet. So wird der Jüdische Friedhof am Nordcharweg seit Juli 1952 wieder regelmäßig für Bestattungen genutzt. Rechts vom Eingang steht das Grabmal des Mannes, dem diese Leistung zu verdanken ist, des Gemeindevorstehers Ludwig de Vries, der 1958 hier begraben wurde. Als Holocaust-Überlebender zurückgekehrt, hatte er mit seiner Ehefrau, Martha geb. Markus, und seiner Mitarbeiterin und Nachfolgerin in der Gemeindeleitung, Minna Aron, die neue Synagogengemeinde aus kleinen Anfängen wiederaufgebaut. Aus Mitteln seines Privatvermögens errichtete er 1948 das Ehrenmal für die 215 aus Recklinghausen stammenden Mordopfer des Holocaust, an dem die Jüdische Kultusgemeinde jedes Jahr am ersten Novembersonntag ein feierliches Totengedenken abhält.

1913, 6. April: Schreiben des Hermann von Chappuis, Unterstaatssekretär im Preußischen „Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten“, an das Königliche Provinzialschulkollegium in Münster betreffend die Befreiung jüdischer Schüler von Prüfungen, die auf einem Samstag/Sabbat liegen nebst Berücksichtigung der Sabbatruhe bei der Terminierung von Prüfungen. Maschinenschriftliche Abschrift, gerichtet an die Städtischen Oberrealschule Recklinghausen (später: Hittorf-Gymnasium, mit Eingangsstempel).

Quelle: Archiv des Hittorf-Gymnasiums, ohne Signatur, Verfasser: Dr. Matthias Kordes, Leiter des Stadt- und Vestischen Archivs Recklinghausen.

Hintergrund: Bereits 1859 beginnt bei der preußischen Schulverwaltung eine Entwicklung, die eine weitestgehende Berücksichtigung jüdische Feiertage im regulären Unterrichtsbetrieb von Volksschulen und höheren Schulen anstrebt und eine entsprechende Unterrichtsbefreiung für jüdische Schüler vorsieht, die christlichen Schulen besuchen. Im Einzelnen wurde in diversen Erlassen und Entscheiden von 1859, 1868, 1884,1894 und 1902 geregelt, das mittels Genehmigung der Schulaufsichtsbehörden jüdische Kinder auf Antrag ihrer Eltern am Sabbat und an Feiertagen vom Schulbesuch zu beurlauben sind, dass aber eine solche Beurlaubung auf den Samstag zu beschränken sind und nicht schon Freitagnachmittag beginnen soll. Ebenso wurde verfügt, dass die Teilnahme am Gottesdienst nicht als Vorbedingung für eine solche Beurlaubung anzusehen sei. Hingewiesen wird mehrmals auch darauf, dass die jeweilige Schule keine Verantwortung für entstehende Lern- und Unterrichtsversäumnisse übernimmt.

Am 6. Mai 1859 hieß es erstmals von Seiten des Preußischen Ministeriums für Unterrichtsangelegenheiten: „Die Annahme, daß es für jüdische Eltern, die ihre Söhne in christliche Schulen schicken, zu den bürgerlichen Pflichten gehöre, dieselben auch sonnabends am Unterrichte teilnehmen zu lassen, und daß deshalb eine Dispensation der Juden für diesen Tag nicht zu gestatten sei, kann als zutreffend nicht angesehen werden. Die Schulverwaltung kann den Ansprüchen solcher Eltern, welche aus religiösen Motiven ihre Söhne am Sonnabend ganz oder für die Stunden des Gottesdienstes vom Schulbesuch entbunden zu sehen wünschen, die gebührende Berücksichtigung nicht versagen.

Demgemäß bestimme ich, daß in den Fällen, wo die Eltern selbst darum nachsuchen, jüdischen Schülern die gedachte Dispensation erteilt werde, wobei erstere darauf hinzuweisen sind, daß die Schule keinerlei Verantwortung für die aus derartigen Schulversäumnissen bei den betreffenden Schülern entstehenden Folgen übernimmt“. (Quelle: Schulverordnungen für den Regierungsbezirk Münster enthaltend Gesetze, gerichtliche Entscheidungen, Erlasse und Verfügungen, bearb. von Dr. Franz Körnig, Arnsberg 1913, S. 974).

Die preußische Schulverwaltung nähert sich dabei einer umfänglichen staatlichen Anerkennung des jüdischen Religionsgesetzes, nach welchen es auch bezüglich des pflichtgemäßen Schulbesuches keine Ausnahmen („Dispensationen“) vom Schreibverbot am Sabbat und von der allgemeinen Sabbatruhe geben kann.

Das Schreiben des Unterstaatssekretärs Hermann von Chappuis vom 6. April 1913 erweitert auf Betreiben des Vorstandes des Allgemeinen Rabbiner-Verbandes in Deutschland die Regularien dahingehend, dass nach Möglichkeit Termine für Prüfungen generell nicht auf einen Samstag bzw. einen Jüdischen Feiertag zu legen oder aber Nachholtermine anzuberaumen sind, zu denen speziell jüdische Schüler – ohne Nachteile befürchten zu müssen und ohne in Widerspruch zu religiösen Vorschriften zu geraten – entsprechende Prüfungen ablegen können.

Weiterführende Links:

Der Patriotismus deutscher Juden im Ersten Weltkrieg

Von Dr. Matthias Kordes, Leiter des Stadt- und Vestischen Archivs Recklinghausen

Gedenkstein für gefallenen Jüdische Soldaten des Ersten Weltkriegs auf dem jüdischen Friedhof am Nordcharweg, Recklinghausen

August 1914: Begeisterung für einen gerechten Krieg

Der Erste Weltkrieg war in besonderer Weise ein jüdischer Krieg: In den Armeen aller Großmächte kämpften zehntausende, ja hunderttausende Juden, die – genauso wie die nicht-jüdischen Kriegs-teilnehmer – in hoher Zahl für ihre jeweiligen Länder ihr Leben verloren.[1] In Frankreich waren ca. 36.000 jüdische Soldaten im Einsatz, in Großbritannien ca. 40.000, in den deutschen Armeen zählte man im Laufe des Krieges 96.000, in der US-Army dienten ab 1917 250.000 Soldaten jüdischen Glaubens, in der zaristischen Armee waren es sogar 650.000.

Diese Tatsachen sind das Ergebnis einer grundlegenden Verbesserung und Modernisierung der jüdischen Verhältnisse im 19. Jahrhundert. Auch in Preußen gab es seit der napoleonischen Zeit einen stetigen Fortschritt der jüdischen Emanzipation, Integration und Assimilierung, die seit dem Edikt vom 11. März 1812 von vielen deutschen Ländern rezipiert wurde und übrigens auch das Militärwesen und die Wehrpflicht der Juden betraf. Hundert Jahre nach der napoleonischen Ära, am Vorabend des Ersten Weltkrieges, waren in Deutschland Ausgrenzung, Unterdrückung und Verfolgung der Juden praktisch kein Thema mehr. Zahlreiche Juden arbeiteten als erfolgreiche Juristen, Mediziner, Beamte, Professoren, Wissenschaftler[2], Kaufleute und Unternehmer. Obwohl nach 1871 der Antisemitismus in national-konservativen Kreisen spürbar anwuchs und jüdischen Soldaten die Offizierslaufbahn größtenteils verwehrt blieb, setzte sich der gesellschaftliche und wirtschaftliche Aufstieg des deutschen Judentums bis 1914 ungehindert fort.

Als der Große Krieg ausbrach, befürworteten alle wichtigen jüdischen Institutionen und Vereine diesen Konflikt. Nicht anders als es die französischen Juden[3] sahen auch die Juden in Deutschland das Kaiserreich, das sie als ihre Heimat betrachteten, in einem gerechten und unverschuldeten Kampf. Auch zahlreiche jüdische Intellektuelle schlossen sich dieser Haltung an. Am 1. August 1914 trat bekanntlich das Deutsche Reich gegen Russland, das begonnen hatte Ostpreußen anzugreifen, in den Krieg ein. Vom selben Tag datiert der berühmte Aufruf des „Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“[4]. Er trägt folgenden Wortlaut: „An die deutschen Juden! In schicksalsschwerer Stunde ruft das Vaterland seine Söhne unter die Fahnen. Dass jeder deutsche Jude zu den Opfern an Gut und Blut bereit ist, die die Pflicht verlangt, ist selbstverständlich. Glaubensgenossen! Wir rufen Euch auf, über das Maß der Pflicht hinaus Eure Kräfte dem Vaterland zu widmen! Eilt freiwillig zu den Fahnen!

Dieses lautstarke nationale Engagement propagierte das liberale Judentum ebenso wie das orthodoxe Judentum und die deutschen Zionisten. Insgesamt meldeten sich etwa 10.000 deutsche Juden als Kriegsfreiwillige. Dass von der wichtigsten jüdischen Organisation in Deutschland schon am 1. August 1914, also noch bevor zwischen Deutschland und Frankreich Kriegszustand herrschte, ein Appell an die Kriegsbegeisterung erging, war kein Zufall: Als Hauptfeind sah man nämlich in den jüdischen Vereinen und Verbänden nicht die Westalliierten (Frankreich und Großbritannien) an, sondern Russland. Der Zar galt als Erzfeind der Juden in Europa. In seinem Reich erkannte man das Zentrum eines repressiven und gewalttätigen Antisemitismus, das den 5,5 Millionen Juden, die dort lebten, nur eine kümmerliche, marginale Existenz ermöglichte – ganz im Gegenteil zu den Lebensumständen der ca. 550.000 Juden in Deutschland, die größtenteils der gebildeten und wohlhabenden bürgerlichen Mittelschicht angehörten.

Die repressiven Verhältnisse im zaristischen Russland wurden als „Moskowitertum“ bezeichnet – unter den liberalen Juden ein Synonym für Rückständigkeit und antisemitische Unterdrückung. Der Grund dafür lag in den blutigen Pogromen in Südrussland und der Ukraine zwischen 1903 und 1905. Neben den Ausschreitungen in Chisinau und in der Gegend von Dnipopetrowsk sind vor allem die antijüdischen Exzesse in Odessa zu nennen, wo seit 1821 immer wieder organisierte Gewalt gegen die ghettoisierten Juden ausgeübt wurde und zuletzt 1905 besonders brutale Aus-schreitungen stattgefunden hatten.

Das Deutsche Reich galt indes als ein Staat, in dem die Assimilierung des jüdischen Lebens und die Koexistenz mit der christlichen Bevölkerungsmehrheit besonders friedlich und fortschrittlich verliefen. Umso widersprüchlicher war es für viele deutsche Juden, dass die Republik Frankreich, das Mutterland der Menschen- und Bürgerrechte auf dem europäischen Kontinent, in welchem die Große Revolution von 1789 auch die Gleichberechtigung und Emanzipation der Juden in Europa eingeleitet hatte, sich im August 1914 als enger militärischer Verbündeter des rückständigen und autokratischen Zarenreiches erwies.[5]

Durch Ausrufung des sog. „Burgfriedens“ durch Kaiser Wilhelm II. am 1. August 1914[6] – sollten alle innenpolitischen und gesellschaftlichen Widersprüche, Spannungen und Konflikte zugunsten nationaler Einheit und Geschlossenheit überwunden werden. Davon versprach man sich auf jüdischer Seite auch das Ende des Antisemitismus. Die deutschen Juden bekannten sich daher besonders nachdrücklich dazu, nichts anderes als ein Teil der deutschen Nation zu sein. Besonders optimistische Vertreter des deutschen Judentums äußerten die Hoffnung, dass man am Ende dieser Entwicklung die Juden als einen Volksstamm wie die Bayern, Westfalen, Sachsen, Schwaben oder Schlesier betrachten würde.

Ludwig Frank: Ein deutscher Politiker und Kriegsfreiwilliger

Der Große Krieg schien endlich die Gelegenheit dafür zu bieten, diese Haltung und diese Eigenschaft beweisen zu können. Zugleich glaubte man, mit einem siegreichen und gerechten Krieg gegen Russland zur Rettung und Befreiung der osteuropäischen Juden beitragen zu können. Von dem Hass und der feindseligen Propaganda, die den Deutschen von Seiten der Franzosen und Briten ab Herbst 1914 entgegengebracht wurde, fühlten sich daher auch die deutschen Juden unmittelbar betroffen.[7]

Ein besonders symbolträchtiges Schicksal verkörpert der Rechtsanwalt Dr. Ludwig Frank aus Mannheim.[8] Er entstammte einer Kaufmannsfamilie aus Lahr in Baden; zu seinen Vorfahren gehörten Händler und Rabbiner. Nachdem er zunächst Abgeordneter im badischen Landtag in Karlsruhe gewesen war, wurde er ab 1907 für die Sozialdemokratische Partei Deutschlands Mitglied des Reichstags in Berlin. Frank setzte sich bis zum Ersten Weltkrieg für die Rechte der Arbeiterschaft, die Förderung der Arbeiter-Jugend und für eine demokratische Reform des Wahlrechts im annektierten „Reichsland“ Elsass-Lothringen ein.

Noch bis wenige Tage vor Ausbruch des Krieges plädierte Frank auch für eine Verbesserung der politischen Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich. Als im Frühjahr 1913 der Reichstag über eine Vergrößerung des Budgets für die Armee debattierte, stimmte er zusammen mit der Sozialdemokratischen Partei gegen eine solche Verstärkung des deutschen Heeres. Ferner nahm Frank als erklärter Gegner des Militarismus und Imperialismus an den internationalen Parlamentarier-Konferenzen 1913 und 1914 in Bern und in Basel teil. Aus diesen Kontakten erwuchs eine persönliche Freundschaft zu Paul Henri d’Estournelles de Constant, dem Anführer der französischen Delegation in Bern und Friedensnobelpreisträger von 1909, ebenso zu Jean Jaurès.

Dennoch gehörte Frank zu insgesamt fünf von knapp 400 Reichstagsabgeordneten, die sich bei Ausbruch des Krieges freiwillig zum Kriegsdienst meldeten. Unzweifelhaft wollte er damit beweisen, dass es weder den Sozialdemokraten noch den deutschen Juden an Patriotismus mangelte. Vor dem Abmarsch an die Front in Lothringen schrieb Frank Ende August 1914 an seine Frau: „Ich habe den sehnlichen Wunsch, den Krieg zu überleben und dann am inneren Ausbau des Reiches mitzuarbeiten. Aber jetzt ist für mich der einzig mögliche Platz in Reih’ und Glied und ich gehe wie alle anderen freudig und siegessicher.“[9]

Frank diente im 2. Badischen Grenadier-Regiment Nr. 110 und fiel bereits am 3. September 1914 im Alter von 40 Jahren westlich der Vogesen bei Nossoncourt in der Nähe von Baccarat. Nicht nur deutschen Zeitungen berichteten über den „Heldentod“ dieses Politikers, auch L’Humanité, damals das Zentralorgan der französischen Sozialisten, druckte am 13. September 1914 eine kurze, aber wohlwollende Notiz über den Tod dieses herausragenden deutsch-jüdischen Sozialdemokraten ab. Sein Grab ist bis heute nicht bekannt. Man darf vermuten, dass Frank als Überlebender des Großen Krieges eine bedeutende politische Karriere in der Weimarer Republik gemacht hätte. Seine Biografie personifiziert in tragischer Weise die deutsch-jüdische Symbiose zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Herbst 1916: Die „Judenzählung“

Die Entwicklung bis 1916 beinhaltete eine steigende Zahl von jüdischen Soldaten in den deutschen Armeen, einen schnell wachsenden Anteil jüdischer Offiziere[10], allerdings auch die unveränderten antisemitische Ressentiments konservativer Kreise an der „Heimatfront“.[11] Als besonderer Erfolg des Engagements der deutschen Juden galt zunächst die Tatsache, dass bis 1918 ca. 30 sogenannte Feldrabbiner eingestellt wurden, obwohl das deutsche Militär, anders als die Armee Österreich-Ungarns, eine solche jüdische Militärseelsorge zunächst gar nicht vorgesehen hatten. Seit Sommer 1915 leistete das preußische Kriegsministerium, das in bestimmten Angelegenheiten für das ganze Deutsche Reich zuständig war, sogar finanzielle Unter-stützung, obwohl diese Militär-Rabbiner ihre Gehälter von den jüdischen Vereinen und Verbänden erhielten.[12]

Die Rabbiner meldeten sich freiwillig für diesen Dienst und waren, nicht anders als die Militärgeistlichen der christlichen Konfessionen, zuständig für die Soldaten im unmittelbaren Front-einsatz. Sie sorgten für Gottesdienste, für koschere Nahrung, sie kümmerten sich um Verwundete und Gefangene. Ebenso organisierten sie Begräbnisse in Frontnähe und benachrichtigten die Angehörigen. In den besetzten Gebieten an der Ostfront waren sie sogar für die jüdische Zivil-bevölkerung zuständig.

Eine schwerwiegende Zäsur ereignete sich jedoch etwa in der Mitte des Kriegsverlaufs, im Herbst 1916. Der Krieg hatte bis dahin seinen vorläufigen Höhepunkt erreicht: Die Schlacht von Verdun tobte ohne Aussicht auf Erfolg schon seit dem 21. Februar, die alliierte Großoffensive an der Somme setzte die deutschen Truppen seit dem 1. Juli massiv unter Druck. Einen Monat zuvor fand zwischen der deutschen und der britischen Flotte am Skagerrak die größte Seeschlacht des Ersten Weltkrieges statt. Ferner brachte seit dem 4. Juni 1916 die sogenannte Brussilow-Offensive die deutschen und österreichischen Streitkräfte im Südwesten der Ukraine in schwere Bedrängnis, zugleich entlastete sie die Franzosen in Verdun.[13] In diesem Zweifrontenkrieg stießen die militärischen und wirtschaftlichen Kapazitäten Deutschlands damit an ihre Grenzen. Die Aus-sichten auf einen Sieg schwanden rapide und die Verluste stiegen immer weiter. Zugleich verschlechterte sich die Ernährungssituation kontinuierlich, die Spannungen und die Unzufrieden-heit in der Bevölkerung wuchsen.[14]

Der „Burgfrieden“ vom August 1914 war damit endgültig verloren. Nationalistische und rechts extreme Kreise, vor allem der sogenannte“ Alldeutsche Verband, suchten von da an einen Sündenbock für die wachsenden Probleme und für die drohende Niederlage. Angestoßen durch diffamierende Berichte in der Presse, ebenso durch Äußerungen des einflussreichen Antisemiten, Journalisten und Reichstagsabgeordneten Ludwig Werner wurde in der deutschen Militär-verwaltung im Herbst 1916 ein ungewöhnlicher Zählvorgang in Gang gesetzt. Durch diesen wollte man die Zahl der kriegsteilnehmenden deutschen Juden ermitteln, und zwar an der Front, in der Etappe und im rückwärtigen Besatzungsgebiet.

Die vom preußischen Kriegsminister Adolf Wild von Hohenborn organisierte „Judenzählung“ vom 11. Oktober 1916 beinhaltete einen umfangreichen Fragebogen. Das Rundschreiben an alle Kommandanturen ging dabei ausdrücklich auf die Gerüchte, Anfeindungen und Vorwürfe ein, nach welchen die Juden angeblich Drückeberger, Feiglinge, Schmarotzer und somit eine unpatriotische und unzuverlässige Minderheit seien.[15] Auch Hitler äußerste sich in seinen 1923 verfassten Memoiren „Mein Kampf“ auf diese Weise, denn nach seiner Verwundung in der Somme-Schlacht verbrachte er für mehrere Monate Urlaub in der Heimat: Bei seinem Aufenthalt in Berlin und München habe er dabei zahlreiche Juden beobachtet, die ein angenehmes Leben außerhalb des Militärdienstes führten.[16]

Doch diese „Judenzählung“, die bis zum 1. Dezember 1916 abgeschlossen werden sollte, wurde nicht vollständig durchgeführt. Ihre provisorischen statistischen Ergebnisse wurden nie offiziell veröffentlicht, weil sie die antisemitischen Spekulationen der deutschen Militäradministration widerlegten. Auch hat sich das Kriegsministerium nie abschließend zu diesem Thema geäußert. Dennoch löste diese statistische Erhebung einen speziellen Kriegs-Antisemitismus aus, der noch lange nach 1918 eine fatale Wirkung zeigte. Ebenso löste sie bei vielen deutschen Juden ein Gefühl von Diskriminierung und Resignation aus. Die uneingeschränkte Zustimmung zum Deutschen Reich erwies sich für viele Juden als vergebliches Bemühen, das Bewusstsein einer besonderen, dauerhaften Nähe zwischen Deutschland und dem Judentum erwies sich im Laufe des Krieges als Täuschung.

Gedenken an die jüdischen Gefallenen in den 1920er-Jahren

Die deutschen Juden konnten den wachsenden Antisemitismus, der seit Herbst 1916 in Deut-schland wieder in die Öffentlichkeit getreten war, nicht mehr aufhalten, die militärische Niederlage vom November 1918 und die Radikalisierung des innenpolitische Klimas in Deutschland beschleunigten diese Entwicklung.[17] Die deutschen Juden nahmen aber das Heft selbst in die Hand, um diesen bedrohlichen Trend aufzuhalten Um jüdische Soldatenschicksale in Ehren zu halten, wurde im Februar 1919 in Berlin der „Reichsbund jüdischer Frontsoldaten“ gegründet.[18]

Initiator war Hauptmann Dr. Leo Löwenstein, ein Physiker aus Aachen. Dieser hatte für die deutsche Artillerie bereits 1913 ein Verfahren zur Messung des Schalls entwickelt, mit dem man feindliche Stellungen akustisch lokalisieren konnte.

Dieser „Reichsbund“, dem in den 1920er Jahren zwischen 30.000 und 50.000 Mitglieder angehörten, war mehr als ein reiner Veteranenverein, er stellte sich auch politischen Aufgaben. In Zusammenarbeit mit dem zivilen „Centralverein“ sollten nämlich den antisemitischen Agitatoren mit seriösen Forschungen über den Einsatz jüdischer Soldaten entgegengetreten werden. Als späte Reaktion auf die sog. Judenzählung entstand daher eine Militärstatistik, die von den wichtigsten jüdischen Verbänden selbst in Auftrag gegeben wurde. Ihre Ergebnisse, welche die anti-semitischen Vorwürfe von 1916 widerlegen sollten, wurden 1921 von Jakob Segall und Heinrich Silbergleit publiziert.[19] Sie sind bis heute Grundlage für die Geschichtsforschung zu diesem Thema. Ihr wichtigstes Resultat: Von den knapp 100.000 Juden, die als deutsche Soldaten an allen Fronten kämpften, starben etwa 12.000. Die Verhältnisse entsprechen durchaus den Gesamtzahlen und Proportionen in den deutschen Armeen. Ca. 78.000 standen in unmittelbarem Fronteinsatz, 18.000 jüdische Soldaten erhielten das Eiserne Kreuz, 2.000 waren Offiziere und 1.200 Militärärzte oder -beamte.[20]

Auf zahlreichen jüdischen Friedhöfen in Deutschland wurden ab 1920 Obelisken, Gedenksteine und Denkmäler für die Gefallenen aus den jüdischen Synagogen-Gemeinden errichtet.[21] Aus Recklinghausen, der Partnerstadt Douais, waren vermutlich nicht mehr als hundert jüdische Soldaten im Kriegseinsatz, aber 15 von ihnen starben, teilweise in vorderster Front auf den Schlachtfeldern an der Somme, am Chemin des Dames, im Bois de Pêtre bei Pont à Mousson und am Hartmannsweilerkopf. Einer von ihnen war sogar Kriegsfreiwilliger. Bereits im November 1921, sechs Jahre bevor die Stadt Recklinghausen eine allgemeine Gedenkstätte errichtete, konnte die jüdische Gemeinde in Recklinghausen ihr eigenes Kriegerdenkmal auf dem Jüdischen Friedhof im Norden der Stadt einweihen.

Die jüdischen Gemeinden und Vereine entwickelten ab 1920 epigrafische Ausdruckformen, die in der Geschichte der abendländischen Emblematik etwas Besonderes darstellen. Auf vielen Ehrenmalen tauchen der Davidstern und das Kreuzzeichen gemeinsam auf: Nicht um zum Ausdruck zu bringen, dass jüdische Soldaten zum Christentum konvertiert waren, sondern um den berühmten Militärorden des Eisernen Kreuzes darzustellen. Die preußischen Traditionen der Ehrenzeichen waren zu Beginn des 19. Jahrhundert nämlich noch viel stärker dem Kreuzzeichen verpflichtet als im napoleonischen Frankreich: Das Eiserne Kreuz war vom preußischen König Friedrich Wilhelm III. im März 1813 im Kampf gegen Napoleon gestiftet worden und sollte an Soldaten aller Dienstgrade verliehen werden. Diese Ordensstiftung wurde im Juli 1870 und im August 1914 erneuert. Nachdem es ab 1914 auch als taktisches Zeichen am Heck und auf den Flügeln von Kampfflugzeugen auftauchte, entwickelte sich dieses Kreuz im 20. Jahrhunderts bekanntlich zum allgemeinen Erkennungszeichen für das deutsche Militär. Diesem fühlten sich auch die jüdischen Veteranen von 1914-1918 eng verbunden.

Fazit

Der Patriotismus der deutschen Juden im frühen 20. Jahrhundert wurde von dem bedeutenden deutschen Historiker Golo Mann folgendermaßen beschrieben: Schließlich bestand das Gros des deutschen Judentums […] weder aus polnischen Kaftan-Juden, noch aus überintellektuellen, Frankreich verherrlichenden Literaten. Es war anpassungswillig, es war im späten 19. Jahrhundert, im frühen 20. Jahrhundert längst gründlich angepasst, dieses rheinische und schlesische und ostpreußische, dieses badische, schwäbische, bayerische Judentum. Es war deutsch in seinen Tugenden, deutsch in seinen Untugenden, es war patriotisch, es war überwiegend konservativ. Diese jüdischen Kaufleute, Ärzte, Gelehrte, diese jüdischen Kriegsfreiwilligen von 1914 – es gab gar nichts Deutscheres. Sie konnten darum auch einfach nicht begreifen, einfach nicht glauben, was ihnen seit 1933 geschah oder drohte. Das vor allem erklärt, warum so viele nicht bei Zeiten Deutschland verließen, sondern blieben, bis es zu spät war[22].

[1]              Vgl. hierzu Ulrike Heikaus: Krieg! Juden zwischen den Fronten 1914-1918, Ausstellungskatalog, hg, vom Jüdischen Museum München, München 2014.

[2]           Ein besonderes Beispiel ist der bedeutende Chemiker und Nobelpreisträger Fritz Haber (1868-1934). Zusammen mit Carl Bosch entwickelte er schon 1909/10 ein Verfahren, durch welches Ammoniak auf synthetischem Weg, d.h. aus dem Stickstoff in der Luft, hergestellt werden kann. War diese Erfindung zunächst hauptsächlich für die Produktion von Kunstdünger gedacht, verhinderte sie aber auch, dass das Deutsche Reich aus Mangel an Artillerie-Munition bereits im Oktober 1914 kapitulieren musste. Der synthetische Ammoniak ersetzte nämlich den Salpeter aus Chile. Dieser Rohstoff stand wegen der britischen Blockade für die Sprengstoffherstellung nicht mehr zur Verfügung. Im Herbst 1914 begannen Habers grundlegende Experimente mit Chlorgas, die im Frühjahr 1915 zum erstmaligen Einsatz von Giftgas an der Ypern-Front führten. Dietrich Stoltzenberg, Fritz Haber. Chemiker, Nobelpreisträger, Deutscher, Jude. Weinheim 1998; Margit Szöllösi-Janze, Fritz Haber (1868-1934). Eine Biografie. Munich, 1998.

[3]           https://www.deutschlandfunk.de/erster-weltkrieg-als-juedische-soldaten-fuer-deutschland.886.de.html?dram:article_id=289401; Philippe Efraim Landau, Juifs francais et allemands dans la Grande Guerre, in : Vingtième Siècle. Revue d’histoire No. 47, juillet-septembre 1995, S. 70-76; Philippe Efraim Landau, Les Juifs de France et la Grande Guerre. Un patriotisme républicain 1914-1941, Paris, 1999; https://www.spiegel.de/geschichte/juedische-soldaten-im-ersten-weltkrieg-a-975473.html; https://www.sueddeutsche.de/politik/juedische-soldaten-im-ersten-weltkrieg-undank-des-vaterlandes-1.2301076

[4]           Avraham Barkai, Wehr Dich! Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens 1893-1938, Munich, 2002.

[5]           Landau, Juifs français et allemands dans la Grande Guerre, op. cit., S. 73-74.

[6]           https://de.wikipedia.org/wiki/Burgfriedenspolitik;  Zur Überlieferung der Rede vgl. https://www.1000dokumente.de/index.html?c=dokument_de&dokument=0081_kwi. Der Kaiser sagte wörtlich: Geehrte Herren! In schicksals-schwerer Stunde habe ich die gewählten Vertreter des deutschen Volkes um mich versammelt. Fast ein halbes Jahrhundert lang konnten wir auf dem Wege des Friedens verharren. Versuche, Deutschland kriegerische Neigungen anzudichten und seine Stellung in der Welt einzuengen, haben unseres Volkes Geduld oft auf harte Proben gestellt. […] . Mit schwerem Herzen habe ich meine Armee gegen einen Nachbarn mobilisieren müssen, mit dem sie auf so vielen Schlachtfeldern gemeinsam gefochten hat. […] Auf Sie, geehrte Herren, blickt heute, um seine Fürsten und Führer geschart, das ganze deutsche Volk. Fassen Sie Ihre Entschlüsse einmütig und schnell. Das ist mein innigster Wunsch. Sie haben gelesen, m. H., was ich zu meinem Volke vom Balkon des Schlosses aus gesagt habe. Hier wiederhole ich: ich kenne keine Partei mehr, ich kenne nur Deutsche! Zum Zeichen dessen, daß sie fest entschlossen sind, ohne Parteiunterschied, ohne Stammes-unterschiede, ohne Konfessionsunterschied durchzuhalten mit mir durch dick und dünn, durch Not und Tod, fordere ich die Vorstände der Parteien auf, vorzutreten und mir das in die Hand zu geloben.

[7]           Leo Winz, Der Krieg als Lehrmeister, in: Ost und West. Illustrierte Monatsschrift für das Gesamte Judentum, XIV. Jahrgang, Heft 9-12, September–Dezember 1914, Sp. 625-640.

[8]           Zum Folgenden Karl Otto Watzinger, Ludwig Frank. Ein deutscher Politiker jüdischer Herkunft. Mit einer Edition Ludwig Frank im Spiegel neuer Quellen, bearbeitet von Michael Caroli, Jörg Schadt und Beate Zerfaß, Sigmaringen, 1995; Knut Bücker-Flürenbrock, Der vergessene „Flügelmann Frank“. Mit dem badischen Sozialdemokraten Ludwig Frank fiel 1914 ein wichtiger Repräsentant des gemäßigten Flügels seiner Partei, in: Junge Freiheit, Ausgabe vom 25. November 2011; Michael Berger, Eisernes Kreuz, Doppeladler Davidstern. Juden in deutschen und österreichisch-ungarischen Armeen. Der Militärdienst jüdischer Soldaten durch zwei Jahrhunderte, Berlin, 2010, S. 84-102; Günter Regneri, Denkmal: An wen erinnern wir uns. Oder warum nicht? Das Beispiel Ludwig Frank, in Archivmitteilungen. Archiv der Arbeiterjugend II/2014, S. 22-27.

[9]           Reichsbund jüdischer Frontsoldaten (Hg.), Kriegsbriefe gefallener deutscher Juden. Berlin, 1935, S. 41.

[10]           Die Offizierslaufbahn bis zum Rang eines Generals zu absolvieren, war den deutschen Juden weiterhin nicht möglich, anders als in den Streitkräften des British Empire. John Monash (1865–1931), ein australischer General mit jüdischer Abstammung aus Krotoszyn (Preußen, ab 1918: Polen), kommandierte am Ende des Krieges das australisches Armee-Corps. Unter seinem Befehl schlugen die Alliierten Ende April 1918 die deutschen Truppen aus Villers-Bretonneux zurück. Auch am erfolgreichen alliierten Großangriff bei Amiens am 8. August 1918 war er beteiligt. http://hamelfriends.free.fr/monash.htm; https://fr.wikipedia.org/wiki/John_Monash; Geoffrey Serle, John Monash. A Biography, Melbourne, 2002, S. 1-24 et 326-370; http://adb.anu.edu.au/biography/monash-sir-john-7618.

[11]           Egmond Zechlin, Die deutsche Politik und die Juden im Ersten Weltkrieg. Göttingen, 1969; Werner Angress, Das Deutsche Militär und die Juden im Ersten Weltkrieg, in Militärgeschichtliche Mitteilungen 19 (1976), S. 98-105. Helmut Berding, Histoire de l’antisemitisme en Allemagne, Paris, 1991, S. 154-175; David J. Fine, Jewish Integration in the German Army in the First World War. New York, 2012.

[12]           Michael Berger, „…liebt nächst Gott das Vaterland“. Jüdische Soldaten und ihre Rabbiner im Ersten Weltkrieg, in Der Schild 1 (2007), S. 11-13. Vgl. hierzu auch: https://www.deutschlandfunkkultur.de/hochdekoriert-dann-deportiert.984.de.html?dram:article_id=153473

[13]           https://de.wikipedia.org/wiki/Brussilow-Offensive

[14]           Diese strategische Krise wurde erst durch das sogenannte Hindenburg-Programm überwunden, mit dem ab September 1916 neue Ressourcen für die Rüstungswirtschaft mobilisiert werden konnten, ebenso durch eine ca. 70 km lange Frontbegradigung zwischen Arras und Soissons („Operation Alberich“), durch die ab Februar/März 1917 erhebliche militärische Kräfte freigesetzt wurden.

[15]           https://de.wikipedia.org/wiki/Judenzählung; Ulrich Sieg, Judenzählung, in Gerhard Hirschfeld / Gerd Krumeich / Irina Renz (Hg.), Enzyklopädie des Ersten Weltkriegs, Paderborn, 2004, S. 599-600; Michael Berger: Judenzählung und Zerfall des Burgfriedens, in Eisernes Kreuz, Doppeladler Davidstern, op. cit., S. 50-106. Jacob Rosenthal, Die Ehre des jüdischen Soldaten. Die Judenzählung im Ersten Weltkrieg und ihre Folgen. Frankfurt am Main / New York, 2007, S. 40-10. Vgl. hierzu auch: https://www.zeit.de/2016/42/antisemitismus-im-ersten-weltkrieg-deutsches-reich; https://www.deutschlandfunkkultur.de/erster-weltkrieg-stolz-und-vorurteil.1079.de.html?dram:article_id=294059 Zur aktuellen Forschung vgl. auch: https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-6001 und: https://www.kas.de/documents/252038/253252/7_dokument_dok_pdf_13476_1.pdf/d6ce037e-05ec-38d0-5648-cd20c95bbdb7?version=1.0&t=1539663530954

[16]           Hitler polemisierte in seinem Buch „Mein Kampf“ folgendermaßen gegen die Juden: Die Kanzleien waren mit Juden besetzt. Fast jeder Schreiber ein Jude und jeder Jude ein Schreiber. […] Die Spinne begann, dem Volke langsam das Blut aus den Poren zu saugen. […] So befand sich schon im Jahre 1916/17 fast die gesamte Produktion unter der Kontrolle des Finanzjudentums, zitiert nach Thomas Weber, Hitlers erster Krieg Der Gefreite Hitler im Weltkrieg. Mythos und Wahrheit. Berlin 2012, S. 231; Zum Antisemitismus im Ersten Weltkrieg im Allgemeinen vgl. auch: http://www.antisemitismus.net/geschichte/weltkrieg.htm.

[17]           https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-6001

[18]           Ulrich Dunker, Der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten 1919-1938. Geschichte eines jüdischen Abwehrvereins. Düsseldorf, 1977.

[19]           Jacob Segall, Die deutschen Juden als Soldaten im Kriege 1914/18, in http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/freimann/content/titleinfo/1917022. Zur archivischen Überlieferung vgl. https://zentralarchiv-juden.de/bestaende/verschiedenes/deutsche-juden-im-ersten-weltkrieg/verzeichnis/ Vgl. hierzu auch: https://juedische-geschichte-online.net/quelle/jgo:source-133

[20]           http://www.volksbund.de/informationen/deutsche-juedische-soldaten.html.

[21]           Tim Grady, The German Jewish Soldiers of the First World War in History and Memory. Liverpool, 2011, S. 55-122; https://www.welt.de/geschichte/article117672645/12-000-juedische-Soldaten-fielen-fuer-Kaiser-Wilhelm.html

[22]           Der Antisemitismus. Wurzeln, Wirkung und Überwindung, Frankfurt am Main, 1961, S. 15. Golo Mann (1909-1984 war der Sohn des berühmten Schriftstellers und Nobelpreisträgers Thomas Mann, dessen Ehefrau Katja jüdischer Abstammung war. Golo Mann emigrierte im November 1933 nach Frankreich und lehrte an der École normale supérieure de St. Cloud und an der Université Rennes, bevor er und seine Familie 1939 in die USA auswanderten. Seine Memoiren sind auch in fran-zösischer Sprache erschienen: Une jeunesse allemande, Paris, 1998.

In jungen Jahren an der „Spanischen Grippe“ gestorben: Einträge in die standesamtlichen Sterberegister vom 20. Oktober bzw. 7. November 1918 über den Tod von Siegmund und Else Rosenthal aus Recklinghausen

Quelle: Stadt- und Vestisches Archiv Recklinghausen, Bestand Standesamt I, Sterberegister, Jg. 1918, Nr. 735 und Nr. 847; „Recklinghäuser Zeitung“, Ausg. vom 21. Oktober 1918,  Verfasser: Dr. Matthias Kordes, Leiter des Stadt- und Vestischen Archivs Recklinghausen.

Else Rosenthal (geboren am 13. Januar 1898 in Waltrop) und Siegmund Rosenthal (geb. am 23. Januar 1901 ebendort) waren Geschwister und zwei von fünf Kindern des Ehepaares Albert Rosenthal und Lina, geb. Seligmann aus Werden. Die Familie Rosenthal stammte aus Waltrop und war dort im 19. Jahrhundert alteingesessen und weitverzweigt. Ihre Angehörigen lebten und arbeiteten dort hauptsächlich als Geschäftsleute und Metzger. Die Rosenthals zogen von Waltrop erst nach Herten, 1907 dann nach Recklinghausen, wo sie bis 1921 auf der Breite Straße 16, neben der „Alten Apotheke“ der Familie Strunk, lebten.

Der frühe Tod der Geschwister Rosenthal (er: mit 17 Jahren, sie im 20. Lebensjahr) war kein tragischer Zufall. Beide wurden typische Opfer der sog. Spanischen Grippe, der schlimmsten Pandemie der Neuzeit, die allein in Europa 2-3 Millionen Todesopfer forderte, weltweit waren es womöglich 30-50 Millionen Menschenleben. Das Virus tötete nicht vornehmlich alte, vorerkrankte Menschen oder Kleinkinder, deren Immunsystem noch nicht voll entwickelt war, sondern vor allem Jugendliche und jüngere Menschen im Alter von 15-35 Jahren, die bei schweren Verläufen einer Lungenentzündung erlagen, meist wenige Tage nach der Infektion.

Das Virus und die Krankheit kamen nicht aus Spanien. Aber von dort, vor allem aus Madrid, wurde im Mai 1918 erstmals über die Grippe berichtet, weil die Presse nicht von Kriegsbehörden kontrolliert oder zensiert wurde. So bürgerte sich damals der vermeintliche Herkunftsbegriff schnell ein. Erste Krankheitsfälle sind vielmehr in US-Militärcamps schon Anfang März 1918 dokumentiert worden von da an wanderte das Virus, das möglicherweise ursprünglich ein Vogelgrippe-Virus war, mit hunderttausenden US-Soldaten nach Westeuropa, wo die Amerikaner zusammen mit den Briten und Franzosen nach vier Jahren Kampf das Deutsche Reich endgültig besiegen sollten. In den Reihen der über den Atlantik nach Frankreich transportierten US-Truppen gab es im Frühling 1918 auch erste Grippe-Tote.

Eine erste Welle der Influenza erreichte Deutschland im Juni 1918, eingeschleppt durch sog. Fronturlauber, verwundete Soldaten in Lazaretten und Kriegsgefangene von der Westfront. Die erste Welle, die bis Mitte Juli reichte, war hochinfektiös, aber noch vergleichsweise wenig lebensbedrohlich, obwohl die Sterblichkeit in der Bevölkerung bereits ein leichten Anstieg zu verzeichnen hatte. Im August und September 1918 schien diese Sommergrippe, die hunderttausenden Soldaten in den Schützengräben bereits schwer zugesetzt hatte, überwunden, was ein fataler Trugschluss war. Zum Monatswechsel September/Oktober war die Spanische Grippe plötzlich wieder da; ein mutiertes, noch gefährlicher gewordenes Virus erreichte, wieder von Westen kommend, Deutschland.

Die etwa sechs Wochen der zweiten Welle, die von Anfang Oktober bis Mitte November reichten, waren in Deutschland, eingeleitet durch einen deutlichen Wetterwechsel, die schlimmsten. Die damalige Medizin war machtlos; durchgreifende Vorkehrungen gegen die weitere Ausbreitung der Pandemie wurden bis auf Schulschließungen nicht getroffen. Ab Freitag, dem 11. Oktober 1918, berichtete die Presse, darunter auch die Recklinghäuser Zeitung regelmäßig von der Influenza in Deutschland; ihre verheerende Wirkung ließ sich von nun an nicht mehr verschweigen. Die Lokalpresse in Recklinghausen vermeldete in besagter Tagesausgabe folgendes: Auch in hiesiger Gegend macht sich erneut die Grippe breit. In den Schulen und auf den Arbeitsplätzen fehlen zahlreiche Erkrankte an den gewohnten Plätzen. Da die Krankheit nicht selten bösartige Formen annimmt, so ist Vorsicht am Platze. In schweren Fällen versäume man nicht, rechtzeitig den Arzt aufzusuchen.

Agenturmeldungen gingen von da an aus Berlin, Potsdam, Swinemünde, Dresden, Chemnitz, Breslau. Leipzig, Stuttgart, Aachen, Mönchengladbach, Bielefeld, ja aus ganz Deutschland ein. Besonders verheerend muss die Grippe in Oberitalien (Mailand, Turin, Genua) gewütet haben. Zahlreiche inländische Nachrichten berichteten von erheblich eingeschränkten Eisen- und Straßenbahnverkehr sowie von Elektrizitäts-, Gas- und Wasserwerken, die ihren Betrieb nur noch notdürftig aufrechterhalten konnten. Die kritische Infrastruktur war in Deutschland, das den Krieg militärisch bereits verloren hatte, auf das Äußerste belastet.

Im Verlauf der Woche vom 14. bis 19. Oktober schlossen in Deutschland vielerorts die Schulen; für Recklinghausen ist diese Maßnahme laut Recklinghäuser Zeitung beginnend mit Montag, dem 21. Oktober, erfolgt und dauerte bis zum 18. November. Pressemeldungen über Hunderte erkrankter Kinder in den Großstädten machten ab Mitte Oktober die Runde; ein Bericht der Recklinghäuser Zeitung über die Grippe in Berlin spricht für sich: Berlin, 12. Oktober: Die Grippeerkrankungen sind in Groß-Berlin noch dauernd im Zunehmen begriffen. Von dem städtischen Medizinalamt verlautet, dass in einzelnen Schulen die Zahl der erkrankten Kinder so groß ist, dass im Anfang der nächsten Woche mit der Schließung einiger Schulen gerechnet werden muss. Die Krankenhäuser sind in Berlin fast überall überfüllt, so werden z.B. im Krankenhaus Westend nur noch Grippekranke angenommen, die bereits 41 Grad Fieber aufweisen (…).

De facto grassierte die Grippe zur gleichen Zeit auch in den Millionenstädten der USA, in ganz Europa, in Arabien, Indien, China und im südlichen Afrika, zuletzt erreichte sie auch Australien und Neuseeland. Über einige europäische Städte liegen verlässliche Opferzahlen vor: Allein zwischen dem 14. und dem 23. Oktober starben in Köln nach offiziellen Quellen 324 Personen. Die Jahressterblichkeit von 1918 lag in München nach neuesten Forschungen um ca. 2.200 Menschen höher als in den Jahren 1914-1917. 1918-1919 starben in der bayerischen Hauptstadt mutmaßlich 3.000 Personen an der Grippe, in Genf waren es im gleichen Zeitraum 1.155. Im holländischen Dordrecht, der späteren Partnerstadt Recklinghausens mit seinerzeit 55.000 Einwohnern, warf der städtische Verwaltungsbericht die gerundete Zahl von 300 Grippetoten aus. Zeitgenössische Darstellungen aus Düsseldorf berichteten davon, dass von Anfang Oktober bis zum 5. November 1918 757 an der Grippe und ihre Nachkrankheiten, Lungen- und Rippenfellentzündung (starben)“. In Dortmund waren es rund 650 Tote, in Essen knapp tausend.

Derart präzise Zahlen und Verlautbarungen liegen für Recklinghausen nicht vor, auch kann nicht auf Verwaltungsakten der drei Recklinghäuser Hospitäler (Prosper, Elisabeth, Knappschaft) oder auf solche der örtlichen Betriebskrankenkassen zurückgegriffen werden. Die verlässlichste Quelle für die Beantwortung der Frage nach den herbstlichen Opferzahlen in Recklinghausen sind die Sterberegister der Standesämter Recklinghausen und Recklinghausen-Süd. Man entnimmt der Zählung der Einträge, dass die Sommergrippe in der Tat noch die ,harmlosere’ Variante war, dass die Mortalität im Monat Oktober dagegen signifikant aus dem Rahmen des Üblichen fiel: Beginnend mit dem 9. Oktober starben statt etwa drei Menschen pro Tag zwischen fünf und zehn Personen täglich, ein hoher Anteil davon in jüngeren Jahren (15 bis 35 Jahre) und weiblichen Geschlechts: ein typisches Indiz dafür, dass die Spanische Grippe im Spiel war. Diese Zahlen blieben bis Anfang November bestehen und normalisierten sich erst wieder im Dezember.

Bezeichnend sind die zeitgleich (d.h. von der zweiten Oktober- bis zur zweiten Novemberwoche 1918) sprunghaft vermehrten Todesanzeigen, die in der Recklinghäuser Zeitung im Gedenken an die Verstorbenen von den Hinterbliebenen veröffentlicht wurden. Die Texte sprachen nahezu gleichlautend von „kurzer, schwerer Krankheit“, von „kurzem, schwerem Leiden“, von „kurzem, schwerem Krankenlager“, ein deutlicher Reflex auf die Tatsache, dass die Grippe im Herbst 1918 schon nach Ablauf weniger Tage ein tödliches Ende nehmen konnte. Auch für den 17-jährigen Siegmund Rosenthal, der im von Julius Isacsohn geführten Damen- und Herrenmoden-Geschäft „Gebrüder Alsberg“ auf der Breite Straße 6-8 arbeitete, erschienen am 21. Oktober 1918 zwei derartig formulierte Traueranzeigen.

Abgesehen von einem ersten Anstieg bereits im Juli 1918 fällt die Verdopplung der Todeszahlen im Oktober 1918 auf. Hinzukommt der stark vergrößerte Anteil jüngerer Personen. Vom 9. Oktober bis zum 11. November 1918, vier Wochen, in welchen die Grippe auch in Recklinghausen eine deutliche Übersterblichkeit hervorgerufen hat, werden knapp 90 Todesfälle von Frauen und Mädchen im Alter zwischen 15 und 40 Jahren standesamtlich registriert, dem stehen „nur“ knapp 50 gestorbene Männer im gleichen Lebensalter gegenüber: Ein Ungleichgewicht, das nicht allein durch die kriegsbedingte Abwesenheit vieler Männer im wehrfähigen Alter aufgefangen werden kann, das hingegen Anlass zu Vermutungen darüber gibt, die Spanische Grippe habe mehrheitlich weibliche Opfer gefordert. So lag die Gesamtzahl der Influenza-Opfer in Recklinghausen wohl zwischen 150 und 200 Toten allein in den Monaten Oktober und November 1918 – in ganz Deutschland starben 1918/19 vermutlich zwischen 250.000 und 300.000 Menschen an der Grippe.

Siegmund und Else Rosenthal fielen der Grippe genau auf dem Höhepunkt der tödlichen zweiten Welle zum Opfer, die weltweit die Leichenhallen und Friedhöfe füllte. Ihr Abflauen in der zweiten Novemberwoche 1918 fiel in der öffentlichen Wahrnehmung zusammen mit der Nachrichtenflut über das Ende des Krieges und des Kaiserreiches, die Revolution, die Arbeiter- und Soldatenräte, die Räumung besetzter Gebiete, das Zurückfluten der Fronttruppen und anderes mehr. Diese dramatische Zäsur sorgte dafür, dass die Grippe und ihre Opfer sehr rasch aus der Erinnerung wichen. Eine dritte Welle kam im Februar 1919, sie unterschied sich aber kaum mehr von einer saisonalen Grippe, die ohne deutlich vermehrte Sterbefälle auskam.

Ein weiteres Mitglied der damaligen Synagogengemeinde Recklinghausen starb an der Spanischen Grippe: der 18-Jährige Herbert Heumann, Sohn des Kaufmanns Isidor Heumann, wohnhaft Bochumer Straße 139, und zwar am 21. Oktober 1918. Alle drei fanden ihr Grab auf dem neuen Friedhof am Nordcharweg. Die Mutter der beiden Geschwister, Lina Rosenthal, starb bereits 1933 in Recklinghausen, Vater Albert und Bruder Paul Rosenthal wurden 1942 bzw. 1943 in Auschwitz ermordet.

Weiterführende Links:

1919, 20. Januar: Antisemitismus bei den ersten demokratischen Wahlen in ganz Deutschland. Mitteilung der Deutschen Volkspartei (DVP), Ortsgruppe Recklinghausen, in der „Recklinghäuser Zeitung“ über Zurückweisung und Widerlegung anonym gedruckter antisemitischer Plakate, die nach Absicht unbekannter Urheber mit der DVP und den Wahlen zur Weimarer Nationalversammlung in Verbindung gebracht werden sollten.

Quelle: „Recklinghäuser Zeitung“, Ausgabe vom 20. Januar 1919, Verfasser: Dr. Matthias Kordes, Leiter des Stadt- und Vestischen Archivs Recklinghausen.

Das Wochenende des 18./19. Januar 1919 war geschichtsträchtig. Es standen weitreichende Weichenstellungen für die innen- und außenpolitische Entwicklung Deutschlands und Europas an. Am Samstag, 18. Januar 1919, trafen sich im französischen Außenministerium erstmals Vertreter der Siegermächte des Ersten Weltkrieges, um über einen Friedensvertrag zu verhandeln. Die volle öffentliche Aufmerksamkeit in Deutschland richtete sich aber auf einen bedeutenden innenpolitischen Vorgang: nämlich auf die Wahlen zur Weimarer Nationalversammlung am Sonntag, dem 19. Januar 1919. Deren Hauptziel sollte die Erarbeitung einer demokratischen, freiheitlichen und republikanischen Verfassung für ganz Deutschland sein, die auch den Juden volle Gleichberechtigung bescheren würde.

Grundlage für die Wahl vom 19. Januar 1919 war die mit Gesetzeskraft versehene Reichswahlverordnung vom 30. November 1918, die von den Lokalzeitungen am 8. Januar 1919 ganzseitig und in vollem Wortlaut veröffentlich wurde. Auch Frauen und Soldaten sollten nun wählen können, das Wahlalter wurde von 25 auf 20 Jahre herabgesetzt. Nie zuvor gab es so viele Wahlberechtigte: knapp 37 Millionen Menschen, von denen 83 Prozent zur Wahl gingen.

Ende November 1918 hatte sich in Deutschland ein neues, erweitertes Parteienspektrum etabliert. Neben den bereits etablierten Parteien (Zentrum, SPD, USPD) stellten sich 1919 auch in Recklinghausen Parteien zur Wahl, die sich in den ersten Wochen nach dem Zusammenbruch der monarchischen Herrschaft in Deutschland formiert hatten (vor allem: DDP, DVP und DNVP), eine Ausnahme bildete nur die zur Jahreswende 1918/19 entstandene KPD, die sich zunächst dem parlamentarischen System völlig verweigerte.

Der politische Liberalismus trat ab Ende 1918 in zwei Parteien auf: Erstens in der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP), die auch von vielen Jüdinnen und Juden in Deutschland gewählt wurde, und zweitens in Gestalt der nationalliberalen DVP, die am 15. Dezember 1918 gegründet wurde und zu deren Vorstand auch der jüdische Rechtsanwalt Jakob Riesser aus Frankfurt am Main zählte. Ihre wohlhabende, konservative und nicht-katholische Wählerschaft bestand im Wesentlichen aus Industriellen, Bankiers, Angehörigen des Bildungs- und Wirtschaftsbürgertums und aus höherrangigen Beamten, die in mittleren und größeren Städten beheimatet waren. Die DVP, die in ihren Anfängen das Staatsmodell der konstitutionellen Monarchie favorisierte und unterschwellig auch völkisch-nationalistisches Gedankengut zuließ, verhielt sich gegenüber der neuen republikanischen Staatsform zunächst reserviert und kritisch. Unter dem Vorsitz von Gustav Stresemann, des späteren Reichsaußenministers, näherte sie sich aber ab 1919 dem modernen, demokratischen Staatskonzept der Weimarer Republik mehr und mehr an.

In Recklinghausen luden die Parteien zu zahlreichen Vorträgen und Kundgebungen in Wirtshäuser ein, im Anzeigenteil der Lokalzeitungen häufte sich Wahlwerbung. Der Januar 1919 offenbarte, forciert durch den Schock der deutschen Niederlage vom November 1918, das Schüren von Verschwörungstheorien über den plötzlichen Zusammenbruch des Kaiserreiches, durch bürgerkriegsähnliche Ereignisse in Berlin, aber auch eine Radikalisierung politischer Umgangsformen. Am rechten Rand des politischen Spektrums, vertreten durch die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) und unterstützt durch den Alldeutschen Verband bzw. den im Februar 1919 gegründeten „Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund“, wurde diffamierender und polarisierender Wahlkampf betrieben. In diesem Zusammenhang machte sich auch an manchen Orten in Westfalen aggressiver, lautstarker, schon in der zweiten Hälfte des Krieges virulent gewordener Antisemitismus breit, der sich gegen die sozialistischen Bestrebungen der Rätebewegung, gegen jüdische Bürger, die Novemberrevolution 1918, ihre vermeintlichen „Hintermänner“ sowie gegen jüdische Politiker der linken und liberalen Parteien richtete.

Recklinghausen blieb von dieser Entwicklung ebenfalls nicht verschont. Offenbar gab es in der Woche vor den Wahlen zur Nationalversammlung antisemitische Hetzparolen auf anonym gehaltenen politischen Plakaten, die man als gefälschte Druckerzeugnisse mit dem Wahlkampf der DVP in Verbindung bringen wollte. Die örtlichen Vertreter der DVP, angeführt von Josef Heitmann, dem Direktor der Recklinghäuser Filiale der „Essener Kreditanstalt“ (Königswall 24), sah sich sogar dazu genötigt, am Tag nach der Wahl zur Nationalversammlung (d.h. am Montag, dem 20. Januar 1919) in der „Recklinghäuser Zeitung“ eine öffentliche Stellungnahme zu platzieren, in welcher man die in „verletzender“ bzw. „verhetzender Weise“ geschehene Agitation „gegen unsere jüdischen Mitbürger“ ausdrücklich verurteilte und die DVP als Partei darstellte, welche die „Einigkeit des gesamten Volkes“ propagierte.

Die Wahl zur Nationalversammlung verlief in Recklinghausen ohne Zwischenfälle; gewählt wurden nicht Einzelpersonen, sondern „Listen“ von sog. Wahlvorschlägen einer bestimmten Partei. Direktkandidaten, die für einen bestimmten Stadt- oder Landkreis zu wählen waren, sah das Wahlrecht somit nicht vor. Recklinghausens Ergebnisse hatten bei einer vergleichsweise hohen Wahlbeteiligung von rund 78 Prozent ein Gepräge, das durch örtliche Sozialmilieus bestimmt war: der bürgerliche Norden grenzte sich deutlich vom montanindustriellen Süden ab, vorherrschend in der Stadt waren der Katholizismus und seine politisch-gewerkschaftlichen Organisationen. Die Wahlergebnisse in Zahlen: SPD: 37,2% (Reich: 37,9%), Zentrum: 44,9% (Reich: 19,7%), DDP: 8,2% (vermutlich auch von vielen Juden in Recklinghausen gewählt; Reich: 18,5%), DVP: 7,4% (Reich: 4,4%). Auffallend ist das schwache Abschneiden dezidiert antisemitisch-rechter bzw. linker Parteien: DNVP: 1,8% (Reich: 10,3%), USPD: 0,4% (Reich: 7,6%).

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1919, 11. August: Die Weimarer Reichsverfassung gewährt den Synagogengemeinden in Deutschland erstmals den Status einer „Körperschaft öffentlichen Rechts“ und stellt sie damit den katholischen und evangelischen Kirchenorganisationen gleich

Quelle: Die Deutsche Nationalversammlung im Jahre 1919 in ihrer Arbeit für den Aufbau des neuen deutschen Volksstaates, hg. von Eduard Heilfron, 7. Band, Berlin 1920, S. 730-731 (Stadt- und Vestisches Archiv Recklinghausen, Sign.: B IV 219 (VII)), Verfasser: Dr. Matthias Kordes, Leiter des Stadt- und Vestischen Archivs Recklinghausen.

Am 11. August 1919 trat Weimarer Reichsverfassung in Kraft. Sie gab ganz Deutschland eine neue, von Grund auf demokratisch-konstitutionelle Ordnung. Der liberale preußische Jude Professor Dr. jur. Hugo Preuß (1860–1925) hatte im Auftrag des Ministerpräsidenten Friedrich Ebert in Berlin zwischen Dezember 1918 und Januar 1919 einen ersten grundlegenden Entwurf für diese neue Verfassung erarbeitet, die durch die Verhandlungen der sog. Weimarer Nationalversammlung von Februar bis August 1919 ihre endgültige Gestalt annahm.

Die beiden wichtigen sog. Religionsartikel 137 und 138 der Weimarer Reichsverfassung regeln erstmals für ganz Deutschland das rechtliche Verhältnis zwischen dem Gesamtstaat und den Religionsgesellschaften; die Verfassung des deutschen Kaiserreiches von 1871 hatte noch keine Regularien zu diesem Sachverhalt enthalten. Die wichtigste Bestimmung, die das auf Distanz und Kooperation ausgelegte Miteinander beider Instanzen für ganz Deutschland ordnet, betrifft das Institut der „Körperschaft öffentlichen Rechts“, d.h. einen abstrakten Rechtsbegriff, der in der deutschen Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts entstanden war und hier zu ersten Mal Verfassungsrang erhielt.

In der Weimarer Nationalversammlung wurde diese allgemein gehaltene Formel lebhaft diskutiert, jedoch in der Reichsverfassung mit keiner näheren inhaltlichen Bestimmung versehen. Er besagt jedenfalls, dass Religion nicht nur Privatsache ist, sondern in ihrer organisierten und institutionalisierten Form auf gesicherter rechtlicher Grundlage auch Raum unter den öffentlichen Einrichtungen des Staates und der Gesellschaft erhalten soll. Der Begriff beschreibt damit die besondere, förderungswürdige Qualität einer rechtsfähigen, mitgliedschaftlich organisierten und auf Dauer angelegten örtlichen oder regionalen Verwaltungseinheit einer etablierten Religionsgemeinschaft.

Ein solcher Rechtsstatus ermöglicht den betreffenden Religionsgemeinschaften, im eigenen Zuständigkeitsbereich Autonomie auszuüben, d.h. organisatorische Fragen (darunter auch die der Mitgliedschaft) eigenständig und ohne Aufsicht oder Einmischung des Staates zu regeln, auch dürfen solche Körperschaften rechtmäßig und ohne staatliche Ermächtigung von ihren Mitgliedern Steuern erheben bzw. regelmäßige Abgaben einziehen, als Arbeitgeber Dienstverhältnisse begründen. d.h. die Rechtsstellung von Beschäftigten regeln, übergeordnete, also überörtliche Strukturen (Verbände) bilden und Ämter nach eigenen dienstlichen Gesichtspunkten vergeben.

Damit heben sich die Körperschaften öffentlichen Rechts, die unabhängig von ihren Vorständen oder Mitgliedern als juristischen Personen auftreten und auch prozessfähig sind, deutlich von eingetragenen Vereinen ab, für deren Verfassung die deutsche Gesetzgebung einheitliche Vorgaben entwickelt hat. Die Weimarer Reichsverfassung propagiert ab 1919 nicht nur das Grundrecht der Religionsfreiheit (Artikel 133), sondern darüber hinaus auch die freie Verwirklichung religiöser Angelegenheiten und Belange mittels bestimmter Organisationen und Zusammenschlüsse (Artikel 137–138). Auch bringt sie den Religionsgemeinschaften Vermögensschutz entgegen, der jedweder staatlichen Ambition hinsichtlich der Säkularisation materieller Besitzstände von Religionsgemeinschaften einen Riegel vorschieben soll.

Die beiden Verfassungsartikel enthalten indes keine namentliche Aufzählung der im Deutschen Reich anerkannten religiösen Körperschaften öffentlichen Rechts. Zunächst und vornehmlich betrafen diese Regelungen die beiden großen christlichen Amtskirchen mit ihren althergebrachten Hierarchie-Ebenen der (Erz-) Bistümer bzw. Landeskirchen und Pfarreien. Aber nun wurden auch bestehende Jüdische Kultusgemeinden in ihrer Gesamtheit unter die sog. altkorporierten Religionsgemeinschaften gezählt. Damit bestand – erstmals in der deutschen Geschichte – gegenüber der staatlichen Sphäre eine grundsätzliche rechtliche Parität zwischen Kirchen- und Synagogengemeinden.

Ein wichtiger Nebenaspekt dieser beiden Verfassungsnormen besteht im Übrigen darin, dass die deutschen Juden ab 1919 nicht unter nationale Minderheiten wie Dänen, Polen, Masuren, Sorben oder Kaschuben fielen, die in Artikel 113 der Weimarer Reichsverfassung einen eigenen Schutzstatus für ihre „freie volkstümliche Entwicklung“ erhielten. Vielmehr wurden die jüdischen Gemeinden nebst ihrer Selbstverwaltungskompetenz – mit Verfassungsrang – einheitlich im Deutschen Reich den christlichen Kirchen gleichgestellt. Für die Synagogengemeinde Recklinghausen fielen damit die letzten rechtlichen Unterschiede weg, die bis dahin noch zu den katholischen und evangelischen Pfarreien der Stadt bestanden. Die Bindung der deutschen Juden an die junge Demokratie in Deutschland wurde nach dem Ersten Weltkrieg dadurch erheblich gestärkt.

Die in der Bundesrepublik Deutschland geltenden, nur summarisch formulierten Bestimmungen des Grundgesetzes über „das Recht der Religionsgemeinschaften“ (Artikel 140), auf die sich natürlich auch die Jüdische Kultusgemeinde Recklinghausen berufen kann, stützen sich ausdrücklich, ausschließlich und vollumfänglich auf den bahnbrechenden Artikel 137 der Weimarer Reichsverfassung von August 1919.

Weiterführende Links:

1920 – Auszug aus dem Entwurf einer dem Oberpräsidenten der preußischen Provinz Westfalen zur Genehmigung vorzulegenden neuen Satzung für die Synagogengemeinde Recklinghausen vom 20. September 1920 

Quelle: Stadt- und Vestisches Archiv Recklinghausen, Bestand III, Nr. 1104, Bl. 77 r.

Abschrift!

Satzungen der Synagogengemeinde Recklinghausen

festgesetzt gemäß des Gesetzes vom 23. Juli 1847 über

die Verhältnisse der Juden im preußischen Staate.

———————————–

Abschnitt I.

pp.

Abschnitt II.

Von der Vertretung und Verwaltung der

Gemeinde-Angelegenheiten

§3

Die Anzahl der Repräsentanten wird auf 9, die der Stellvertreter auf 3 bestimmt.

Sie müssen sich selbstständig ernähren, unbescholten, männlichen Geschlechts, mindestens 30 Jahre alt und seit wenigstens 5 Jahren steuerzahlende Mitglieder der Synagogengemeinde Recklinghausen sein. Vater und Sohn, Schwiegervater und Schwiegersohn, sowie Brüder dürfen nicht zugleich Mitglieder der Repräsentanten-Versammlung sein. Sind dergleichen Verwandte zugleich gewählt, so wird der Ältere allein zugelassen.

§4

Die Repräsentanten und Stellvertreter werden auf6 Jahre gewählt. Ausscheidende können wiedergewählt werden, sind aber nach Ablauf von 3 Jahren zur Annahme einer  Neuwahl nicht verpflichtet, die als Repräsentanten einberufenen Stellvertreter indeß nur dann, wenn sie wirklich 2 Jahreim Amte waren.

Abschnitt IV.

Von dem Vorstande der Synagogen-Gemeinde

§21

Der Gemeindevorstand besteht aus drei Mitgliedfern, die Vorsteher heißen, sowie aus einem Stellvertreter. Auf die Wählbarkeit findet § 3 Abs. 2 und 3 Anwendung.

Im Falle der Behinderung eines Vorstandsmitgliedes tritt der Stellvertreter ein. Beim gänzlichen Ausscheiden eines Vorstandsmitgliedes wird der Stellvertreter auf so lange in den Vorstand einberufen, als der Aus geschiedene selbst noch im Amt gewesen sein würde.

§22

Der Vorstand wählt aus seiner Mitte einen Vorsitzenden auf drei Jahre. Dieser regelt die Verteilung der Geschäfte nach eigenem Ermessen. Er beruft und leitet die Sitzungen. In Behinderungsfällen geht der Vorsatz auf das im Amte älteste Vorstandsmitglied über.

p.p

Recklinghausen, den 23.9.1920

der Vorstand:                                                 die Repräsentanten:

gez[eichnet] Unterschriften                           gez[eichnet] Unterschriften

13. November 1921: Erinnerung an die Gefallenen des Ersten Weltkrieges aus Recklinghausen am neuen Mahnmal auf dem Jüdischen Friedhof 

Quelle: „Recklinghäuser Zeitung“, Ausgabe vom 14. November 1921, Verfasser: Dr. Matthias Kordes, Leiter des Stadt- und Vestischen Archivs Recklinghausen.

In den ersten Jahren nach Ende des Ersten Weltkrieges gab es in Deutschland noch keine landesweit vereinheitlichte, vom Reich, den Ländern und den Kommunen mitgestaltete Gedenkkultur hinsichtlich der Opfer und Gefallenen des Ersten Weltkrieges. Ein Volkstrauertag, der regelmäßig und öffentlich am zweiten Sonntag vor Advent begangen wird, war noch nicht etabliert. Es gab auf lokaler Ebene Versammlungen und Trauerveranstaltungen meist auf Friedhöfen, die sich am Datum des Kriegsendes, d.h. des Waffenstillstandes vom 11. November 1918 orientierten, wiewohl auf den Friedhöfen in Deutschland ja so gut wie keine Gräber deutscher Soldaten des Ersten Weltkrieges zu finden waren.

Auch in Recklinghausen wählte man diese Vorgehensweise; auf eine amtlich ermittelte Übersicht über Zahl und Namen aller Kriegstoten aus Recklinghausen konnte man allerdings noch nicht zurückgreifen. Aus gegebenem Anlass kamen also Oberbürgermeister Sulpiz Hamm (seit 12. September 1919 im Amt, von August 1914 bis November 1918 selbst Offizier an der Westfront), Vertreter des Magistrates und der Stadtverordnetenversammlung sowie bestimmter Vereine (hier: Kriegervereine, Ortsgruppen des Vereins ehemaliger Kriegsgefangener sowie des Einheitsverbandes der deutschen Kriegsbeschädigten und Hinterbliebenen) zusammen, und zwar nicht im Rathaus, sondern auf drei Friedhöfen im Recklinghäuser Norden. Dort sollten Kränze niedergelegt sowie Trauergesänge, Reden und Gebete gehalten werden. Die Besonderheit des 13. November 1921 bestand darin, dass die Synagogengemeinde Recklinghausen auf ihrem seit 1904 bestehenden Friedhof am Nordcharweg der Öffentlichkeit ihr neues Mahnmal präsentierte, das für Recklinghausen das erste große und öffentlich sichtbare Zeichen des Gedenkens an die Kriegsgefallenen darstellte.

Die „Recklinghäuser Zeitung“ berichtete am Montag, dem 14. November darüber, dass sich die Trauerversammlung am Sonntagmorgen (13. November 1921) ab 8 Uhr erst auf dem evangelischen Friedhof an der Halterner Straße (eingeweiht 1903) einfand und dann

[…] „zum israelischen Friedhofe“ [weiterging], „wo im Anschluss an die Gedenkfeier gleichzeitig die Enthüllung des von der israelischen Gemeinde für die im Kriege gefallenen Gemeindeangehörigen errichteten Denkmals stattfand. Das Denkmal, in Sandstein gehauen – auf der Vorderseite sind die Namen der Gefallenen eingehauen – stellt eine recht schöne, künstlerische Leitung und eine würdige Form der Kriegerehrungen dar. Es ist nach dem Entwurfe von Architekt Schwieters aus der Werkstatt der Firma Lohmann und Frankenstein hervorgegangen. Der Vorsitzende des Vorstandes der Synagogengemeinde Herr Katz[1] eröffnete die Feier mit einem kurzen Hinweis auf ihren Zweck und ihre Bedeutung. Kantor Soffe sang vom Psalm 103 die Verse 15–17.[2] Dann folgte die Gedenkrede des Rabbiners Dr. Silberberg.[3] Wie er mitteilte, sind 16 Mitglieder aus der israelischen Gemeinde auf dem

Felde der Ehre geblieben, nicht einer habe sein Grab in heimischer Erde gefunden, daher könne man nicht an ihren Gräbern ihrer gedenken, die Erinnerung an sie solle dies Denkmal wachhalten. Er knüpfte sodann an die Worte der Schrift an: Wo Liebe und Treue sich begegnen, da umfangen sich Gerechtigkeit und Friede. Liebe und Treue, beides haben unsere Helden sterbend geübt und beides sollen auch wir lebend bestätigen, ob es auch Opfer kostet. Um dazu neuen Mut zu schöpfen, nicht um zu klagen, sind wir hier zu dieser Feier versammelt. Nach einem hebräischen Gebet für die Seelenruhe der Toten[4] erfolgte die Kranzniederlegung durch die gleichen Herren wie auf dem evangelischen Friedhofe; der Männerchor trug zwei Lieder vor, dann setzte sich der Zug in Bewegung zum katholischen Friedhofe […].“


[1]           Richard Katz, Repräsentant der Synagogengemeinde Recklinghausen, vgl. hierzu: Opferbuch Verzeichnis | Stadt Recklinghausen.

[2]          „Ein Mensch ist in seinem Leben wie Gras, er blüht wie eine Blume auf dem Felde; wenn der Wind darüber geht, so ist sie nimmer da, und ihre Stätte kennet sie nicht mehr. Die Gnade aber des H*RRN währt von Ewigkeit zu Ewigkeit über denen, die ihn fürchten, und seine Gerechtigkeit auf Kindeskind“

[3]          Dr. Moritz Silberberg, geb. a, 16. Dez. 1867 in Posen, gest. März 1932 in Berlin. Abitur in Posen, theologisches Studium in Halle und Berlin; Rabbinatszeugnis 1893, Religionslehrer in Beuthen/Oberschlesien; Rabbiner in der Kreisstadt Grätz (Reg.-Bez. Posen), in der Kreisstadt Schrimm (Reg.-Bez. Posen), zweiter Rabbiner an der Neuen Synagoge Posen; ab Juni 1921 Nachfolger des Dr. Joseph Weiß beim Verein zur Wahrung des überlieferten Judentums in der Provinz Westfalen in Recklinghausen, ab 1928 Rabbiner und Religionslehrer in Berlin; Mitglied in der Vereinigung der traditionell-gesetzestreuen Rabbiner Deutschlands, im Bund jüdischer Akademiker und im Deutschen Reichsverband jüdischer Religionslehrer. vgl. hierzu: Biografisches Handbuch der Rabbiner. hg. von Michael Brocke und Julius Carlebach. Teil 2: Die Rabbiner im Deutschen Reich 1871–1945, berab. v. Katrin Nele Jansen; Bd. 2: Landau–Zuckermann, München 2009, S. 572. (online: BiogrHB_Rabbiner_Teil2_1_Titel.qxp (steinheim-institut.de).

[4]         Gemeint ist das Kaddisch: vgl. hierzu: Das Kaddisch-Gebet – talmud.de; Kaddisch – Wikipedia; Das jüdische Kaddisch-Gebet – Leben, Tod und Inspiration (Archiv) (deutschlandfunkkultur.de)

1923, 12. Februar: Zeitungsanzeige über die Einleitung gerichtlicher Schritte gegen unbekannte Verleumder des Recklinghäuser Textilkaufmanns Otto Cosmann

Quelle: Stadt- und Vestisches Archiv Recklinghausen, Bestand Altregistratur Einwohnermeldeamt, Verfasser: Dr. Matthias Kordes, Leiter des Stadt- und Vestischen Archivs Recklinghausen.

Anfang 1923 stand das Ruhrgebiet im Mittelpunkt europäischer Politik. Es ging um unerfüllte deutsche Reparationsverpflichtungen, die sich aus dem Friedensvertrag von Versailles ergaben. Unter dem Vorwurf vorsätzlich ausgebliebener deutscher Lieferungen von Kohle, Holz, Telegrafenstangen und Pflastersteinen besetzte ab dem 11. Januar 1923 eine mehr als 60.000 Mann starke französisch-belgische Streitmacht nahezu das gesamte Ruhrgebiet. Schon bald nach dem Einmarsch waren über 2.000 französische Soldaten in Recklinghausens stationiert.

Um sich auf internationaler Bühne nicht dem Vorwurf einer völkerrechtswidrigen militärischen Aggression auszusetzen, wurde diese Maßnahme als bewaffnete Eskorte einer Kommission von 72 französischen, belgischen und italienischen Ingenieuren und Technischen Beamten deklariert: Diese sollte den Zustand von Zechen, Kokereien und Eisenbahnen prüfen und für französische und belgische Ansprüche nutzbar machen. Seit der Londoner Konferenz von August 1922 galt nämlich das Ruhrgebiet mit seiner leistungsstarken Montanindustrie als einträgliches Pfand für unbefriedigte alliierte Forderungen gegen das Deutsche Reich.

Die empörte deutsche Öffentlichkeit, die sich in einer unschuldigen Opferrolle sah, sprach hingegen von Ruhreinbruch und Ruhrkampf, ja sogar von Ruhrkrieg und Ruhrschlacht; feindselige Propaganda feuerte die Stimmung auch in Recklinghausen immer weiter an. In nationalistisch aufgeheizter Atmosphäre suchten völkisch-rechtsradikale Gruppierungen die Gelegenheit, antisemitische motivierte Gerüchte und Verleumdungen in Umlauf zu bringen: Es hieß hinter vorgehaltener Hand, national „unzuverlässige“ Juden im Ruhrgebiet würden – ähnlich wie auch polnischstämmige Bergleute – heimlich mit der völkerrechtswidrig agierenden Besatzungsmacht bzw. deren Spitzel und Agenten kollaborieren und zur Steigerung eigenen Profits lukrative Geschäfte mit den Eindringlingen machen.

Am 15. Januar 1923 wurde Recklinghausen von französischen Truppen besetzt. Die Recklinghäuser Kaufmannschaft und die Gewerbetreibenden hatten sich am 7. Februar 1923 darauf geeinigt, keine Geschäftskontakte mit französischen Militärs mehr zu pflegen, woraufhin der Stadtkommandant, Divisionsgeneral Laignelot, erhebliche Repressionen in Gang setzen ließ. Vieles spricht dafür, dass sich auf Betreiben anonymer Kreise dieser Boykottbeschluss vom 7. Februar nun gezielt gegen das Haus Cosmann richten sollte, und zwar durch üble, rufschädigende Nachrede im Sinne von Verrat und Kollaboration.

Dessen Chef Otto Cosmann reagierte darauf, indem er sich umgehend auch juristisch gegen diese haltlosen Lügen und Hetzreden wehren wollte. Er tat das nicht zum ersten Mal: Im Frühjahr 1920 war nämlich bereits kolportiert worden, die Cosmanns paktierten mit den Kommunisten von der sog. Roten Ruhrarmee, auch damals ging der Geschädigte gerichtlich dagegen vor. Im Februar 1923 wiederum bat Cosmann die Recklinghäuser Öffentlichkeit per Zeitungsannonce um Mithilfe bei Ermittlung unbekannter Verleumder und lobte Belohnungen für sachdienliche Hinweise aus. Die auffallend hoch bezifferten Geldbeträge waren freilich der damaligen Inflation geschuldet; die Entwertung der Mark-Währung, deren Parität zum US-Dollar Mitte Februar 1923 bei 27.800 : 1 stand, nahm nach Beginn der Ruhrbesetzung einen immer dramatischeren Verlauf. Über Gang und Ergebnis eines Gerichtsverfahrens, das bei erwiesener Verleumdung lt. § 187 Strafgesetzbuch (in der Fassung von 1871) bis zu zwei Jahre Haft gegen den Übelredner hätte bedeuten können, ist indes nichts weiter bekannt.

Otto Cosmann wurde am 3. Januar 1871 in Recklinghausen geboren, er gehörte in dritter Generation der seit 1815 (siehe unter 1815 und 1816) in Recklinghausen nachweisbaren und ansässigen Recklinghäuser Händlerfamilie Cosmann an, deren Begründer Jonas Cosmann ursprünglich Viehhändler in Castrop war. Otto Cosmann legte 1889 die Abiturprüfung am Gymnasium Petrinum ab, leistete Militärdienst und absolvierte seine kaufmännische Ausbildung u.a. in Bremen und München. 1905 wurde er Geschäftsführer des bereits 1867 gegründeten Textilkaufhauses Cosmann am Markt 11 (in einer damaligen Geschäftsanzeige hieß es: „Manufaktur- und Modewaren, Damen- und Herrenkonfektionen, Aussteuer, Gardinen“). Zusammen mit seinem Vater David Cosmann jun. führte er das Textilhaus bis 1929 zu hohem Ansehen und – bei anspruchsvoller architektonischer Neugestaltung des Kaufhauses – zu wirtschaftlicher Blüte; die Entwicklung der Einkaufsstadt Recklinghausen ist bis 1929 maßgeblich und unmittelbar mit der Familiengeschichte Cosmann verbunden.

Ebenfalls 1905 heiratete Otto Cosmann Anna geb. Weyl aus Elberfeld, wo in der Konfektionsindustrie jüdische Unternehmerfamilien schon seit dem 19. Jahrhundert eine besondere Rolle spielten. Aus der Ehe gingen drei Kinder hervor: Luisa, Lilli und Fritz. 1928 engagierte er sich für den Erhalt der Reste des Jüdischen Friedhofs am Börster Weg, 1929 verkaufte er sein Handelsunternehmen samt Kaufhaus an die Firma Althoff (Karstadt AG) und zog ins Rheinland, und zwar auf die Rondorfer Straße 9, gelegen im vornehmen Villenvorort Köln-Marienburg. Im April 1933 jedoch musste Otto Cosmann seine 1929 rechtmäßig erworbenen Vermögensanteile der Karstadt AG zurückerstatten, 1939 emigrierte er mit seiner Familie in die Niederlande und überlebte den Holocaust versteckt in Brüssel. 1948 erfolgte von dort aus die Emigration nach Israel, wo er 1963 im Kibbuz Yagur (Bezirk Haifa, gegründet 1922) starb.

Literatur:

Georg Möllers: Die Cosmanns: Der vergebliche Patriotismus einer liberalbürgerlichen jüdischen Familie aus Recklinghausen, in: Vestischer Kalender 2014, S. 167-180.

1927, 17. Oktober: Karteikarte des Einwohnermeldeamtes Recklinghausen für den aus Hüls (Landgemeinde Recklinghausen) zugezogenen Moses (Max) Schaffer, geboren am 16. Juli 1893 in Porohy (Rajon Bohorodtschany, östliches Galizien, ehem. Österreich-Ungarn)

Quelle: Stadt- und Vestisches Archiv Recklinghausen, Bestand Altregistratur Einwohnermeldeamt, Verfasser: Dr. Matthias Kordes, Leiter des Stadt- und Vestischen Archivs Recklinghausen.

Ursprünglich hatte der 1893 geborene Moses Schaffer (Moshe Szaffer) die österreichische Staatsangehörigkeit, da das 1772 konstituierte sog. Kronland Galizien-Lodomerien zum cisleithanischen Reichsteil des Kaiser- und Königreiches Österreich-Ungarn gehörte; 1918, bei Neugründung des polnischen Staates, erwarb Moses Schaffer von Amts wegen die polnische Staatsbürgerschaft, die bei seinem Umzug nach Recklinghausen 1927 auch vom Einwohnermeldeamt Recklinghausen so dokumentiert wurde.

Sein Heimatort Porohy war ein kleines ostgalizisches Dorf am nördlichen Rand der Karpaten (heute in der westukrainischen Oblast Iwano-Frankiwsk, vormals Stanislawów, gelegen). Schaffer gründete mit der 1919 erfolgten Eheschließung mit Hudes genannt Hella geb. Odze-Tuch eine Familie, und zwar im 175 km entfernten Drohobycz, einer boomenden Mittelstadt von ca. 27.000 Einwohnern, die ab 1850 Verwaltungssitz der gleichnamigen österreichischen Bezirkshauptmannschaft und ab 1919 Kreisstadt in der neu eingerichteten polnischen Wojewodschaft Lwow (Lemberg; ukrainisch: Lwiw) war. Beginnend mit ca. 1850 war in Drohobytsch und Boryslaw eine schnell wachsende, moderne und für Österreich-Ungarn wirtschaftlich und strategisch bedeutende Petroleum- und Erdöl-Industrie entstanden (Jahresförderung 1910: 2,1 Millionen Tonnen), in der auch zahlreiche Juden Beschäftigung fanden, sei es als Unternehmer, als Kaufleute oder auch als Öl-Arbeiter an den Bohrtürmen.

Vor dem Ersten Weltkrieg machten die Juden mit ca. 10.000 Personen fast die Hälfte der Bevölkerung von Drohobytsch aus. Die Jüdische Gemeinde, die im späten 19. Jahrhundert durch Engagement in der Erdöl-Industrie zu Wohlstand gekommen und stark angewachsen war, unterhielt dort ein eigens Krankenhaus, ein Waisenhaus und eine große Synagoge. Im Ersten Weltkrieg wurde die Stadt jedoch in erheblichem Maße zerstört, in den Wirren des polnisch-sowjetischen Krieges verarmte sie nach 1919 weiter.

In Drohobytsch wurden in der Familie Schaffer von 1920 bis 1923 drei Kinder geboren: Cila (*17. Januar 1920), Salka (*18. Januar 1921) und Emanuel (*11. Februar 1923). Moses genannt Max Schaffer, der ebenfalls in der Erdöl-Branche tätig war, wanderte um 1926 ins nördliche Ruhrgebiet aus. Seine zeittypische Migrationsbiografie stimmt überein mit derjenigen zahlreicher anderer Juden aus Galizien, die nach dem Ersten Weltkrieg aus wirtschaftlichen Gründen und/oder wegen antisemitischer Erfahrungen ins deutschsprachige Mitteleuropa zogen. Zunächst wohnte Moses Schaffer in Hüls (heute ein Stadtteil Marls), ab Herbst 1927 dann in Recklinghausen, zunächst allein zur Untermiete auf dem Börster Weg bzw. auf dem Oerweg. Um 1928 ist ihm seine Familie nach Recklinghausen gefolgt, 1929 ist sie in einer Mietwohnung auf der Paulusstraße 26 nachgewiesen, wo Moses Schaffer als Handelsvertreter der Fa. Julius (Juda) Menschenfreund, der ebenfalls aus dem Porohy stammte, tätig war. Im August 1929 wurde in Recklinghausen noch eine dritte Tochter geboren: Rosa Schaffer.

Die Familie Schaffer verließ aus politischen Gründen schon im April 1933 Recklinghausen und ging nach Metz (Frankreich), später nach Saarbrücken, Mitte der 1930er-Jahre schließlich gemeinsam wieder zurück in ostpolnisch-galizische Drohobytsch, das ab Oktober 1939 unter sowjetische Besatzungsherschaft kam. Diese Entscheidung hatte ab Herbst 1941 katastrophale Folgen, da die Familie bald darauf ins Ghetto Stanislawów deportiert und später, ca. 1943, in einem der NS-Vernichtungslager ermordet wurde – bis auf einen: Emanuel Schaffer, dem es durch eine außergewöhnliche Flucht- und Migrationsbiografie gelang, den Holocaust zu überleben und über verschiedene Zwischenaufenthalte 1950 nach Israel auszuwandern. Dort begann er in den 1960er-Jahren eine professionelle Fußballer-Karriere, die ihn schließlich zum berühmtesten Fußballtrainer des Landes machte. Emanuel Schaffer, der in seinen späteren Jahren privat und offiziell mehrmals Recklinghausen besuchte, starb am 30. Dezember 2012 in Ramat haScharon, Israel.

 

Weiterführende Literatur und Links:

Lorenz Peiffer / Moshe Zimmerman: Emanuel Schaffer. Zwischen Fußball und Geschichtspolitik. Eine jüdische Trainerkarriere, Bielefeld 2021.

10. Juni 1928: Einweihung des Lohtor-Mahnmals zu Ehren der aus Recklinghausen stammenden Gefallenen des Großen Krieges 1914–1918

Quelle: Stadt- und Vestisches Archiv Recklinghausen, Bestand III, Nr. 990: Einweihung des Ehrenmals, Verfasser: Dr. Matthias Kordes, Leiter des Stadt- und Vestischen Archivs Recklinghausen.

Die Kriegsniederlage vom November 1918, die bei den meisten Deutschen als Schock, Trauma und Schande empfunden wird, verursacht Ratlosigkeit über das künftige Totengedenken. Der verlorene Krieg, das Ende des Kaisertums, der als zutiefst ungerecht empfundene Friedensvertrag, die ungeheure Zahl der Gefallenen, die wirtschaftliche Not und die innenpolitischen Wirren werfen die Frage auf, welchen Sinn das millionenfache Sterben überhaupt hatte. So vergehen mehrere Jahre, bevor man sich in Deutschland Gedanken über öffentliche Formen von Trauer und Gedenken macht. Aber anders als in Paris wird in Berlin niemals ein nationales Denkmal für die gefallenen Soldaten des Weltkrieges errichtet.

Am 28. Februar 1926 wird in ganz Deutschland zum ersten Mal ein „Volkstrauertag“ begangen. Im Einvernehmen mit den katholischen und evangelischen Bischöfen wählt die Reichsregierung einen politisch „neutralen“ Feiertag des Kirchenjahrs aus, nämlich den Sonntag „Reminiscere“ in der Fastenzeit. Der traumatische Tag des 11. November, d.h. des Waffenstillstandes von 1918, spielt in Deutschland keine Rolle bei der Erinnerung an den Großen Krieg. Auch in Recklinghausen legen Vertreter der Stadt auf dem katholischen, dem evangelischen und dem jüdischen Friedhof Kränze nieder, auch wenn sich dort nur wenige Soldatengräber befinden.

Im Herbst 1926 wird in Recklinghausen das Projekt einer zentralen städtischen Gedenkstätte wiederbelebt. Die Stadtverwaltung wählt einen neuen Standort aus: An der Südseite des sog. Lohtor-Friedhofes soll ein Areal geschaffen werden, das ein schlichtes Ehrenmal und eine große Versammlungsfläche aufweist. Anstelle einer monumentalen Kriegerskulptur sollen an einer schlichten Mauer auf Bronzeplatten die Namen sämtlicher Kriegstoten aus Recklinghausen verzeichnet werden. Ausreichend große Quadersteine findet man in Resten der abgetragenen mittelalterlichen Stadtbefestigung. Von Herbst 1926 bis Frühjahr 1927 drucken die Zeitungen alphabetische Listen der Gefallenen ab. Auch veröffentlichen sie mehrere Aufrufe an die Stadtbevölkerung, die Namen ihrer toten Angehörigen bei der Stadtverwaltung zu melden, wo man immer noch keinen vollständigen Überblick über die Gesamtheit der Kriegssterbefälle hat. Die Resonanz ist jedoch gering; weiterhin herrscht Unklarheit über die endgültige Zahl der Kriegstoten und das Schicksal von vermissten Soldaten. 1927 beginnen die Bauarbeiten, die Bevölkerung spendet Geld dafür, auch der „Reichsbund jüdischer Frontsoldaten“ steuert dazu bei.

Knapp zehn Jahre nach Ende des Großen Krieges – und sieben Jahre, nachdem die Jüdische Gemeinde Recklinghausen ihren Gefallenen auf dem Friedhof am Nordcharweg bereits ein eigenes Denkmal gesetzt hatte, ist es so weit: Am Sonntag, dem 10. Juni 1928, wird das Denkmal am Lohtor feierlich eingeweiht. Auf acht Bronzetafeln stehen dort die Namen von 2.279 Soldaten aus Recklinghausen, Unterschiede zwischen Religionen und Konfessionen werden bei deren Verzeichnung nicht gemacht. Ihre große Anzahl und die entstehenden Kosten haben die Fertigstellung des Monumentes lange verzögert. Nun versuchen auch in Recklinghausen die Politiker, dem Krieg und der Niederlage einen nachträglichen Sinn zu geben: In der Rede des Oberbürgermeisters Sulpiz Hamm ist von ewiger Dankbarkeit gegenüber den Toten, von soldatischer Tapferkeit, Pflichterfüllung und Treue bis in den Tod die Rede: Wie eine lebende Mauer hätten die Kämpfer an den Fronten gestanden, um die Heimat zu schützen, vor Okkupation zu bewahren und die Einheit des Deutschen Reiches zu verteidigen.

Unter den Ehrengästen und prominenten Vertretern des gesellschaftlichen Lebens in Recklinghausen befindet sich selbstverständlich auch Isidor Horwitz, Prediger und Kantor der Synagogengemeinde Recklinghausen, sowie der Vorsitzender des Synagogenvorstandes, Rechtsanwalt und Notar Isaac Bachrach. Auch die damals bekannten Namen der jüdischen Gefallenen aus Recklinghausen finden auf den Tafeln des Lohtor-Mahnmals volle Berücksichtigung. Sie lauten in alphabetischer Reihenfolge:

Adler, Albert

Beermann, Georg Lakob

Blumenthal, Julius

Buxbaum, Julius

Friedenberg, Oskar

Goldberg, Jonny

Hamlet, Georg

Hirsch, Paul Philipp

Josef, Felix

Meyer, Alfred

Richter, Alfred

Rosenfeld, Hans

Wallach, Siegfried

Weichselbaum, Felix

Weis, Walter

 

Weiterführende Links:

Shoa

Eine Zeittafel und eine Bildtafel zeigen, in welchem Rahmen, zeitlich und gesetzlich, diese Periode für die Juden in Deutschland verhängnisvoll war.

1933

01.04. Boykott aller jüd. Geschäfte durch die SA. Ausschaltung aller „nicht“arischer Beamter

Reichskulturkammer-Gesetz, Schrift-Leiter-Gesetz: Ausschaltung der Juden

1935

Wehrgesetz: Arische Abstammung Voraussetzung für den Heeresdienst.

15.09. Sondersitzung: Beschluss der antisemitischen „Nürnberger Gesetze“, des Reichsbürgergesetzes, „Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“.

1938

Die jüd. Gemeinden verlieren den Status der Körperschaft des öffentlichen Rechts und werden in private Vereine verwandelt.

Verordnungen gegen „Tarnungen“ jüd. Betriebe, über Registrierungen jüd. Betriebe, Anmeldung jüd. Vermögens.

Einführung einer speziellen Kennkarte für Juden.

„Jüdische Vornamen“, falls nicht schon aus dem Vornamen die Zugehörigkeit zum Judentum erkennbar ist; es ist Sara bzw. Israel.

Approbation jüd. Ärzte erlischt, jüd. Rechtsanwälte müssen aus dem Dienst ausscheiden.

Reisepässe von Juden werden mit einem „J“ gekennzeichnet.

„Reichskristallnacht“ staatlich organisiertes Progrom gegen die Juden.

Göhring-Konferenz: Sühneleistung der Juden in Höhe von einer Milliarde Reichsmark, Ausschaltung der Juden aus dem Wirtschafts- und Kulturleben. Verhaftung von ca. 26.000 jüd. Männern.

Jüd. Kinder vom Schulbesuch allgemeiner Schulen ausgeschlossen.

Arisierung jüd. Geschäfte, Betriebe; d.h. Zwangsverkauf an Nichtjuden.

In der „Reichskristallnacht“ vom November 1938 setzten SA-Trupps die Synagoge in der Limperstraße in Brand; jüdische Geschäfte wurden geplündert, Wohnungen demoliert, deren Bewohner misshandelt und inhaftiert. Die ausgebrannte Synagoge wurde tags darauf vom Stadtrat als „abbruchreif“ eingestuft, ihr Turm zum Einsturz gebracht. Im Sommer 1939 übereigneten Vertreter der Kultusgemeinde mehrere gemeindeeigene Grundstücke, darunter auch das der Synagoge, der Kommune Recklinghausen.

 

 

 

 

 

 

Quelle: Synagoge nach dem Pogrom am 10. November 1938 (Stadtarchiv, aus: recklinghaeuser-zeitung.de)

1939

Aufhebung des Mieterschutzes für Juden

Hitler prophezeit vor dem Reichstag die Auslöschung der jüd. Rasse in Europa, sollte es zu einem Krieg kommen.

Schaffung von „Judenhäusern“

Ausgehbeschränkungen

Beschlagnahme von Radiogeräten

1941

Einführung des Judensterns im Reich.

Auswanderungsverbot

Vermögen deportierter und ausgewanderter Juden verfällt dem Reich.

1942

Verbot der Benutzung öffentl. Verkehrsmittel

Verbot von Haustieren

Kennzeichnung der „Judenhäuser“

Schließung jüd. Schulen

1943

Juden im Reich werden unter Polizeirecht gestellt, sofern sie noch leben und im Reich ansässig sind.

Waren die Beschränkungen vor 1938 schon drückend genug, sollten sie sich nach dem 07.11.1938 zu einem wahren Desaster entwickeln. In Paris wurde der Sekretär der deutschen Botschaft, E.v. Rath, niedergeschossen. Täter war der junge, aus Polen stammende Jude Herschel Grynszpan, dessen Vater von den Nazis nach Polen verbracht worden war.

Zum Abschluss der Feiern zum Gedenken an den Hitler-Putsch in München setzten in ganz Deutschland Ausschreitungen gegen die Juden ein.

Ein Augenzeuge, Harold Lewin, ehemaliger 1. Vorsitzender der jüd. Gemeinde Recklinghausen, mag mit seinem Bericht als Jugendlicher für die Zustände in ganz Deutschland stehen, bevor dann die Situation der Recklinghäuser Juden vorgestellt wird.

Meine Erinnerung an die Nazizeit

Man bat mich, etwas über die Vergangenheit zu schreiben. Ich habe lange überlegt, immer habe ich die Vergangenheit verdrängt, auch um mich selber zu schützen, um nicht, wie viele Juden, sich durch die negativen Gedanken selber Schaden zuzufügen.

Ich wurde 1925 in Essen geboren. 1931 besuchte ich die jüd. Volksschule, die von ca. 400 jüd. Schülern frequentiert wurde. Die Schule befand sich in Essen in der Sachsenstraße.

1936 wurde die Schule von den Nazis beschlagnahmt und die jüd. Gemeinde mietete eine alte Schule in der Nähe des Limbecker Platzes an. Inzwischen durften Juden keine öffentliche Schule besuchen und die Zahl der Schüler stieg auf über 650. Auch die jüd. Lehrer und Professoren wurden entlassen. So bildete man ein 9. und 10. Schuljahr. Jüd. Lehrer gab es nun genug.

Auf meinem Schulweg von Essen-West zum Stadtzentrum musste ich immer wieder an jüd. Geschäften, beschmiert mit gelber Farbe, vorbei. Auf den Schaufenstern Parolen wie „Wer beim Juden kauft, ist Volksverräter“ oder „Hängt die Juden, stellt die Bonzen an die Wand“ oder ganz einfach „Judensau“ usw.

Auch standen oft SA-Männer in ihren braunen Uniformen am Eingang der Geschäfte und behinderten das Eintreten eventueller Käufer. Selbst deutsche, christliche Menschen, die meinen Vater und meine Mutter ein Leben lang kannten, viele Feiern, wie Silvester usw., in unserer Wohnung verbrachten, wechselten die Straßenseite, nur um den Juden nicht grüßen zu müssen.

Am 05. November 1938 feierte ich in der großen Essener Synagoge meine Bar Mizwa, (Einsegnung). Es war eine Feier im engsten Kreis. Die Zeit der großen Feiern war vorbei. Es war die letzte Bar Mizwa und auch der letzte Gottesdienst in der Synagoge. Vier Tage später brannte sie.

Der 09. November 1938! Ich ging morgens zum Stadtzentrum, zur jüdischen Schule. Die Bürgersteige vor den jüdischen Geschäften waren übersät mit Glasscherben, die Eingangstüren aufgebrochen, die Schaufenster eingeschlagen. Ich sah, wie SA-Leute in braunen Uniformen den Hausrat von jüdischen Einwohnern durch die Fenster auf die Straße warfen. Da war z.B. die Fam. Hordzewitz, deren Sohn in meiner Schulklasse war. Möbel, ja sogar ein Klavier wurden von dem zweiten Stockwerk durch das heraus gebrochene Fenster auf die Straße geworfen. Da war in Essen-West in der Altendorfer Straße das Textilkaufhaus Rosenberg, wo alle Schaufenster zerstört waren und die Leute einfach einstiegen und sich bedienten. In der Limbecker Straße waren viele Geschäfte ein Trümmerhaufen und dazwischen Gruppen von SA-Leuten in ihren Uniformen mit Schlagstöcken und Pistolen. Sie sangen „Kameraden, Soldaten, hängt die Juden, stellt die Bonzen an die Wand!“ und immer wieder „Schlagt die Juden tot, schlagt die Juden tot!“.

Ein jüdischer Lehrer kam mir entgegen: „Junge, geh sofort nach Hause.“ Ich aber wollte sehen, was passierte und ging weiter. Ich kam zu unserer großen Synagoge. Dichter Rauch quoll aus den Fenstern. Die Polizei schickte die Menschen auf die gegenüberliegende Straßenseite. Die Feuerwehr war mit drei Löschfahrzeugen dort, aber sie spritzte nur Wasser auf die Häuser rechts und links der Synagoge auf der anderen Straßenseite. Auf dem Rückweg kam ich wieder bei den Hordzewitz vorbei. Die Nazis waren weg. Der Junge und die Mutter standen vor dem Haus und versuchten, noch etwas aus den zerstörten Möbeln zu bergen. Den Vater hatten die Nazis mitgenommen. Ich nahm Mutter und Sohn mit nach Hause. In der zerstörten Wohnung konnten sie ja nicht bleiben.

Die gleichen Ereignisse fanden in allen deutschen Städten statt. Die Obrigkeit hatte das Progrom befohlen und es fanden sich reichlich Ausführende im deutschen Volk. Es war der Anfang vom Holocaust.

So wie ich von Essen meine persönliche Erfahrung berichten kann, war es auch in Recklinghausen. Auch in Recklinghausen brannte die Synagoge, auch hier wurde nicht gelöscht. Selbst für die Beseitigung der Trümmer musste die Jüdische Gemeinde selbst zahlen. Die jüdische Schule, Eigentum der Gemeinde, wurde enteignet und zu einem NS-Kinderheim umfunktioniert. Die Jüdische Gemeinde musste für die Kinder, deren Eltern nicht geflüchtet waren, einen Schulraum anmieten. Bald begannen die Deportationen in die Konzentrationslager mit alle dem Grauen und am Ende stand für fast alle der Tod. Die Jüdischen Gemeinden in Deutschland hatten aufgehört zu existieren.

Harold Lewin                                                                      Recklinghausen, 19.07.2004

Stellvertretend für all die schrecklichen Schicksale sollen Beispiele angeführt werden von Personen, die eng mit der Gemeinde verknüpft waren oder sind.

Zuerst Rabbiner Dr. Selig Auerbach, Bezirksrabbiner damals in Recklinghausen, auszugsweise aus seinem Bericht, 1962 in New York geschrieben:

„Bereits 1933, nach dem Boykott des 01. April, wanderten viele junge Gemeindemitglieder aus, meist solche, die in den großen jüd. Geschäften angestellt waren und nun keine Arbeit mehr fanden. Das Kaufhaus Althoff, Inhaber die Herren Cosmann und Falkenberg, wurde, ebenso wie das Kaufhaus Simmenauer in Herten, schon 1933 zwangsverkauft.

Von 1937 ging die Gemeinde immer mehr und mehr zurück. Die ersten unter den führenden Gemeindemitgliedern, die auswanderten, waren Dr. Leschziner und Rechtsanwalt Simmenauer, ihnen folgten Sanitätsrat Dr. Schönholz und sein Sohn Dr. Max.

Die Jugend wanderte fast vollständig aus, meist über Haschara in Dänemark nach Israel. Die Alijah war ihre einzige Hoffnung und Rettung“ …

Die Katastrophe für die Zurückgebliebenen kam in der Progromnacht vom 09./10. November, als alle Synagogen im Bezirksrabbinat und das Gemeindehaus in Recklinghausen von den Nazis und ihrer SA gesprengt wurden und Männer ins Gefängnis geworfen wurden. „… Im Bezirksrabbinat konnten sich viele Männer nach Holland retten“. …„Rabbiner Dr. Auerbach und Familie und Kantor Mansbach und Familie, die im Gemeindehaus wohnten, verloren alles was sie hatten. Sie konnten ihr Leben nur durch Herabspringen aus dem zweiten Stock des brennenden Hauses retten.“

Den Lehrer Erich Jakobs warf man durch das Glasfenster der jüd. Volksschule und brachte ihn blutbesudelt ins Gefängnis, wo er in einer kleinen Zelle mit etwa 40 Männern zusammengepfercht war. 

Rabbiner Dr. Auerbach konnte einer ersten Verhaftung durch unerlaubtes Verlassen eines Zuges entgehen. Er begab sich dann in Recklinghausen freiwillig in Polizeihaft, wo er mit den Männern der jüd. Gemeinde ca. 14 Tage verblieb. Er wurde dann ins KZ verschleppt.

Die Progromnacht bereitete allem jüd. Gemeindeleben ein Ende. Für einige Zeit wurde im Hause W. Hirschberg noch Gottesdienst abgehalten. Dr. Auerbach verließ, nach erneut drohender Verhaftung, am 19.12.1938 endgültig Deutschland.

Rolf Abrahamson

Bericht am 09.11.1978

WDR 2, Ü-Wagen, Carmen Thomas

…„Ich habe die Progromnacht morgens um halb sechs wahrgenommen, als ich durch das Schreien meiner Eltern wach wurde. Die Flammen sind bis zur ersten Etage, wo unser Kinderzimmer lag, heraufgelodert. Ich war damals 13 Jahre alt. Wir haben versucht, auf den Hof zu kommen, wo die Flammen zuerst ausgebrochen waren. Man hatte dort die Holzrollade mit Benzin übergossen und dann angesteckt. Die christl. Freunde und Hausbewohner haben nichtsahnend geholfen, die Flammen zu ersticken. Mein Vater ist dann in den raucherfüllten Laden eingedrungen, um vorne der Polizei die Türe zu öffnen.

Dann ist die SA – die Namen sind bekannt, sie wurden sogar mit einem Jahr Gefängnis bestraft – in das Geschäft eingedrungen, haben meinen Vater niedergeschlagen und das Geschäft nochmals angezündet. Wir hatten ein Textil- und Schuhgeschäft. Die Schuhkartons brannten natürlich sehr schnell. Mein Vater lag blutüberströmt im Laden. Die SA zog sich dann zurück, weil die Hitze immer stärker wurde. Meiner Mutter und uns gelang es dann, den Vater aus dem Laden zu ziehen. Wir haben dann versucht, über Zäune zu christl. Leuten zu kommen, um meinen Vater, der noch halb bewusstlos war, dorthin zu retten. Ein früherer Hausarzt hat meinen Vater eineinhalb bis zwei Stunden verbunden.

Danach wurde unsere ganze Familie abgeholt und ins Gefängnis Marl-Brassert in „Schutzhaft“ eingeliefert. Meine Mutter, meine Geschwister und ich wurden abends um sechs Uhr entlassen. Mein Vater aber wurde ins Polizeipräsidium Recklinghausen transportiert und erst nach acht Tagen wegen Haftunfähigkeit entlassen. Das war die Progromnacht, wie ich sie als Kind, als 13jähriger Junge, erlebte. Nach 14 Tagen mussten wir Marl verlassen, wodurch die Stadt „judenrein“ wurde. Ich habe in einer Schwefelfabrik arbeiten müssen. Mit 15 bin ich ins KZ gekommen und mit 20 wieder raus. Ich war in Riga in Lettland, erst in einem Ghetto, dann in einem KZ, dann nach Stutthoff bei Danzig, von dort nach Buchenwald. Zwischendurch habe ich in Bochum Bomben entschärft.

Auf der Festung Theresienstadt in Böhmen bin ich 1945 von den Russen befreit worden.“

Martha de Vries, geb. Marcus:

„Im Januar 1942 kam der Tag, mit dem man gerechnet hat, ohne freilich die Hoffnung aufzugeben, dass er nie kommen würde. Mit Martha de Vries und ihren Eltern mussten 105 Juden einen Viehtransport am Recklinghäuser Bahnhof besteigen. Irgendwann Ende Januar hielt der Zug, die Türen wurden aufgerissen, man war in Riga.“

„Wir dachten, der Schnee ist schwarz.“ Erinnert sich Martha de Vries. Es war das Blut der Riga-Juden. Martha de Vries wurde mit ihren Eltern in Häuser getrieben. Bald kam der Befehl von der Kommandantur, sich am Galgenberg zu sammeln. Von dort gingen die Transporte zum KZ Kaiserwald. Dort sah Martha de Vries ihre Mutter zum letzten Mal.

Nach Aufenthalten in verschiedenen KZ und einem schier endlosen Marsch in den Westen, einer der vielen Totenmärsche, in dem Überlebende KZ-Häftlinge vor der anrückenden russischen Armee in den Westen verlegt wurden, wurde Martha de Vries in Lauenburg befreit. Sie kehrte nach Recklinghausen zurück, heiratete Ludwig de Vries, der die kleine jüd. Gemeinde mit denen von Herne und Bochum vereinte und wieder für ein Gemeindeleben in Recklinghausen sorgte.

Martha de Vries ist im Dezember 1989 gestorben und ist auf dem hiesigen jüd. Friedhof beerdigt.

Ein Augenzeuge, Herr Honnef, Jahrgang 1925, Gespräch vom 25.09.1988: „Wir wohnten am Elper Weg und ich musste zur Schule, dem Gymnasium Petrinum am Herzogswall. Auf dem Weg dorthin benutzte ich immer den schmalen Fußweg von der Limperstraße aus. An diesem Morgen war eine Menschenmenge versammelt, die sich die qualmende Synagoge ansah. Offenbar war sie wohl innen ausgebrannt, aber das Außengebäude blieb unversehrt. Daraufhin hatte man dann – das geschah, als ich zusah – mit Stahltrossen, die an Traktoren gespannt wurden, versucht, den Turm umzureißen. Das gelang aber nicht.“…

Georg Möllers schriebt in seinem Erinnerungsband „Progrom“ das mit Hilfe der Schüler des Petrinum erarbeitet wurde, nachdem zuerst ein Artikel der nationalsozialistischen „National-Zeitung“ zitiert wird:

„Der Brand der Synagoge, die sich in ihrem Schmutz und ihrer Verkommenheit schon seit langem als Schandfleck in der Umgebung des repräsentativsten Gebäudes in der Vestmetropole, des Polizeipräsidiums, erwiesen hatte und die in der letzten Ratsherrensitzung als abbruchreif erklärt worden ist, bedeutet lediglich den schnellen Vollzug dieser längst fälligen Maßnahme, die das Gebäude des Polizeipräsidiums für alle Zeiten von dieser häßlichen, architektonischen Missbildung aus seiner unmittelbaren Nachbarschaft befreit haben durfte.“

folgendes:

„In der Tat verweist der Artikel auf eine bemerkenswerte Nachbarschaft. Wohl kaum in einer Stadt erwies sich die offizielle Parole von der Spontanaktion des „gerechten Volkszorns“ (RZ v. 11.11.1938) als so offensichtlich verlogen wie in Recklinghausen. Befanden sich doch die Zentren der Synagogengemeinde, denen die Gewaltakte galten, in unmittelbarer Nähe von Polizeipräsidium und Feuerwehrdepot, mithin der staatlichen Organe, die zum Einschreiten verpflichtet gewesen waren, ganz zu schweigen vom Amtsgericht, das wenige 100 m in derselben Straße lag, wie die Synagoge.“ …

… Die Ereignisse vom 09./10.11.1938 sind kein isoliert zu betrachtender Gewaltakt des NS-Regimes, sondern der öffentlich sichtbare Ausdruck der bis 1938 bereits durchgesetzten anti-jüdischen Gesetzgebung. Der wirtschaftliche Ruin etwa, so zeigt sich, wurde durch den 09./10. nur beschleunigt, die Planungen hatten schon vorher eingesetzt.

Einen tiefen Einschnitt in das Leben der Gemeinde gab es 1938, als in der Pogromnacht im November die Synagoge an der Limperstraße zerstört wurde.

Quellennachweis:

Ernst Pfeiffer „Die Juden in Dortmund“ Verlag HARPA GmbH Dortmund-Unna

Werner Schneider: „Jüdische Heimat im Vest“ Gedenkbuch des jüd. Gemeinden im Kreis Recklinghausen, Verlag Rudolf Winkelmann

Georg Möllers, Horst-D. Mannel „Progrom in Recklinghausen“, Projekt Reichskristallnacht – Jugendvolkshochschule

Den Toten verpflichtet

Wiederbeginn oder Neuanfang

Nur wenige Wochen nach dem Untergang der NS-Herrschaft kamen die ersten Überlebenden nach Recklinghausen zurück. Zu diesen gehörten u.a. Minna Aaron, Rolf Abrahamsohn und Martha Marcus. Sie heiratete 1946 den aus Lathen stammenden Ludwig de Vries, ebenfalls ein KZ-Überlebender.

Wichtige Impulse zur Neugründung gingen von Ludwig de Vries aus. Schon 1948 konnte auf dem Friedhof ein Mahnmal zur Erinnerung an die 215 Opfer der Schoa errichtet werden. Treffpunkt und Gemeindezentrum war das Haus Bismarckstraße 3, in dem die Familie de Vries wohnte. Ein Minjan für die Gottesdienste konnte meist nur mit Mühe organisiert werden. 1953 gelang es de Vries, sich mit den kleinen Nachbargemeinden Bochum und Herne zu einer Gemeinde zusammenzuschließen, die 1954 als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt wurde.

Einen großen Schritt konnte die Gemeinde am 10. Juli 1955 machen. Der vom Architekten Karl Gerle entworfene Erweiterungsbau für das Gemeindezentrum mit einem Synagogenraum für 70 Personen konnte durch den Kölner Rabbiner Dr. Zwi Asaria eingeweiht werden. Das Gemeindezentrum war im ehemaligen Jugendheim von 1930 eingerichtet worden, da das Gebäude während der NS-Zeit und des Krieges nur wenig Schaden erlitten hatte.

Nach dem frühen Tod von Ludwig de Vries, er starb mit nur 54 Jahren, übernahm Minna Aron von 1958 an die Leitung der Gemeinde. Ihre Wohnung im Gemeindehaus war Büro und Treffpunkt des Gemeindelebens. Für die nächsten zwanzig Jahre bestimmte sie nun bis 1978 die Geschicke der Gemeinde.

Schon 1948 weihten die überlebenden Rückkehrer auf dem Friedhof am Nordcharweg ein Ehrenmal ein. Es erin-nert an die 215 ermordeten Mitglieder der Gemeinde. Initiator für dieses Denkmal war Ludwig de Vries. Die Inschrift lautet: „Unseren ermordeten Brüdern und Schwestern zum ewigen Gedenken.“ Die Namen aller Ermordeten sind auf der Rückseite eingraviert.

 

 

 

 

 

 

 

Die Fahnenträgerinnen sind die Riga-Überlebenden Ruth Eichenwald (links) und Irma Salomons (rechts).

1953 – das Baujahr der dritten Synagoge

Zur Einweihung der Synagoge am 10. Juli 1955 werden die Torarollen in die Synagoge getragen und in den Toraschrein eingestellt, begleitet vom Vorsitzenden Ludwig de Vries (Bildmitte mit Zylinder).

 

 

 

 

 

 

 

 

Außenansicht der Synagoge von 1955.
Außergewöhnlich ist das halbrunde, vorgebaute
und verglaste Treppenhaus mit einer
Treppe mit freitragenden Stufen, entworfen
vom Architekten Karl Gerle.

1958, 9. Juni: Tod des ersten Vorsitzendenden der Jüdische Kultusgemeinde nach dem Zweiten Weltkrieg, Levi, genannt Ludwig de Vries

Quelle: Stadt- und Vestisches Archiv Recklinghausen, Verfasser: Dr. Matthias Kordes, Leiter des Stadt- und Vestischen Archivs Recklinghausen.

 

Levi, genannt Ludwig de Vries, kam nicht aus Recklinghausen. Er stammte vielmehr aus einer alteingesessenen und im Emsland verzweigten jüdischen Familie; sein Heimatort war Lathen im heutigen Landkreis Emsland, unweit der Grenze zu den Niederlanden gelegen. Seine Vorfahren, insbes. sein Vater Moses de Vries (Synagogenvorsteher in Lathen, zusammen mit seiner Frau Ida 1942 im NS-Vernichtungslager Treblinka ermordet), übte den traditionellen Beruf des sog. Landjudentums aus; er war Viehhändler.

Moses und Ida de Vries hatten zwei Söhne: Josef und Levi de Vries. Levi, genannt Ludwig de Vries wurde am 30. Dezember 1904 in Lathen geboren. seine erste Ehe schloss er im Mai 1932 in Delitzsch/Saale mit Hertha, geborene Salomons, die 1943 ebenso wie der gemeinsame neunjährige Sohn Leo/Leonhard in Auschwitz umgebracht wurde. Nach Kriegsende 1945 ging der Holocaust-Überlebende Levi de Vries zunächst nach Lathen zurück, doch 1946 kam er nach Recklinghausen, um dort Martha Markus, Tochter der bekannten jüdischen Kaufmannsfamilie Markus von der Bochumer Straße in Recklinghausen-Süd zu heiraten, auch er gibt als Beruf Viehhändler an, seine Braut Martha (geboren am 16. Oktober 1911, gestorben am 30. Dezember 1988). die als junge Frau mit ihren Angehörigen Ende Januar 1942 nach Riga deportiert wurde, wird als Geschäftsinhaberin bezeichnet: Auf der Steinstraße 12 baute sie, die als einzige ihrer Familie den Holocaust überlebt hatte, zu dieser Zeit einen Obst- und Gemüsehandel auf und trat damit in die gewerbliche Tradition ihrer ermordeten Eltern.

Die Eheschließung von Levi de Vries und Martha geb. Markus, zu deren Trauzeugen auch der Bruder Levis, Joseph de Vries (1908–1981; wohnhaft in Lathen, Bahnhofstraße 20) angereist war, hat als die erste jüdische Heirat in Recklinghausen nach dem Zweiten Weltkrieg zu gelten. Da beide Eheleute zahlreiche Angehörige durch den Holocaust verloren hatten, war ihnen das persönliche und zugleich sichtbare und öffentliche Gedenken an die jüdischen Mordopfer des NS-Regimes ein besonderes Anliegen. Bereits 1947 hatten die Brüder Levi und Joseph de Vries auf dem Jüdischen Friedhof in Lathen einen Gedenkstein für ihre Familienmitglieder errichtet, welche die Shoa nicht überlebt hatten (Josephs Ehefrau Rosette geb. Jacobs, starb ebenfalls in einem Vernichtungslager). 1948 nahmen die Eheleute de Vries für Recklinghausen noch Größeres in Angriff: Am 12. September 1948 wurde auf ihr Betreiben auf dem von den Nazis zu großen Teilen verwüsteten Friedhof am Nordcharweg feierlich ein Mahnmal enthüllt, dass an alle 215 Holocaust-Opfer der Jüdische Gemeinde Recklinghausen erinnert (siehe auch unter 1948).

Ludwig und Martha de Vries gehörten zu den ersten Gemeindemitgliedern, die das jüdische Leben in Recklinghausen wiederbelebten. 1946 lud das Ehepaar zum ersten Gottesdienst in ihre Wohnung ein. Ludwig de Vries hatte nämlich die Thorarolle aus der Synagoge seiner Heimatstadt Lathen vor der Vernichtung durch die Nazis retten können. Nach dem Krieg holte er sie aus einem Versteck und brachte sie nach Recklinghausen, zumal in Lathen die erst 1932 erbaute und im November 1938 zerstörte Synagoge nicht wiedererrichtet wurde. Bis zu seinem Tod 1958 leitete Ludwig de Vries die Recklinghäuser Gemeinde. Hinter dem Gemeindehaus ließ er durch den Recklinghäuser Architekten Karl Gerle 1954/55 einen Trakt als Versammlungsraum bauen und im Obergeschoss ein Synagogenraum einrichten. Ludwig de Vries starb erst 54-jährig im Knappschaftskrankenhaus Recklinghausen; seine Frau Martha überlebte ihn um 30 Jahre. Beide ruhen heute in einer gemeinsamen Grabstätte am Nordcharweg.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Weiterführende Links:

Normalität im Alltag

 

Die Gemeinde in den Jahren 1960 bis 1989

Zu Beginn der 1960er Jahre hatte sich die kleine Gemeinde etabliert. Nach zwanzig Jahren im Dienste der Gemeinschaft zwang eine schwere Erkrankung Minna Aron zur Amtsaufgabe bzw. Übergabe an Rolf Abrahamsohn, der die Gemeinde bis 1992 leitete. Rolf Abrahamsohn zögerte zunächst, doch Minna Aron wusste ihn zu überzeugen: „Rolf, den Toten gegenüber hast du dieselbe Verpflichtung, wie ich sie hatte.“
Die Kultusgemeinde blieb bis Anfang der 1990er Jahre sehr klein. Die Mitgliederzahl stagnierte zwischen 80 (1983) und 75 (1991). Sorgen bereitete die zunehmende Überalterung.
Die Mitglieder wohnten weit verteilt über das Gemeindegebiet. Religiöser Mittelpunkt war und blieb Recklinghausen. Das religiöse Leben beschränkte sich auf vierzehntägig stattfindendeGottesdienste sowie auf die Feste und Veranstaltungen im Gemeindezentrum. Bei größeren Veranstaltungen und hohen Feiertagen konnten durch die Vermittlung von Stadt, Kirchengemeinde und der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit passende Räumlichkeiten
vermittelt werden.
Öffentliche Auftritte gab es selten, meist aus Anlass von Gedenkveranstaltungen, so am ersten Sonntag im November zur Erinnerung an die Deportation von 1942. Zum 40. Jahrestag der Pogromnacht von 1938 gab es eine Reihe von Gedenkgottesdiensten. Am ehemaligen Standort der Synagoge fand am 9. November 1978 eine Live-Sendung des WDR statt. Zu Gast in der Sendung „Hallo Ü-Wagen“ mit Carmen Thomas war Rolf Abrahamsohn, der erstmals öffentlich vom Angriff auf den Laden seiner Eltern und auf seinen Vater berichtete.
Am Ende der 1980er Jahre zeichneten sich deutliche Veränderungen ab. Mit der Öffnung der Grenzen in Osteuropa begann eine Ausreisewelle jüdischer Familien, von denen zunehmend mehr auch nach Deutschland kommen wollten. Die Struktur der Recklinghäuser Gemeinde sollte sich in den kommenden Jahren sehr verändern.

Ludwig de Vries                              Minna Aron                          Rolf Abrahamsohn
(1953 – 1958)                                   (1958 – 1978)                       (1978 – 1992)

Diese drei Vorsitzenden haben den Neuanfang und die Stabilisierung der Kultusgemeinde fast dreißig Jahre maßgeblich geprägt.

Am 9. November 1978 war der WDR mit seiner Sendung „Hallo Ü-Wagen“
mit der Moderatorin Carmen Thomas zu Gast in Recklinghausen. Es wurde
live vom Standort der in der NS-Zeit zerstörten Synagoge gesendet. Zum
40. Jahrestag dere Pogromnacht ging es um das Verhältnis von Juden und
Nichtjuden in Deutschland. Unter den Gesprächspartnern war auch Rolf
Abrahamsohn, als Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde und als Zeitzeuge.

 

Rolf Abrahamsohn (Mitte sitzend), Carmen Thomas (rechts sitzend), Werner Schneider (links stehend)
Foto: Recklinghäuser Zeitung / Medienhaus Bauer

Bei einer Chanukkafeier zusammen mit der Gesellschaft für christlichjüdische
Zusammenarbeit im Petrushaus entzündet die Vorsitzende
Minna Aron die Kerzen, Rolf Abrahamsohn hält den Leuchter.

 

 

 

 

 

Die jüd. Gemeinde ab 1989

Dieses Jahr leitet einen Wandel im bisherigen Bestehen der jüd. Gemeinde „Bochum-Herne-Recklinghausen“ ein.

Frau Mina Aron, langjährige Vorsitzende der Gemeinde, war tot. Frau de Vries, Ehefrau des Begründers der neuen Gemeinde 1953, verstarb Ende 1988. Rolf Abrahamson stellte sich nicht mehr einer Neuwahl.

Es waren schon die Vorboten der politischen Umwälzungen zu spüren, die mit der Öffnung des Eisernen Vorhangs und dem Zusammenbruch der Sowjetunion einhergingen.

Die Juden dort lebten in einer vollkommen areligiösen Umgebung, die es ihnen unmöglich machte, öffentlich ihre Religion zu leben. Die Bundesregierung ermöglichte es diesen Juden, auch nach Deutschland zu kommen. So wurde Deutschland neben Israel ein bevorzugtes Einreiseland. In der jüd. Gemeinde fanden sich erst einzelne Familien ein, dann aber fand ein geordneter Zuzug über das Auffanglager Unna-Massen statt, der in die Städte, für die die jüd. Gemeinde zuständig war, verteilt wurde. Aktive und prompte Hilfe war in allen Kommunen vorhanden. Am Anfang wurden die jüd. Zuwanderer in einfachen Notwohnungen untergebracht, aber meist schon nach drei Monaten standen normale Wohnungen mit genügend Platz zur Verfügung. Bis 1990 hatte die jüd. Gemeinde ca. 80 Mitglieder. Trotzdem funktionierte das Gemeindeleben ganz gut. Es wurden regelmäßig Gottesdienste gehalten, die Feiertage wurden eingehalten, in der kleinen Synagoge im zweiten Stock war noch Platz für alle.

Veranstaltungen zu den religiösen Festen fanden in dem kleinen Saal im Erdgeschoss des Gemeindehauses statt – das ja in der Nazizeit nicht zerstört wurde und von der Stadt damals als Büroräume genutzt wurde – Kinderaufführungen zu Chanukka und Purim wurden einstudiert und präsentiert. Für größere Veranstaltungen wurden Räumlichkeiten von befreundeten christl. Gemeinden oder der Stadt, des Kreises zur Verfügung gestellt und dankbar angenommen.

So stellte sich das Leben der jüd. Gemeinde Bochum-Herne-Rcklinghausen Anfang der 90ger Jahre dar, einer Gemeinde, die von Hattingen über Bochum nach Haltern und von Waltrop, Castrop-Rauxel bis Herten und Dorsten reichte. Neue Mitglieder waren also hochwillkommen.

Auch wenn der Zuzug der neuen Mitglieder geordnet vor sich ging, war er doch für die kleine Gemeinde ungeheuer schwierig zu verkraften. Schon die Organisation für Behördengänge, Arztbesuche usw. war für die meisten Menschen nur mit Dolmetscher möglich, denn gut deutsch oder sich in Deutsch verständigen, konnten nur wenige. Einige Mitglieder konnten auf Jiddisch zurückgreifen, mit dem sie dann auch zurechtkamen, aber das waren meist ältere Menschen.

Als Frau Aron ihre im Erdgeschoss des Gemeindehauses gelegene Wohnung verließt, um im jüd. Seniorenheim in Düsseldorf zu leben, konnte die Gemeinde auf diese Räumlichkeiten zurückgreifen. Auch hatte das Gemeindehaus einen flachen Anbau nach Osten, der wohl schon vor dem Holocaust gewerblich genutzt wurde; auch in der Zeit, die hier beschrieben wird, war dieses Gebäude vermietet – bis zu der Zeit, als immer mehr Mitglieder kamen und der Anbau für Zusammenkünfte gebraucht wurde. Beim Neubau der Synagoge wurde der Anbau abgerissen.

In Bochum, als größte Stadt der jüd. Gemeinde Bochum-Herne-Recklinghausen, war der Zuzug von Mitgliedern besonders groß. In den ersten Jahren trafen sich die Mitglieder in Recklinghausen zum Gottesdienst – Verwaltungsort war Recklinghausen ja sowieso – mit Beginn des Neubaues der Synagoge in Recklinghausen wurden alle Tätigkeiten nach Bochum verlegt.

Die Stadt Bochum stellte in der „Alten Wittener Straße“ Räumlichkeiten zur Verfügung, die umgestaltet und neu ausgerüstet mit einem größeren Saal, der als Synagoge und Festsaal dient; mit Büroräumen, mit Möglichkeiten für Seniorentreffen und für Jugendgruppen, mit einer neuen Küche, die es den Mitgliedern in Bochum ermöglichte, jüd. Leben zu pflegen.

Bis heute nutzt die inzwischen selbständige Gemeinde Bochum diese jetzt viel zu engen Räume.

Die Gemeinde hofft aber auf einen baldigen Neubau eines eigenen Gemeindezentrums.

Die Jahre von 1989 an bis zur Trennung der Gemeinden – Jahre des Umbruchs – stellten nicht nur organisatorisch nicht zu meisternde Ansprüche. Man versuchte, den Anforderungen mit immer neuen Vorständen und Gemeindevertretern zu begegnen; die jüd. Gemeinde kam nur noch als Negativnachricht in die Presse, nicht nur regional. Verdächtigungen, die nicht haltbar waren, gegenseitige Aberkennung der Positionen im Gemeinderat verunsicherten nicht nur die neuen Mitglieder. Diese Menschen, die ja aus nicht demokratischen Staaten kamen, sollten sich hier zu Angelegenheiten in Wahlen äußern, von denen sie nicht viel verstanden. Abgesehen davon, dass es für viele Zuwanderer die schwerste Hürde war, Deutsch zu verstehen und damit zu begreifen, worum es bei diesen internen Auseinandersetzungen ging.

Eine Einrichtung, die in kurzer Zeit von z.B. 15.02.1991 75 Mitglieder auf über 900 Mitte 1995 anwächst, ist schwer belastet, zumal weder Angestellte noch der Vorstand geschult für solche Aufgaben waren. Es gab und gibt immer noch Hilfeleistungen und Hilfestellungen vom Zentralen Wohlfahrtsverband in Frankfurt, vom Landesverband in Dortmund, aber die Arbeit musste vor Ort geleistet werden. Jeder Vorstand in dieser Zeit versucht auf seine Weise, damit fertig zu werden – es war nicht möglich. Diese Zustände führten dann 1995 dazu, dass die Gemeinde unter kommissarische Verwaltung des Landesverbandes gestellt wurde, die bis Sommer 1998 dauerte.

Aber auch in dieser Zeit wurde regelmäßig Gottesdienst gehalten, die religiösen Feste und Feiern begangen. Einen besonderen Höhepunkt bildete der Besuch des letzten Rabbiners von Recklinghausen, Dr. S. Auerbach s.A. mit seiner Frau im Februar 1993, ebenso der Besuch des Sohnes des letzten Lehrers in Recklinghausen, Jithro Jakobs, ebenfalls mit seiner Frau im Mai 1993.

Auch ein dramatisches Ereignis ist für den 15.11.1992 zu verzeichnen: der jüd. Friedhof wurde geschändet. Jochen Welt, damaliger 1. Bürgermeister der Stadt, griff selbst zu Bürste und Wasser, um die Schmierereien auf den Grabsteinen zu entfernen.

Auch ein besonderer Besuch aus Israel konnte gefeiert werden: Elio di Castro, damaliger Bürgermeister von Akko, der Partnerstadt von Recklinghausen, besuchte die Gemeinde im August 1992. Er wiederholte seinen Besuch anläßlich des Neubaus der Synagoge.

Die kommissarische Verwaltung endete im August 1998. Die Synagoge war eingeweiht, ein neuer Vorstand gewählt.

Die Bestrebungen der Bochumer Mitglieder, eine eigene Gemeinde zu haben, manifestierte sich immer konkreter. Die Mitgliederzahl war auf über 1.200 Personen gestiegen, davon ca. zwei Drittel in Bochum und Herne, zum anderen waren ja die Räumlichkeiten vorhanden.

Am 06.09.1998 wurde die Teilung in der Mitgliederversammlung beschlossen; eine Teilungskommission eingesetzt. Es mussten neue Satzungen ausgearbeitet werden, Wahlen für beide Gemeinden abgehalten werden. Es war viel Arbeit, aber am Ende standen zwei selbständige jüd. Gemeinden. Recklinghausen führt den Namen „Jüdische Kultusgemeinde Kreis Recklinghausen“. Im zweiten Absatz der Satzung wird präzisiert: „ohne Stadt Gladbeck“. Damit wird der Gebietsaufteilung der jüd. Gemeinden nach dem Wiederbeginn nach der Shoa genüge getan.

Die Vorstellungen, mit denen die „alten“, d.h. hier ansässigen Mitglieder, deutsche, israelische, britische usw. Juden und die Juden aus den ehemaligen GUS-Staaten aufeinander trafen, waren von Anfang an verschieden: die Alteingesessenen freuten sich, endlich eine Bereicherung des Gemeindelebens, auch zahlenmäßig, zu erfahren. Viele der „Neuen“, ohne wirkliche Bindung an die jüd. Religion, sehen sich überfordert von den jüd. Gemeinden, zumal sie mit Arbeitsuche, Wohnungseinrichtung, vor allem Deutschlernen sich zugedeckt von Pflichten sehen. Die jüd. Gemeinden wiederum sehen diese Auffassung als nicht ehrenwerte Haltung, da diese Juden ihre Zugehörigkeit zum jüd. Volk als Anlass nahmen, um aus beengten politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen zu entkommen. Hier bot man ihnen die Möglichkeit, ihr Judentum endlich offen zu leben und es wurde nicht so genutzt wie man es sich in den Gemeinden dachte. Das war und ist ein Phänomen, das auf alle jüd. Gemeinden in Deutschland zutrifft, nicht nur Recklinghausen.

In Recklinghausen ist ein guter Teil der Mitglieder aktiv am jüd. Leben beteiligt. An besonderen Tagen kann schon mal die halbe Gemeinde anwesend sein.

Die Zuwanderung hat auch neue Mehrheitsverhältnisse geschaffen. Die Amtssprache ist Deutsch, aber in den Gremien der Gemeindeverwaltung muss oft den deutschen Teilnehmern übersetzt werden. Das sind Anpassungsschwierigkeiten, die mit großer Bereitwilligkeit abgebaut werden.

Die jüd. Gemeinde ist als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt. Die Mitglieder wählen alle vier Jahre aus Kandidaten sieben Mitglieder als Gemeindevertretung. Diese wählen wiederum den 1. Vorsitzenden, seinen Stellvertreter und den Vorsitzenden des Gemeinderates. Es gibt einen Finanzausschuss. Für den korrekten Gebrauch der Gelder sorgt die Rechnungskommission, in Recklinghausen zusätzlich ein außenstehender Steuerberater. Für etwaige Streitigkeiten innerhalb der Gemeinde steht eine Schlichterkommission bereit. Für die Gemeinde arbeitet im Büro Frau Büttner, im Sozialbüro betreut Frau Stachevski die Mitglieder und Herr Czechowicz sorgt für einen reibungslosen Ablauf des Alltags der Gemeinde.

Religiös ist die jüd. Gemeinde Recklinghausen der sog. „Einheitsgemeinde“ zuzuordnen, d.h. alle Juden der verschiedenen Strömungen können sich hier zum Gebet versammeln.

Die Gottesdienste werden von einem Vorbeter geleitet; der zuständige Rabbiner ist der Landesrabbiner von Westfalen, z.Z. Dr. Henry G. Brandt, der die Gemeinde regelmäßig besucht und zuständig für alle religiösen Fragen ist. Ein „reisender“ Lehrer gibt einmal pro Woche Religionsunterricht.

Für einen eigenen Rabbiner reichen die Mittel im Augenblick noch nicht aus.

Im Übrigen sind die Gemeinden weitgehend selbständig.

Die jüd. Gemeinde konnte also auf ein geordnetes Gemeindeleben bauen.

Neben den normalen Festen des jüd. Jahres konnte eine große Hochzeit unter der Chuppa gefeiert werden, Barmitzwa und Batmitzwa fanden statt, immer im Beisein des Rabbiners, Herrn Dr. Brandt.

Im Jahreszyklus der Feiertage kam dann auch die Unterstützung einer guten Zusammenarbeit mit der Gesellschaft für christl.-jüd. Zusammenarbeit zum Tragen: Für das Laubhüttenfest die Zelte für die Hütte, für die Chuppa den Baldachin, für den Gottesdienst Gebetbücher und für den größten Wunsch der Gemeinde eine großzügige Spende.

Um sich diesen Herzenswunsch zu erfüllen, wurde eine große Sammelaktion in der Gemeinde gestartet. Thorarollen sind der Stolz einer jeden Gemeinde. In ihr sind die fünf Bücher Moses, die Hauptquelle der jüd. Religion, in hebräischen Schriftzeichen, von Hand von kundigen Schreibern geschrieben. Entsprechend hoch ist ihr Preis. Die Thora, übersetzt die Lehre, ist unterteilt in Wochenabschnitten, dies sich in liturgischen Jahr wiederholen, sodass also in jedem Jahr die Thora einmal gelesen und den Gläubigen vorgetragen wird. Versehen mit einem „Mantel“ aus kostbarem Stoff, bekommt die Thorarolle eine Krone als Zeichen, dass die Thora die Krönung der Lehre ist. Ein Brustschild erinnert an das Schild, das der Hohepriester im Tempel trug, auf dem zwölf verschiedene Edelsteine die zwölf Stämme Israels symbolisierten. Ein Lesefinger aus Silber vervollständigt die Ausstattung der Thora. So ausgestattet sind die Thorarollen ein festlicher Blickpunkt, wenn der Thoraschrank zum Gottesdienst geöffnet wird. Die Sammelaktion der Gemeinde wurde unterstützt mit einem Konzert, mit der Spende der Gesellschaft für christl.-jüd. Zusammenarbeit – aber es hätte noch lange gedauert, bis man auf die nötige Summe gekommen wäre.

1934 musste die Familie Schaffer aus Recklinghausen fliehen. Sohn Emanuel war in Israel der frühere Trainer der Nationalmannschaft. Durch die Städtepartnerschaft Akko-Recklinghausen wurden wieder Kontakte geknüpft. Emanuel Schaffer machte es möglich, durch seine großzügige Spende, dass der Herzenswunsch, eine dritte Thorarolle zu besitzen, der jüd. Gemeinde in Erfüllung ging. Selbstverständlich trug Emanuel Schaffer die Thorarolle in der feierlichen Prozession, die von der jüd. Schule über den Westerholter Weg in die Synagoge führte. Er trug sie unter dem blauen Baldachin, unter der die Ehe gesegnet wird. Es folgten ca. 180 Menschen und wohnten der Zeremonie in der Synagoge bei. Der Chor der Gemeinde, bestehend durchgehend aus neuen Mitgliedern der ex-GUS-Staaten, sang bei dem Festakt.

Am Beispiel Thorarolle ist exemplarisch der Neuanfang der jüd. Gemeinde Recklinghausen nachzuvollziehen:

Zum ersten Mal nach der Shoa wurde eine Thorarolle wieder durch die Straßen getragen, das letzte Mal war der Umzug der Gemeinde aus der kleinen Synagoge in die Synagoge an der heutigen Limperstraße, 1924.

Von der „Alten Schule“ – die wieder der Gemeinde zur Verfügung steht – möglich gemacht durch das Interesse von Gemeindemitgliedern, aber auch der Stadt, die mit engagierten Bürgermeistern und Stadtdirektor ihre Verantwortung übernahmen, um einen Teil der Naziverbrechen gutzumachen.

Der Weg in die „Neue Synagoge“ – auch hier nur möglich Dank vieler Faktoren: der Zuzug neuer Mitglieder nach dem Zusammenbruch der Sowietdiktatur, die Aufnahmebereitschaft der Bundesregierung, die finanziellen Unterstützungen aller Beteiligten, nicht zu vergessen, viele private Spenden – besondere Verpflichtungen hatten die Kirchen übernommen – aber vor allem zählt das Vertrauen, dass jüdische Menschen in die Zukunft in Deutschland setzen. Johannes Rau sagte bei der Einweihung der Synagoge: „Wer ein Haus baut, der will bleiben.“

Eine großzügige Spende eines ehemaligen jüdischen Bürgers, der mit seinen Eltern fliehen musste, entwurzelt wurde, sorgt dafür, dass jüdische Menschen eben dort wieder leben und beten können. Dafür ist E. Schaffer zum Ehrenmitglied der jüd. Gemeinde ernannt worden.

Der Baldachin: eine Spende der Gesellschaft für christl.-jüd. Zusammenarbeit, ein Symbol für den Schutz des Allmächtigen, unter dem nicht nur die Thora an diesem Tage stand, sondern auch für das Zusammenleben für Juden und Christen.

Mit einer Thora kann man den Gottesdienst halten, mit zwei Rollen wird störendes Umrollen bei besonderen liturgischen Anlässen vermieden, die dritte Thorarolle zeigt, wie Harald Lewin in seiner Ansprache sagte “dass wir uns hier wohl fühlen“.

In der Zeremonie in der Synagoge sang der Chor der jüd. Gemeinde: ein Zeichen dafür, dass alte und neue Mitglieder nur zusammen eine neue lebendige Gemeinde gestalten können.

Bei dem Festakt waren viele nichtjüdische Gäste anwesend, voran die Vertreter der Stadt mit den Fraktionsvorsitzenden. Auch das eine lange, gute Tradition in Recklinghausen.

Juden wollen hier wohnen, ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland wieder finden. Wollen versuchen, wieder eine Einheit zu bilden mit der christlichen Umwelt. Das Mahnmal am Herzogswall zeigt es auffällig: eine Einheit, die Kugel, gespaltet durch die Shoa. Versucht man die beiden Hälften wieder zusammenzusetzen, stellt man fest, dass der Winkel nicht mehr stimmt!

Diesen Winkel immer mehr in den Idealzustand zu bringen, bedarf es ungeheurer Anstrengung. Der Anfang ist gemacht.

Quellennachweis: Gemeindearchiv

Zuwanderung als Chance

Neue Mitglieder sichern die Zukunft der Gemeinde

Der Fall des „Eisernen Vorhangs“ und die politische Neuordnung Europas Ende der 1980er Jahre
ermöglichte jüdischen Familien und Einzelpersonen die Ausreise aus der ehemaligen Sowjetunion.
Diese Zuwanderung brachte auch der Recklinghäuser Gemeinde viele neue Mitglieder und damit
auch viele Herausforderungen. Die Mitgliederzahl wuchs von 75 (1991) auf 900 (1995) und bis auf
1250 (1997) an.
Die Mehrheit der neuen Mitglieder kam aus der früheren Sowjetunion. Die „alten“ Gemeindemitglieder
waren auf das Äußerste gefordert, um den Neuankommenden bei der Integration in die Gesellschaft
und in das Gemeindeleben zu helfen. Obwohl die Sowjetunion die Religionsausübung verboten
hatte und es keinen Religionsunterricht in den Schulen gab, konnten die meisten Einwanderer ihrem
Glauben und den jüdischen Traditionen treu bleiben. Die Zuwanderung führte zu einer Belebung des
Gemeindelebens und zur Sicherung der Zukunft.
Die Gemeinde blieb von antisemitischen Angriffen nicht verschont. In der Nacht vom 14. auf den
15. November 1992, dem Volkstrauertag, wurde der Friedhof am Nordcharweg durch Hakenkreuze
und Schmierereien auf vielen Grabsteinen geschändet. Bei allem Entsetzen konnte die Kultusgemeinde
eine Welle der Solidarität in der Stadt und im Umland registrieren. Politiker, Kirchengemeinden
und Parteien zeigten sich solidarisch und veranstalteten Gedenk- und Mahnveranstaltungen.
Die Reaktionen zeigten, dass die jüdische Gemeinschaft akzeptierter Teil der städtischen Gesellschaft
war und ist.
Das Wachstum führte schon bald zu Überlegungen, eine neue Synagoge zu errichten. Nach einer
längeren Planungsphase konnte schließlich in einem Festgottesdienst mit Landesrabbiner Dr. Henry
Brandt am 26. Januar 1997 die neue Synagoge unter großer Anteilnahme der Bevölkerung und der
Prominenz eingeweiht werden. Zusammen mit der im Juni 1997 der Gemeinde übergebenen alten
Schule und der Mikwe verfügt die Gemeinde über ein großzügiges Gemeindezentrum.

Foto: epd-bild / Fernkorn

Am 26. Januar 1997 konnte die neue Synagoge eingeweiht werden. In einer feierlichen Prozession wurden die Torarollen in die Synagoge getragen. Der damalige Landesrabbiner Henry G. Brandt leitete den Festakt, an dem zahlreiche Gäste teilnahmen, unter anderem der Ministerpräsident Johannes Rau und Paul Spiegel als Vorsit-zender des Zentralrats der Juden in Deutschland.

 

 

 

 

 

 

Recklinghäuser Zeitung vom17.11.1992 / Medienhaus Bauer

 

Die Schändung des Friedhofs in der Nacht zum Volkstrauertag 1993 führte in Recklinghausen zu einer breiten Welle der Solidarität mit der jüdischen Kultusgemeinde.

Die Recklinghäuser Zeitung berichte mehrmals über die Tat und die Solidaritätsveranstaltungen.

 

 

 

 

 

 

 

Die neue Synagoge 1997

Schon vor dem Zuzug der neuen Mitglieder aus den GUS-Staaten war es nicht für alle Menschen leicht, die kleine Synagoge im zweiten Stock des Gemeindehauses Am Polizeipräsidium 3, in Recklinghausen zu erreichen.

Das ehemalige Jugendheim der Gemeinde wurde in der Nazizeit nicht zerstört und nach der Shoa wurde hier der neue Betsaal eingerichtet.

Für ältere Leute bedeuteten die Treppen oft ein unüberwindbares Hindernis, um am Gottesdienst teilzunehmen, sie warteten dann in dem Festsaal im Erdgeschoss.

Schon seit 1988 machte man sich Gedanken, wie man den Zustand ändern könnte. Eine der angestrebten Möglichkeit war der Einbau eines Aufzuges. Pf. Sonnemann, damals Superintendent und Dechant Pf. Hüntering, beide leider schon verstorben, stellten für die christl. Kirchen eine größere Summe Geldes zur Verfügung, um die Gemeinde in ihren Umbauvorhaben zu unter-stützen.

Dieses Vorhaben zog sich dann über Jahre ohne konkretes Ergebnis, bis die Mitgliederzahl enorm angestiegen war und der Neubau in Angriff genommen wurde. Der Synagogenbau kostete ca. 3 Millionen Mark damals, Von den Kosten trug das Land NRW 1 Million. Der Fehlbetrag floss aus dem Konto „Synagogenbau Nordwestdeutschland“. Die Gelder der beiden Kirchen, die für den Umbau gedacht waren, flossen ein, Spenden der Gesellschaft für christl.-jüd. Zusammenarbeit und private Spenden. Ein gutes Zusammenwirken von allen.

Die Synagoge in Recklinghausen war die dritte Synagoge in Deutschland, die nach der Shoa gebaut wurde.

Der Plan für die Synagoge stammt von der Architekten-Gemeinschaft Hans Stumpfl aus Dorsten, Diplom-Ingenieur, und Nathan Schächter aus Münster. Nachdem der Robau nahezu fertig war, musste Hans Stumpfl leider krankheitsbedingt ausscheiden und Nathan Schächter führte den Bau samt Innenausstattung zu Ende.

Mit dem Neubau der Synagoge änderte sich auch das äußere Bild des Grundstücks: der größte Teil der ehemaligen Grünfläche, als Garten genutzt, war bebaut. So musste der Zugang zu Synagoge neu gestaltet, neue Parkplätze mussten angelegt werden. Heute fügt sich auch der Vorplatz zu einem harmonischen Ganzen zusammen. Am 27. Januar 1997 war es dann soweit. Landesrabbiner Dr. Henry Brandt weihte die Synagoge ein. Die Thorarollen wurden im feierlichen Umzug in die Synagoge gebracht und in den Aron HaKodesch, den Thoraschrank, der immer gegen Jerusalem ausgerichtet ist, gestellt. Johannes Rau, damals Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen, sagte unter anderem in seiner Festrede: „Wer ein Haus baut, der will bleiben.“

Rabbiner Brandt erinnerte daran, dass die Einweihung der Synagoge nicht nur ein Freudentag ist; „das Gedenken der Opfer der Shoa in der Nazizeit dürfe nie aufhören.“ Aber er sagte auch, dass es keine Abschottung der Gemeinde nach außen geben dürfe. „Das Haus steht allen offen und lädt zur Besinnung und Erinnerung ein.“

Weihbischof Voß aus Münster überbrachte die Grüße der Kirchen und der Gesellschaft für christl.-jüd. Zusammenarbeit und hoffte auf ein neues, tieferes Miteinander von Juden und Christen. Nathan Schächter, als Architekt, übergab symbolisch den Schlüssel des Hauses an Hanna Sperling, der Vorsitzenden des Landesverbandes.

Über 400 Personen, Gäste und Mitglieder der Gemeinde, nahmen an der Feier teil. Unter den geladenen Gästen war Paul Spiegel, der Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland, Kurt Neuwald s.A. Ehrenvorsitzender des Landesverbandes, natürlich Elio di Castro, Bürgermeister der Patenstadt Recklinghausen, Akko. Jochen Welt und Peter Borggraefe, die Reckling-häuser Stadtspitze, viele Bürgermeister des Kreises und aus anderen Städten. Es war eine bewegende, feierliche Stunde, die sehr wohl die Betroffenheit und Trauer bei den Gemeinde-mitgliedern spüren ließ, die oft ihre gesamte Familie in der Shoa verloren hatten. Und doch ist die Synagoge ein Zeichen des „Wieder“-Vertrauens. Nicht zum ersten Mal in der jüdischen Geschichte!

So steht nun der helle, freundliche Bau der Gemeinde zur Verfügung. Die Holzdecke als Baldachin konzipiert, der den Schutz des Allmächtigen symbolisiert, unter dem alle Menschen stehen. Ein Glasdach, das das Licht des Tagesablaufes einfallen lässt.

Über dem Thoraschrein die Worte in hebräisch: Aus Zion kommt die Lehre, aus Jerusalem das Wort. Darüber der Dekalog, die zehn Gebote, in zwei Tafeln, in Goldbuchstaben. Und über beiden brennt das „ewige Licht“. Vor dem Thoraschrein ein blauer Samtvorhang. Das Mittelstück stammt aus der kleinen Synagoge. Man hat durch die Übernahme verschiedener Teile aus der alten Synagoge, die sich ja im gleichen Gebäudekomplex befindet, die Verbindung zwischen alt und neu betont. Vor dem Podium des Aronschreines ist das schmiedeeiserne Gitter des alten Betsaales verwendet worden. An der rechten Seite sind die Glasfenster, bemalt und in Blei gefasst, wieder angebracht worden. Jetzt von rückwärts beleuchtet, bilden sie einen wunderbaren Kontrast zu der sonst weißen Wand.

Auch das Blau der Sesselbezüge ist der Farbton, den die eingesessenen Mitglieder aus der alten Synagoge kennen und der mit dem hellen Holz der Raumausstattung gut harmoniert.

Männer und Frauen begegnen sich beim Gottesdienst auf einer Ebene. Zwar sind sie getrennt, aber nehmen gemeinsam an der Liturgie teil.

In der Mitte der Synagoge steht die Bimah, ein größeres Podium, mit einem großen Tisch, auf dem die Thora zum Gottesdienst ausgerollt und gelesen wird.

Zur neuen Synagoge gehört der Festsaal; bei Bedarf können die Trennwände zwischen Synagoge und Festsaal geöffnet werden und es entsteht ein Raum, der ca. 400 Personen Platz bietet.

Über dem Saal befinden sich Büroräume, im Erdgeschoss liegt das Sozialbüro, zwei Küchen, Wirtschaftsräume und Sanitäranlagen. Durch den Neubau, der an das alte Gemeindegebäude angefügt ist, besteht die Möglichkeit, alle Flächen zu nutzen und es erscheint alles als ein einheitliches Gebäude. Auch die alte Synagoge, heute als Unterrichtsraum und Bücherei genutzt, ist wieder über die „Turmtreppe“ wie früher zu erreichen.

Diese Turmtreppe war es, die den Anstoß gab, zu überlegen, wie man besser zum Beten kommen könnte! Die Treppe und der Zuzug von vielen Menschen, Juden, die einen würdigen Raum zum Gebet wollten. Sie haben es gewagt, mit Hilfe von Vielen, in Recklinghausen eine nicht nur vorübergehende Heimat zu wählen.

Georg Möllers, dem die Aufarbeitung der jüdisch-deutschen Geschichte am Herzen liegt, schreibt: „Die Geschichte der vier Synagogen und ihrer Gemeinden war immer auch Gradmesser für das Miteinander verschiedener Religionen und Herkunftsländer. So kann der Neubau auch als ein Signal für das Vertrauen der jüdischen Gemeinde in Toleranz und Demokratie dieser Gesellschaft angesehen werden.“

Quellennachweis:Eigenes Archiv

Archiv der Gesellschaft für christl.-jüd. Zusammenarbeit

Kirche und Leben, Ausg. 02. Februar 1997

Kreisdekanat Recklinghausen

Möllers: Geschichte der Synagogen in Recklinghausen, Auszug

 

Jüdische Schule am Steintor 5

Quelle: Foto aus www.recklinghausen.de

Die heutige Anschrift „Am Steintor“ entspricht nicht den historischen Tatsachen, denn ursprünglich verlief da der Westerholter Weg.

Die jüd. Gemeinde der Jahrhundertwende war so gewachsen, dass man sich zu einem eigenen Schulbau entschloss. 1907 war es dann soweit. Rabbiner zu dieser Zeit war Dr. Moses Marx, der auch dafür sorgte, dass in dem Neubau eine Mikwe, ein rituelles Bad, eingerichtet wurde.

Mit der preußischen Schulreform 1908 wurde das Gebäude in die Obhut der Stadt übergeben, mit der Auflage, für den Unterhalt des Gebäudes zu sorgen, solange jüd. Kinder in Recklinghausen beheimatet sind.

Mit dem Beginn der Nazizeit war auch die Schule als jüd. Einrichtung ein Anstoß, den man auszurotten hatte.

Schon vor der Progromnacht des 09.11.1938 finden sich Beschwerden am 10.10.1938 von den Nachbarn des Grundstückes, die darüber klagen, dass das Grundstück verwildert, Gefahr des Abrutschens des Terrains besteht (wenige Zentimeter höher als die Straße!), kurz, es musste ein Grund ge-funden werden, den Juden die Nutzung der Schule zu verbieten, sie wurde endgültig enteignet. Die Nazis errichteten fortan ein Kinderheim.

Nach dem Holocaust war die Gemeinde zu klein, um sich um eine Schule zu kümmern. Inzwischen hatte die Stadt 1988 das Gebäude der Wohnungsbaugesellschaft verkauft.

Für Harold Lewin war es immer sicher, dass die „alte Schule“, wie sie genannt wird, wieder in den Besitz oder zur Nutzung der jüd. Gemeinde dienen sollte. Er setzte sich für Nachforschungen ein, unterstützt von Georg Möllers, engagiert seit Jahren in der Aufarbeitung der jüd. Geschichte in der Nazizeit in Recklinghausen und Rechtsanwälten. In zahllosen Verhandlungen wurde gerungen, eine Einigung zu erzielen. Als es aussichtslos erschien, das Ziel zu erreichen, wandte sich Harold Lewin an die Presse und die Resonanz bei den Bürgern war überwältigend. Die Zustimmung, der jüd. Gemeinde das Haus zur Nutzung zurückzugeben, war enorm.

Bei den Nachforschungen wurde ein Dokument der Übergabe von 1912 gefunden, unterzeichnet von dem damaligen Bürgermeister der Stadt Recklinghausen, zahlreichen Stadträten und der Unterschrift des damaligen amtierenden Rabbiners der Jüdischen Gemeinde Recklinghausen das besagt: Das Gebäude muss, solange es jüdische Kinder in Recklinghausen gibt, als jüdische Schule genutzt werden.

Die juristische Voraussetzung war gegeben: es waren wieder jüdische Kinder in Recklinghausen, die Anrecht auf jüd. Unterricht hatten.

Die Stadt und das Land haben ca. 800.000 DM in das Gebäude investiert, auch das rituelle Bad (Mikwe) im Keller wurde restauriert, mit neuer Regenwasserzufuhr versehen. Die beiden großen Räume, die als Klassenzimmer dienten, wurden nach historischen Vorlagen hergerichtet; im ersten und zweiten Stock sind Wohnungen für Mitglieder der jüd. Gemeinde vermietet.

Das Haus trägt den Namen : „Dr. Selig Auerbach“.

Es ist für viele Menschen offen: Sprachunterricht für die Zuwanderer aus den Ost-Staaten, die Kinder- und Jugendgruppe trifft sich, Seniorentreff, Hebräischkurs, Musikunterricht, Seminare für Judentum in russischer Sprache, private Feiern – all das findet in dem Haus statt.

Am 21. Juni 1997 wurde das Haus offiziell der jüd. Gemeinde übergeben. Sehr zur Freude der jüd. Gemeinde nahm die Tochter des letzten Rabbiners, Dr. S. Auerbach, daran teil. Dr. Aucherbach war leider kurz vor der Einweihung gestorben. Zusammen mit Bürgermeister Welt enthüllte Chana Auerbach die Bronzetafel am Eingang des Hauses.

Chana Auerbach, die aus New York angereist war, sagte: „Mein Vater war stolz darauf, dass diese Gemeinde, in der er einst eine Familie gründete, nun noch einmal vollständig ist.“

Jochen Welt, der damalige Bürgermeister der Stadt, sagte bei der Übergabe: „Das Haus ist ein Mahnmal für Schuld und Versöhnung einer ganzen Stadt.“

Quellennachweis: Werner Schneider „Jüdische Heimat im Vest“

Fußball-Legende aus Israel nimmt auf alter Schulbank Platz

Vor der jüdischen Schule: (v.l.) Peter Borggraefe, Emanuel Schaffer, Manfred Lämmer und Isaac Tourkman. WAZ-Bild: Kruse

Film über Emanuel Schaffer soll auch seine Jahre in Recklinghausen zeigen von Mark Raschke

Emanuel Schaffer kämpft mit den Tränen. Gerührt schaut der 78-Jährige in die Gesichter der jüdischen Gemeinde Recklinghausen, die ihn so eben zum Ehrenmitglied ernannt hat. Spontan! Dabei wollte der ehemalige Erfolgs-Trainer der israelischen Fußball-National-mannschaft einfach nur mal Hallo“ sagen.

Denn eigentlich ist er in Recklinghausen, um mit dem Historiker Peter Borggraefe eine Idee zu besprechen, bei der er im wahrsten Sinne des Wortes eine tragende Rolle spielen wird: Das Sporthistorische Institut der Deutschen Sporthochschule Köln möchte sein Leben verfilmen.

Ein Leben, das 1923 in der Paulusstraße 28 begann. Denn Emanuel Schaffer, der 1970 die israelische National-mannschaft das bislang erste und einzige Mal in ihrer Geschichte zu einer Weltmeisterschaft nach Mexiko geführt hat und deswegen heute noch in Tel Aviv auf der Straße erkannt wird, stammt aus Recklinghausen.

Hier lebte er bis 1933 und ging damals natürlich auch in die jüdische Schule, die er jetzt bei seinem Besuch in Recklinghausen zum ersten Mal seit seiner Kindheit wieder betrat. „Da saß ich“, „, sagt er sofort und deutet auf einen Platz nahe dem Fenster. „Und da draußen war ein tiefes Loch, aus dem ich immer die Bälle geholt habe.“ Schaffer kickte schon damals.

Er floh vor den Nazis, kehrte Deutschland den Rücken und siedelte über Polen und Russland nach Israel über. Eine Odyssee, die beispielhaft ist für viele jüdische Schicksale. Dennoch kam er relativ schnell nach dem Krieg – 1958/59 zurück nach Deutschland und machte hier an der deutschen Sporthochschule in Köln seinen Trainerschein bei Hennes Weisweiler und Sepp Herberger.

In den 60er und 70 Jahren trainierte Schaffer dann die Elite-Kicker Israels. Und noch bevor diplomatische Kon-takte auf politischer Ebene hergestellt wurden, sorgte Schaffer bereits über den Fußball für eine deutsch-israelische Verständigung. Alles in allem also eine tragisch-kuriose Biographie“, wie Prof. Manfred Lämmer findet, der als Leiter des Sporthistorischen Instituts nun zusammen mit Peter Borggraefe nach einem interessierten Produzenten für den von der Filmförderungsanstalt NRW unterstützten Film Ausschau hält.

Erschwert wird diese Suche dadurch, dass zudem ein israelischer Co-Produzent gefunden werden muss, der das Filmmaterial aus der heutigen Heimat Schaffers liefern soll. Hier aber hat Peter Borggraefe bereits über den ehe-maligen israelischen Botschafter in Deutschland, Avi Primor, einen kompetenten Kontakt hergestellt. Emanuel Schaffer freut es. Immer wieder schweifen seine Augen durch die Schulraume.

Er ist Optimist.

von Mark Raschke

Emanuel Schaffer

Emanuel „Eddy“ Schaffer (* 11. Februar 1923 in Drohobycz, Polen; † 30. Dezember 2012 in Ramat haScharon) war ein israelischer Fußballtrainer. Als Trainer der israelischen Fußballnationalmannschaft brachte er diese 1970 zum einzigen Mal zur Weltmeisterschaft. Zudem war er ein Vermittler im Sport zwischen Deutschland und Israel.

Familie

Schaffers Vater, Mozes („Max“) Schaffer wurde 1893 in Porohy, seine Mutter Hela 1898 im galizischen Drohobycz geboren. Er hatte drei Geschwister: Cila (geboren 1920), Salka (geboren 1921) und Rosa (geboren 1928). Sein Vater war Manager einer Öl-Gesellschaft in Galizien, kam 1922 als Handlungsreisender nach Deutschland und verbrachte dort einige Monate, woraufhin ihm seine Familie folgte. Sie zogen aus Polen über (Marl-) Hüls im Jahre 1928 nach Recklinghausen ins nördliche Ruhrgebiet, wo Schaffer seine Kindheit verbrachte. Er besuchte eine jüdische Schule und interessierte sich schon früh für Fußball. Sein Vater Moses Schaffer arbeitete zu dieser Zeit als Handlungsreisender. Als die Nationalsozialisten an die Macht kamen, floh die Familie 1933 und kehrte nach Stationen im französischen Metz und dem Saarland 1936 ins ostpolnische Galizien zurück. Emanuel wechselte seine Muttersprache von Deutsch zu Polnisch. Während seine älteren Schwestern ihr Studium in Stanisławów fortsetzten, besuchte Emanuel das Gymnasium in Drohobytsch und wohnte bei seiner Tante Lusia. Dort spielte er zum ersten Mal in einem Fußballverein, Betar Drohobycz, einem Klub der zionistischen Jugendbewegung. Im Jahre 1939 wurde die Stadt Drohobytsch von der Sowjetunion besetzt. Drohobycz wurde am 22. Juni 1941 von der deutschen Wehrmacht überfallen, welches den Beginn des Deutsch-Sowjetischen Krieges kennzeichnet.

Eine Gruppe Jugendlicher, unter denen sich auch Emanuel Schaffer befand, versuchte in den Osten zu fliehen. Schaffer war einer der wenigen, der die Flucht überlebte. Auf der Flucht bekam der Achtzehnjährige Diphtherie und Typhus und kam nach Alma Ata in Kasachstan. Dort wurde er in einem vom Innenministerium der UdSSR (NKWD) kontrolliertem Arbeitslager festgehalten. In diesem schloss er sich der Arbeitslager-Fußballmannschaft an, die gegen andere Arbeitslager und Lokalmannschaften spielte. Er sicherte sich damit zusätzliche Lebensmittel. Später arbeitete er in Alma Ata in einer Schuhfabrik und spielte bei dem Fußballverein Dynamo Alma Ata. 1941 erreichte ihn die Nachricht seiner Tante Lusia über den Tod seiner Familienmitglieder, die wahrscheinlich bei einem Massaker in Stanisławów ermordet wurden. Einen Monat, nachdem der Krieg zu Ende war, kehrte Emanuel nach Polen (Bielawa) zu seiner Tante Lusia und ihrer Familie zurück, die dank einer polnischen Frau, die die jüdische Familie versteckte, überlebt hatten.

Nach dem der Krieg vorbei war, kehrte Schaffer nach Polen zurück. Seine Auswanderung nach Palästina wurde durch fehlende Papiere und ein von der britischen Mandatsmacht verhängtem Einwanderungsstopp vorerst verhindert. Stattdessen begann er eine Karriere als Fußballer. Er spielte bei ZKS Bielawa, einem jüdischen Sportverein, und in der niederschlesischen Fußballauswahl. 1949 endete Schaffers Karriere vorerst, weil das jüdische Vereinswesen und somit auch seine Aktivität im Fußballverein verboten wurden. Als er in die polnische Armee einberufen wurde, floh er über die Tschechoslowakei, Österreich und Italien nach Israel, wo er 1950 mittellos ankam. Schaffer nahm seine Fußballkarriere wieder auf und spielte im Team Hapoel Haifa. Im Jahre 1954 stand er sogar im Kader für die Nationalmannschaft. Aufgrund einer Beinverletzung musste er jedoch das Fußballspielen aufgeben.

Vom Spieler zum Trainer

„Ich habe davon geträumt, Trainer zu werden.“ (Emanuel Schaffer, 1956) Aus diesem Grund kehrte er 1958 nach Deutschland zurück, um an der Sporthochschule Köln sein Trainerdiplom zu absolvieren. Zur finanziellen Unterstützung trainierte er den Verbandsligisten Rhenania Würselen und sammelte zusätzlich Erfahrungen. Als Trainer kehrte er nach Israel zurück, um die Oberliga-Mannschaft Bnei Yehunda und die Mannschaft der israelischen Luftwaffe zu trainieren. Zeitgleich ließ er eine Trainerschule mit deutschen Einflüssen bauen. Schaffer nahm mit seinem Team 1968 an den Olympischen Spielen teil, nach einem Unentschieden gegen Bulgarien, verfehlten sie jedoch die Bronzemedaille durch einen Münzwurf. In den Jahren von 1968 bis 1971 und noch einmal von 1978 bis 1980 war er Trainer des Nationalteams Israels.

Sein größter Erfolg gelang ihm 1970 mit der israelischen Nationalmannschaft, die als erstes und bislang einziges Mal die Qualifikation zur Endrunde der Fußball-Weltmeisterschaft in Mexiko erlangt hatte. In Fußballfachkreisen wurden drei klare Niederlagen erwartet. Man verlor das Spiel gegen Uruguay mit 0:2, auf das man sich aufgrund fehlender finanzieller Mittel zur Gegnerbeobachtung nicht optimal vorbereiten konnte. Gegen Schweden und Italien konnte die Mannschaft jeweils ein Unentschieden erringen, was in Israel großen Widerhall fand. „Bei unserer Rückkehr sind die Spieler wie Helden empfangen worden. Sie haben nicht für Geld, sondern für ihr Land gespielt. Wir haben für drei Millionen Menschen einen echten Erfolg errungen.“, so Schaffer.

„Deutsche“ Fußballtugenden, taktische Disziplin und körperliche Fitness waren für Emanuel die entscheidenden Kriterien seiner Trainerphilosophie. Durch seine professionellen und erfolgreichen Trainingsmethoden, gelang es ihm den israelischen Fußball zu revolutionieren. Trotz seiner erfolgreichen Trainerkarriere holte ihn sein altes Leben immer wieder ein. Auf die Frage eines Sportjournalisten, warum er beim Training immer so fluchen würde, antwortete er. „Ich weiß, ich bin verrückt […] Aber du musst wissen, dass, wer auch immer da war und überlebt hat, verrückt zurückgekommen ist. Auch die, die glauben, sie sind normal, sind verrückt. Niemand ist gesund zurückgekehrt.“ An seinem Grab sagte Avi Luzon, der Präsident des israelischen Fußballverbands: „Er war der größte Trainer, den wir je hatten“.

von Wikipedia

Mizwa eines Trainers

Israelischer Fußballcoach schenkte Recklinghausen eine Tora

Emanuel Schaffer (Mitte) trägt die neue Torarolle durch die Straßen von Recklingshausen. Jüdische Allgemeine, Foto: Hans Blossey

VON ERNST ZUR NIEDEN

Einen großen Tag erlebte die Jüdische Ge meinde in Recklinghausen: Erstmals seit 1924 wurde am 15. Februar wieder eine Torarolle durch die Straßen der Ruhrge bietsstadt getragen. Der Anlaß war denk würdig genug, denn mit Hilfe von Spen dern konnte die Anschaffung der dritten Tora finanziert werden.

Und das nicht allein. Dem neunund siebzigjährigen Emanuel Schaffer fiel die Ehre zu, kurz vor Beginn des Sabbat betes die neue Tora von der nahegelege nen Jüdischen Schule in die Synagoge zu tragen. Schaffer stammt aus Reckling hausen, mußte 1934 vor den Nationalsozi- alisten aus seiner Heimat flüchten und lebt heute in Israel. Er war nach dem Ende des Naziregimes der erste Israeli, der ein Studium an der Deutschen Sporthoch schule in Köln absolvierte. Bei Hennes Weisweiler bestand er sein Diplom als Fußballlehrer und trainierte später die is raelische Nationalelf. Deren eins zu sie ben-Niederlage am 13. Februar dieses Jah- res in Kaiserslautern erlebte er als Ehren- gast mit.

Emanuel Schaffer hatte mit einer Spende in Höhe von zehntausend Mark (etwa fünftausendeinhundertdreizehn Euro) wesentlich zur Finanzierung der Tora beigetragen, die im englischen Manchester für die Recklinghäuser Gemeinde sie hat mehr als fünfhundert Mitglieder – restauriert wurde. Mit der Ehrenmitgliedschaft bedankte sich die Gemeinde bei Emanuel Schaffer, der während der Feier zum Einzug der Torarolle immer wieder von seinen Gefühlen übermannt wurde.

Etwa einhundertachtzig Gäste aus der Gemeinde, aus Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kirchen nahmen an der Festveranstaltung teil. Sie begann mit einer kurzen Prozession. Ein Baldachin aus schwerem blauen Samt über den Trägern der drei Torarollen führte den Zug an.

Emanuel Schaffer äußerte sehr große Freude und Dankbarkeit“ dafür, daß er aus einem so außergewöhnlichen Anlaß wie der in der Stadt seiner Kinderzeit sein  konnte. 1997, zur Einweihung der neuen – Synagoge, hatte der damalige Bürgermeister Peter Borggraefe mit geradezu detektivischem Gespür den Trainer in Israel ausfindig gemacht und erstmals nach Recklinghausen eingeladen.

Harold Lewin, der langjährige Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Recklinghausen, bezeichnete den Einzug der dritten Tora als einen besonders wichtigen Tag im Leben der Gemeinde. Diese Tora ist aber auch ein Zeichen dafür, daß Bürger jüdischen Glaubens sich in dieser Stadt wohlfühlen und eine gute Zukunft sehen“, sagte er. Die Rollen mit dem handgeschriebenen Text der fünf Bücher Moses auf Pergament hätten daher nicht nur ei nen religiös spirituellen, sondern auch einen symbolischen Wert.

Stadt begrüßt Spender der neuen Thora

Der gebürtige Recklinghäuser Emanuel Schaffer wurde gestern von Bürgermeister Wolfgang Pantförder im Rat-haus empfangen.  Maria Friese, Peter Borggraefe, Georg Möllers und auch Michail Scheimann begrüßten den Gast aus Israel. Schaffer begleitete nach dem Empfang den Umzug der neuen Thorarolle.

 

 

 

 

 

 

 

 

Recklinghäuser Zeitung, Foto: STASCH

175 Jahre Jüdische Kultusgemeinde Kreis Recklinghausen

Bei der Feier zum 175-jährigen Bestehen der Jüdischen Kultusgemeinde Recklinghausen: Landesrabbiner Dr. Henry G. Brandt, der Vorsitzende des zentralrats der Juden in Deutschland, Paul Spiegel, Minister Wolfram Kuschke und Bürgermeister Wolfgang Pantförder (von links).

175 Jahre, das sei eine kleine Zeitspanne angesichts der Tatsache, dass beim kommenden jüdischen Neujahrsfest das lahr 5765 beginne, rechnete Kuschke vor. Und doch auch wieder lang angesichts der jüngeren Vergangenheit. ,,Wir feiern heute das Wunder, dass es überhaupt noch jüdische Gemeinden in NRW gibt.“
175 lahre zu feiern, eigentlich ja kein rundes Jubiläum, dahinter stecke ein tieferer Sinn, sagte Landesrabbiner Dr. Henry G. Brandt. ,,Jedes Jahr, das wir feiern können, ist ein Ereignis. Wir freuen uns, dass wir da sein dürfen.“

Wie schon der langjährige Vorsitzende der Gemeinde, Harold Lewin, dankte auch Brandt für die Unterstützung, die die Gemeinde auf allen Ebenen erfahren habe. Und doch: ,,Hätte es die Zuwanderung aus den ehemaligen GUS-Ländern nicht gegeben, alle Anstregungen wären vergebens gewesen. Die Gewissheit, als Gemeinde überleben zu können, ist allein auf die Zuwanderung zurück zu fuhren.“

,,Wer ein Haus baut, der will bleiben“, zitierte Bürgermeister Wolfang Pantförder aus einer Rede von ]ohannes Rau, damals noch Ministerpräsident, zur Einweihung der Synagoge 1997 (das Haus nannte Brandt einen, bescheidenen Stern am bescheidenen Himmel des Judentums“). Nicht erst mit dem Bau des Gotteshauses. von Anfang an habe die Jüdische Kultusgemeinde Kraft und Zukunftsglauben bewiesen, ,,eine Kraft, die vor dem Hintergrund der Gemeinde fast unglaublich lst“. Die Thora, so heiße es in einem alten jüdischen Lied, sei der Baum des Lebens. ,,Es ist ein großes Glück für Reckling-häusen“, so Pantförder, ,,dass der Baum einen göttlichen Lebenstrieb hat. dass er wächst, dass er blüht. AIs Bürgermeister dieser Stadt bin ich froh darüber, bin ich aber auch stolz darauf, wie sehr Bürger, Stadt und Land dieseir Lebenttrieir unter-stützen.“

Stein

 

,,Wir feiern das Wunder, dass es die Gemeinde gibt“

Einen eigenen Chor hat die Jüdische Kultusgemeinde – Zeichen regen Gemeindelebens. WAZ-Bilder: Lojkowski/HG

,,Dass sich 60 Jahre nach dem Holocaust so viele Juden entschlossen haben, aus den ehemaligen GUS-Ländern nach Deutschland, nach Reckling-hausen zu kommen, das ist ein Wunder dieser Zeit und das ist auch ein Zeichen des Vertrauens.“ Das sagte Paul Spiegel, Vorsitzender des Zentral-rates der ]uden in Deutschland, am Sonntag bei der Feier zum 175-jährigen Bestehen der jüdischen Kultusgemeinde in Recklinghausen vor zahl-reichen hochrangigen Gästen in der noch jungen Synagoge der Gemeinde. Erhoffe, so Spiegel, dass man beim nächsten lubiläumstermin auf weitere 25 Jahre des Friedens zurück blicken könne.
Eine Feier, die mit dem Eintrag ins Goldene Buch durch Spiegel, den Chef der NRW Staatskanzlei, Wolfram Kuschke und Bürgermeister Wolfgang Pantförder begann, endete mit entspanntem Plaudern bei rotem und weißen Wein aus Israel.                                                                                            Das entspannte Verhältnis der Kultusgemeinde zur Nachbarschaft in Stadt und Kreis Recklinghausen, es war das Thema der Feier neben der unseligen Vergangenheit, in der die jüdische Gemeinschaft in Recklinghausen bis auf eine Hand voll Menschen ausgerottet wurde.

 

 

 

 

 

Staraufgebot bietet Hörgenuss

SUD: Festkonzert als Auftakt der 17l-lahr-teierlichkeiten der f üdischen Gemeinde

Einen absoluten Hörgenuss mit hochkarätigen Künstlern bot das Festkonzert am Sonntagabend im Bürgerhaus Süd. Anlässlich der Feierlichkeiten zu ihrem 175-iährigen Jubiläum präsentierte die Jüdische Gemeinde Recklinghausen ein musikalisches Staraufgebot.
Das Programm stand ganz im Zeichen der reichen jüdischen Musiktradition.

Neben Ausschnitten aus den großen klassischen Werken iüdischer Komponisten wie Felix Mendelssohn-Bartholdy waren auch zeitgenössische Stücke sowie lüdische Volksweisen zu hören.
,,Das Festkonzert ist der Auftakt zu einer Reihe von Veranstaltungen“, erläutert Gemeinderatsvorsitzender Evgeni Vilkinski.

Am Sonntag, 12. September, findet um 11 Uhr in der Synagoge ein offizieller Festakt statt, zu dem unter anderem Landesrabbiner Henry G. Brandt

und der Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland, Paul Spiegel, erwartet werden. Eine Ausstellung sowie ein jüdischer Liederabend sind ebenfalls geplant. Die Vorbereitungen zum Konzert liefen bereits seit April, finanzielle Unterstützung erhielt die Gemeinde von der Stadt, dem Landesverband Jüdischer Gemeinden von Westfalen-Lippe und einigen Firmen.

Das Konzert eröffnete der siebenjährige David Basner, der bereits den Regionalwettbewerb von ,,Jugend musiziert“ gewann. Er spielte auf seiner Violine die Hatikva, die jüdische Nationalhymne. Mit Werken von Ernst Bloch, jenem Komponisten, der seine künstlerische Kraft ganz in den Dienst der Bestrebungen des jüdischen Volkes stellte, begeisterte Violinist Alexander Ostrovski das Publikum. Der Absolvent des Moskauer Tschaikowsky-Konservatoriums entfachte mit Blochs Weisen wehmütige Momente, bevor er mit Fritz Kreislers ,,Ein kleiner Wiener Marsch“ muntere Töne anschlug.

Wehmütige und muntere Momente Weitere Glanzlichter des Programmes waren Kiriil Kraftzoff mit dem Rastrelli Cel1o Quartett und Vladimir Mogilevski am Klavier. Bevor das Quartett moderne Klänge und traditionelles Liedgut spielte, wählte Kraftzoff für seinen Solo-Auftritt Max Bruchs Vertonung des ,,Kol Nidrei“, dessen Themen dem gleichnamigen jüdischen Gebet entstammen. Es wird zu Beginn vonJom Kippur angestimmt, dem höchsten jüdischen Feiertag. Der vielfach mit Preisen ausgezeichnete Mogilevski interpretierte Variationen des, Hochzeitsmarsches“ von Mendelssohn-Bartholdy kraftvoll und fein akzentuiert.

-br

Die historische Ausgabe zur 175-jähriger Jubiläum Gemeinde

    Die erste Ausgabe des Informationsblattes „Hoffnung“

Die Besucher im Jüdischen Museum mit Vorstandsmitgliedern

Dorsten / Recklinghausen, von Ralph Wilms

Der neue Vorstand der Jüdischen Gemeinde will aktiver nach außen wirken als seine Vorgänger. Dies machte die Delegation um den vor weni gen Wochen gewählten Vor sitzenden Dr. Mark Gutkin gestern bei zwei ,,Antritts-besuchen“ in Dorsten deutlich.

Im Rathaus versprach Bürgermeister Lambert Lütkenhorst einen Informationsabend für die 80 Gemeindemitglie-der aus Barkenberg. Eine ganze Fülle von Wünschen und Ideen erbrachte das ausführliche Gespräch mit dem Vor-stand des Jüdischen Museums Westfalen.
Die Gemeinde will in ihrem einstigen Schulgebäude am Recklinghäuser Steintor eine Dauerausstellung zur eigenen Historie einrichten – und setzt mit dem Museum auf Helfer von besonderer Kompetenz.

 

Gastgeber und Gäste im Jüdischen Museum (v.l.n.r.): Elisabeth Schulte-Huxel, Dr. Norbert Reichling, Boriss Kogans, der Gemeindevorsitzende Dr. Mark Gutkin, Jana Stachevski und Sr. Johanna Eichmann, die Leiterin des Museums in Dorsten

Auf internationaler Bühne

Auf zur Makkabia: Kantor Issac Tourgman, Dr. Walter Pohle (Rotary-Cluh) und Dr. Mark Gutkin (Vorsitzender der jüdischen Kultusgemeinde) verabschieden Daniel Touigman und Jevgenija Levlikina (v.l.). -FOTO: BREUER

Daniel Tourgman und Jevgenija Levlikina vertreten Deutschland bei ,,Makkabia“-Spielen der Juden in Rom

RECKTTNGHAUSEN. (bik) Daniel Tourgrnan bangt um die wohl größte sportliche Chance in seinem Leben. Der 23-jährige jüdische Basketballer erlitt ausgerechnet einen Monat vor den olympischen Spielen der Juden einen Fingerbruch.

Dabei meisterte er den langen Weg bis zur Nominierung für die Makkabia in Rom mit Glück und Können. Eher zu- fällig erfuhr er von einem israelischen Basketballer aus Herten von den Ausscheidungskämpfen. Kurz darauf erhielt Daniel einen Anruf vom deutschen Makkabia-Komitee, das ihn zum ,,try-out“ in Köln einlud. ,,Ich habe mir kaum Chancen ausgerechnet, weil dort hauptsäcltlich Regionalligaspieler und Profis dabei waren.“ Aber der serbische Trainer war angetan von Daniels Disziplin, Ruhe und vor allem von seinen spielerischen Fähigkeiten.

Für Daniel ist es eine Ehre, seine Gemeinde und Deutschland bei der Makkabia zu vertreten. Die Mannschaft besteht aus zwölf Spielern, die aus ganz Deutschland kommen. Sie werden vom 4. bis 15. Juli im olympischen Dorf in Rom wohnen. Vor vier Jahren gewann die deutsche Mannschaft Silber.  Vater Isaac Tourgman, Kantor der jüdischen Kultusgemeinde, ist stolz auf die sportlichte Leistung seines Sohnes und hofft natürlich auf eine Medaille. Auch die 27 -jährige Schachspielerin Jevgenija Levlikina aus Recklinghausen ist bei der Makkabia dabei. Sie spielte bereits in der zweiten Damen Bundesliga und hat sich dank guter Leistungen beim Vorentscheid in Berlin für die Teilnahme qualifiziert. Die Kosten für die Rom-Reise der Recklinghäuser Sportler werden vom Zentralrat der Juden, der Gemeinde und dem Rotary-Club als Sponsor gestemmt. An der Mak-kabia nehmen 15000 Sportier aus aller Welt teil, es werden 35 000 Zuschauer erwartet.

Jüdische Schule wird zum Denkmal

Historischer Rundgang: Dr. Mark Gutkin (Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde), Harold Lewin, Jürgen Pohl und Dezernent Georg Möllers (v.l.) statten das Gebäude am Steintor 5 mit einer Gedenktafel aus. -FOTO: T. BREUER

Erinnerungstafel zeigt Zerstörung und Aufbau eines geschichtsträchtigen Ortes

RECKIINGHAUSEN. (ib/the) Heute ist das Rabbi-Selig-Auerbach-Haus am Steinior 5 ein Begegnungszentrum der Juden im Kreis. Ein geschichts-trächtiger Ort. 1908 erbaut, wurde die einstige ,,Israelitische Volksschule“ während des Zweiten Weltkriegs von den Nazis nahezu komplett zerstört. Jetzt ist sie Bestandteil eines stadt historischen Rundgangs. Mit dem Anbringen der Erinnerungstafel an der ehemaligen jüdischen Schule steht das Projekt ,,Denk-Mal“ des Vereins für Orts- und Heimatkunde kurz vor der Vollendung. Insgesamt 37 denkmalgeschützte Gebäude im Innenstadtbereich sind mit Tafeln versehen worden. Ein Flyer führt zu den geschichtsträchtigen Gebäuden der Stadt. Das ,,Rabbi-Selig-Auerbach-Haus“, das älteste Gebäude der Juden in Recklinghausen, zählt dazu. ,,Es ist nicht nur die besondere Architektur, die das Gebäude so einzigartig macht, sondern auch der geschichtliche Hinter-grund“, so Jürgen Pohl, Vorsitzender des Vereins fur Orts- und Heimatkunde. Die Grundstruktur ist bis heute zu erkennen: Zwei Wohnungen im Obergeschoss und ein Klassenzimmer im Untergeschoss, von dem bis heute noch Gebrauch gemacht wird. Jüdische Kinder lernen hier Hebräisch, ftir Jugendliche und Senioren finden regelmäßig Treffen statt. Die Nähe zur Synagoge garantiert eine enge Anbindung an die Jüdische Gemeinde, 1908 wurde die jüdische Schule errichtet. 1938 fiel sie der Schreckensherrschaft der Nazis zum Opfer. In blinder Vernichtung zer-störten sie das komplette Gebäude. ,,Die Nazis schütteten die Mikve, das rituelle Bad, einfach zu“, berichtet Ge-meindemitglied Harold Lewin. Die Spuren sind bis heute sichtbar. Die Fliesen sind als Erinnerung an dieses dunkle Kapitel der Geschichte erhalten geblieben. Bis heute können gläubige Frauen in der Mikve vor ihrer Heirat ein Bad im Regenwasser nehmen, um ihre Vergangenheit ,,abzuwaschen“. Bis heute ist das Gebäude in Treuhand der Stadt. 740 000 € waren für die Restaurierung nötig. 1997 wurde es an die Jüdische Gemeinde übergeben. 650 Mitglieder aus dem gesamten Kreisgebiet zählt die Gemeinde heute. Der historische Hintergrund macht das Gebäude zum essenziellen Bestandteil des Rundgangs.

Erinnerung an den letzten Rabbiner
Aus der ehemaligen jüdischen Schule ist ein Begegnungszentrum geworden.

  • Zu Ehren des letzten Recklinghäuser Rabbiners, Dr. Selig Auerbach, wurde die von den Nazis zerstörte jüdische Schule nach ihm benannt.
  • Dr. Selig Auerbach war von 1934 bis 1938 Rabbi der jüdischen Gemeinde. Die Pogromnacht erlebte er aufeiner Reise zu Verwandten. Er kehrte nach RE zurück und flüchtete im  Dezem-ber mit seiner Familie in die USA. Dort wurde er erneut Rabbi einer jüdischen Gemeinde. 1994 starb Auerbach.

180 Jahre Jüdische Kultusgemeinde Kreis Recklinghausen

Westfirtel (tf) schalom! Dieses Wort aus der hebrähschen Sprache war gestern Abenrtr in der Synagoge der jüdischen Kultusgemeinde buchstäblich in alIer Munde. Schalom bedeutet nicht nur Frieden, der Begriff steht auch für Gesundheit, Wohlfahrt, Sichrerheit. Ruhe – ein in jedem dieser Sinne angemessener Wunsch beim Festabend zum 180-jährigen Bestehen der jüdischen Gemeinde.

Am Anfang stand ein formaljuristischer Akt, die Eintragung ins Stadtregister im Jahr 1829. Heute, 180 Jahre später, ist die jüdische Gemeinde eine lebendige und dynamische Gemeinschaft, wie ihr Vorsitzender Dr. Mark Gutkin in seiner Begrüßungsrede hervorhob. Sie ist es wieder – die Erinnerung an Nazi-Terror und millionenfachen Judenmord bleibt immer wach. Auch für Bürgeimeister Wolfgang Pantförder war dies gestern Abend, einen Tag nach dem Jom-Kippur-Fest, ein zentrales Thema: ,,Ich erinnere an die Worte unseres damaligen Ministerpräsidenten Johannes Rau zur Einweihung der Synagoge 1997: ,Wer baut, will bleiben.‘ Und man ist, um bleiben zu können, zurückgekehrt – nach unglaublichen Verbrechen, die von Mitbüigern begangen worden sind. Auch wenn es beschämend ist: Das Regime wurde mitgetragen.“

Zugleich schlug Pantförder die Brücke ins Jahr 2009: ,,Wenn wir heute auf die Gemeinde schauen, erkennen wir Stärke und Zuversicht. Ich sehe die jüdische Gemeinde als Bereicherung det Stadt an – Sie sind uns willkommen!“

Rund 700 Mitglieder zählt die jüdische Gemeinde aktuell, sie hat längst Jugend-, SeSenioren- und Sozialangebote enwickelt. Dr. Jürgen Schwark vom Vorstand der Gesellschaft fur chiistlich-jüdische Zusammenarbeit lobte die gute Kooperation seit Jahrzehnten – getragen von gegenseitigem Respekt und von Wertschätzung.
Gleichwol räumte Schwark ein, dass es auch Probleme beim gegenseitigen Verstehen gibt. Gemeint sind Sprachbarrieren, die sich nach dem Zuzug von Gemeindemitgliedern aus der ehemaligen-Sowjetunion aufgebaut haben. Schwark warb für Geduld: ,,Der Glaube versetzt Berge – aber nicht sofort.“
Gefeiert wurde im Festsaal der Synagoge am Polizeipräsidium neben dem offiziellen Teil auch. Der Gemeindlechor, Vokalensemble und eine Kindertanzgruppe sorgten für einen lockeren musikalischen Rahmen.

Sehr geehrter Herr Dr. Gutkin, sehr geehrte Gemeindemietglieder, zum 100 Jährigen Bestehen der Jüdischen Gemeinde in Reckllnghausen gratuliere ich Ihnen sehr herzlich.
Die Jüdische Gemeinde hat einen festen Platz und eine Heimat in der Gemeinschaft der großen Weltreligionen in der Stadt Recklinghausen. Durch Ihre Arbeit haben Sie in den vergangenen Jahren viel für ein gutes Zusammenleben von Juden und Nicht-juden getan. Sie haben außerdem das jüdische Leben als kulturellen Bestandteil der Stadt Recklinghausen etabliert. Jüdisches Leben in Reckling-hausen und in ganz Deutschland ist aber nicht möglich ohne die Erinnerung an die Vergangenheit. Die von mir beschriebene Normalität darf deshalb nicht dazu führen, das Geschehene zu verdrängen. Der millionenfache Mord an Menschen jüdischen Glaubens, der auch durch die Deportation jüdischer Bürgerinnen und Bürger aus Recklinghausen vor Ort greifbar wurde, bleibt als finsterstes Kapitel der deutschen wie der jüdischen Geschichte stets eine Verpflichtung. Eine Verpflichtung, dass die Opfer nicht vergessen werden. Eine Verpflichtung, dass wir jeglicher Form der Aggression. der Intoleranz, des Rassismus, des Antisemitismus und der Fremdenfeindlichkeit entschieden entgegentreten. Genauso wichtig wie die Erinnerung ist der Blick in die Gegenwart. Heute zählt Ihre Gemeinde etwa 600 Mitglieder. Eine stolze Zahl, die zugleich aber auch Verantwortung und Arbeit für Ihren Gemeinderat bedeutet. Ich möchte in diesem Zusammenhang das Engagement hervorheben, dass Ihre Gemeinde zur Integration der aus Osteuropa zugewanderten Neubürgerinnen und -bürger jüdischen Glaubens in den leisten Jahren geleistet hat. Ohne Ihre Gemeindearbeit wäre ein guter Start für viele Zuwanderer nicht möglich gewesen. Meine Glückwünsche zu Ihrem Gemeindejubiläum verbinde ich abschließend mit dem Wunsch, dass jüdisches Leben in Reckling-hausen weiter gedeihen möge. Zur Verwirklichung dieses Ziels haben Sie mich, liebe Gemeindemitglieder, dabei an Ihrer Seite.

 

Glückwunsch des Bürgermeisters von Aschdod zum 180-jährigen Jübiläum der jüdischen Kultusgemeinde Kreis Recklinghausen

Sehr geehrter Herr Dr. Gutkin!
Sehr geehrte Mitglieder der jüdischen Gemeinde in Recklinghausen!
Ich möchte Ihnen zum jüdischen Neujahrsfest Roshha-Shana und zum 180-jährigen Jubiläum Ihrer Gemeinde recht herzlich gratulieren! Wir wünschen allen Gemeindemitgliedern alles Gute, Gesundheit. Wohlstand und viel Erfolg.
Wir sind Ihnen sehr dankbar für die Spenden für unseren Kindergarten, der dem Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen ausgesetzt war. Ich möchte diese Gelegenheit nutzen, um dem Landrat Herr Süberkrüb und den Bürgermeister von Recklinghausen, Herrn Pantförder, zu dem Sieg bei den Kommunalwahlen zu gratulieren.

Mit freundlichen Grüßen

 

 

 

Dr. Ihiel Lasri, Bürgermeister von Aschdod, Israel

 

FREUNDLICHE UNTERSTÜTZUNG VON DER jÜDISCHEN GEMEINDE IN DEUTSCHLAND

dr. Mark Gutkin, Vorsitzender der Jüdischen Kultusgemeinde Kreis Recklinghausen, hat am Sonntag, 09. August 2009, dem Stellvertretenden Bürgermeister der Stadt Ashdod, Herrn Boris Gietermann, eine Spende von der Gemeinde, die 600 Gemeindemitglieder hat, überreicht. Ein großer Teil der Gemeindemitglieder nimmt an dem sozialen Leben in der Gemeinde Teil und versucht, Spenden zu sammeln für jüdische Organisationen. Sie pflegen Kontakte mit allen  religi-ösen Gemeinden in der Umgebung. Die Gemeindemitglieder verfolgen, was in Israel geschieht und versuchen, am israelischen Leben teilzunehmen. Im letzten Jahr wurde ganz groß das Jubiläum „60 Jahre Israel“ gefeiert. Herr Dr. Gutkin sagte, dass in der Vergangenheit alle Spenden, die gesammelt wurden, an verschiedene Organisationen weiter-geleitet wurden. Aber in der letzten Zeit haben die Gemeindemitglieder entschieden, die Spenden direkt an die Instituti-onen zu leiten. Z.B. 2006, nach dem Libanon Konflikt, wurden die Spenden an verschiedene Familien, die von Raketen getroffen wurden, an Nordisrael gespendet. Und diesmal hat die Gemeinde entschieden, nach dem Konflikt im Ghasa-Streifen, die Spenden die Stadt Ashdod weiterzuleiten. „Im Prinzip geht es hier um kleine, symbolische Spenden, weil viele unserer Gemeindemitglieder alte Leute sind, die aus den GUS-Staaten kommen und selber Sozialhilfeempfänger sind. Trotzdem ist es sehr wichtig für diese Menschen, mit kleinen Beträgen an diesen Aktionen teilzunehmen. So fühlen sie sich als Teil des Geschehens. Herr Boris Giterman hat sich bedankt, und sagte: „Die Unterschtützungvon der Diaspora ist sehr wichtig für den Staat Israel aber die größte Spende ist, meine Meinung nach, nach Israel einzuwandern.“ Beide Seiten haben entschieden, wenn Juden aus Deutschland nach Israel einwandern, sollen sie nach Aschdod kommen. Auf bitte von Herrn Dr. Gutkin soll die Spende (3000 Schekel) an einen Kindergarten, der von Raketen getroffen wurde, übergeben werden.

Pressedienst der Stadtverwaltung Ashdod

 

 

 

 

 

 

Synagoge wird zum „Grünen Salon“

Neue Reihe: Musik der Religionen“

WESTVIERTEL. (metz) Der  Grüne Salon“ geht auf Tournee – Bündnis 90/Die  Grünen starten eine neue  Veran-staltungsreihe. Der Titel: „Musik der Religionen – Musik der Kulturen.“ Der Auftakt ist am Dienstag, 28. April, in der Synagoge, Am Polizeipräsidium. Ab 20 Uhr spielt die Gruppe „Badeken lente gebracht. „Wir haben zwel Chore und konnten glatt drei Orchester bedienen schwärmt der Kantor Er ist überzeugt, dass viele Gemeinde-mitglieder das Kon di Kallah“ Klezmermusik.

„Wir haben nach einer etwas anderen Möglichkeit gesucht, die unterschiedlichen Gruppen und Migranten in unse-rer Stadt vorzustellen“, erklärt Ratsherr und Kulturausschussvorsitzender Holger Freitag. „Über die Brücke der Musik möchten wir auf die bedeutung und Vielfalt der Kulturen neugirig machen.“

Gern nahm die jüdische Kultusgemeinde das Angebot der Grünen an, Gastgeber für das erste Konzert zu sein. Das Ist eine Ehre für uns“, sagt Kantor Isaak Tourgman. Zu- mal das Wort Synagoge Veranstaltungsraum bedeute. Und in dem gebe es neben den Gottesdiensten auch viel kulturelles Leben. So hatte die Zuwanderung aus Osteuropa der Gemeinde nicht nur zahlreiche neue Mitglieder, sondern auch musikalische Talente gebracht. Wir haben zwei Chöre und könnten glatt drei Orchester bedienen“, schwärmt der Kantor.

Es ist überzeugt, dass viele Gemeindemitglieder das Konzert besuchen. „Wir wün  schen uns aber, dass auch andere kommen“, sagt Joachim Polnauer von den Grünen.  Denn das Interesse, einmal  die Synagoge von innen zu sehen, sei groß. „Das ist die Gelegenhelt, auch die Menschen  kennenzulernen.“

Die Gruppe Badeken di Kol- Kallah“ spielt klassisches Klezmer und Eigenkompositionen. Mal schwung, mal sehn-suchtsvoll präsentiert sie die vielen Facetten dieser traditio nellen Musik.

 

 

zum Klezmerkonzert (V.I.): der Vorsitzende der duschen Gemeinde, Dr. Mark Gutkin, Kulturausschussvorsitzender Holger Freitag, Kantor Isaak Tourgman und Joachim Polnauer von den Grünen. FOTO: SEIMETZ

Mitreißende Botschafter

Ziehen für die Konzerte an einem Strang: (v.1.) Holger Freitag (Grüne) Monika Hegemann (,,Brücke“), Dr. Mark Gutkin
flüdische Kultusgemeinde) und Rolf Nowak (lntegrationsrat). Foto: NOWACZYK

Konzertreihe vermittelt iüdische Kultur ansteckend fröhlich

INNENSTADT. (alp) Sie hat sich zum überzeugendsten Botschafter jüdischer Kultur in der Stadt entwickelt: Jetzt geht die Reihe mit fröhlicher, melancholischer und mitreißender Musik ins dritte Jahr.
Hinter dem unscheinbaren Titel ,,Musik in der Synagoge“ verbirgt sich eine Konzertreihe der Extraklasse, die keinen Zuhörer kaltlässt. Vom herzergreifenden Klezmer bis zur umwerfenden Mixtur aus Weltmusik und Jazz (rock) reicht das Spektrum. Die Reihe ist längst mehr als ein Geheimtipp: Fast immer sind mehr als 200 Zuschauer mit von der Partie, sodass der Sakralraum der Synagoge nicht ausreicht und regelmäßig auch Stühle auf die Flure geschleppt werden müssen. Dass die Reihe via Musik auch ganz nebenbei Verständigung zwischen den Kulturen leistet und für Toleranz wirbt, ist ein angenehmer Nebeneffekt. Nicht zuletzt deshalb laden die Veranstalter (die Jüdische Kultusgemeinde, die Grünen, das Auslandsinstitut,,Die Brücke“ und der Integrationsrat) auch  ausdrück-lich Menschen jeglichen Glaubens zu den Konzerten ein. Zwei der Konzerte werden dabei übrigens vom Zentralrat der Juden in Deutschland mögiich gemacht. Start der Reihe ist am 3. April. Um 17 Uhr ist die Formation ,,Klezmer chidesch mit Gofenberg and Friends“ zu Gast. Liebe, Nostalgie, Melancholie und Heiterkeit fließen in ihrer Musik zu einem Lebensgefühi zusammen. Sie mixen klassische Elemente mit fetzi-gen Jazz-Rhythmen, improvisieren über chassidische Melodien und jüdische Volkslieder. Einen großen Namen in der Szene hat auch das ,,Rosenthal & Friends Trio“. Ihre Liebe gehört dem jiddischen Klezmer, aber sie sind ebenso in Pop und lazz zu Hause (19. Juni, 17 Uhr).

Herzergreifender Klezmer und bekannte iiddische Lieder in Originalvertonung stehen im Mittelpunkt des Konzertes mit dem ,,Trio Neschume“ (11. September, 15 Uhr). Aus Musikern des bekannten ,,Transorient Orchesters“ aus dem Ruhrgebiet setzt sich die Formation ,,Nefes in motion“ zusammen, die sicherlich ganz besonders auch ein junges Publikum begeistern kann (16. Oktober, 17 Uhr). Die Gruppe macht einen Brückenschlag zwischen Orient und Okzident. Sufi-Musik trifft bei ihnen auf zeitgenössischen Jazz, traditionelle Kompositionen werden in jazzige Harmonien und Improvisationen verpackt – da bleibt kein Fuß auf der Stelle. Am Gedenktag der Pogromnacht, dem 9. November, wartet die Reihe mit einembesonderen literarisch-musika-lischen Programm auf: ,,Miri- am kann nicht schlafen“ heißt die Spurensuche, die Dramatisches und Heiter-Besinnliches mit traditioneller Klezmermusik verwebt. Der Eintritt zu allen Kon-zerten kostet jeweils nur fünf Euro, bei ,,Miriam kann nicht schlafen“ ist der Eintritt frei.

IZKORTAFEL –  zum Gedenken an die Toten

Kultur in der Synagoge

Dr. Mark Gutkin, der Vorsitzende der Jüdischen Kultusgemeinde, Brücke-Chefin Carmen Greine und Grünen-Chef Holger Freitag bei der Vorstellung des Programms „Treffpunkt Synagoge“. Foto: © Thomas Nowaczyk

RECKLINGHAUSEN – Die Grünen, „die Brücke“ und die Jüdische Kultusgemeinde am Polizeipräsidium haben das Programm für die vierte Auflage der Kulturreihe „Treffpunkt Synagoge“ vorgestellt. Die Veranstaltungen starten am 15. April und laufen bis in den November hinein.

Zuvor liefen sie drei Jahre lang unter dem Titel „Musik in der Synagoge“. 150 bis 180 Zuhörer seien jedesmal zu den Konzerten gekommen, nach Auskunft von Dr. Mark Gutkin, dem Vorsitzenden der Jüdischen Kultusgemeinde. Über sein Ansinnen sagt er: „Wir müssen unsere Gemeinde offen machen.“ Auch jetzt wieder ist die Musik tragendes Element der Kulturreihe. Den Auftakt machen „Gipsy-Gentleman“ am 15. April um 17 Uhr in der Jüdischen Kultusgemeinde. Am 10. Juni folgt dann das „Epstein’s Klezmer Tov Trio“ mit traditioneller akustischer Klezmermusik. Das Konzert beginnt ebenfalls um 17 Uhr in der Gemeinde am Polizeipräsidium. Am 14. Oktober spielt die „Hamburg Klezmer Band“. Zum Abschluss gibt es am 11. November ein „außergewöhnliches Konzert“ mit dem „violet quartet“. Der Eintritt zu den Konzerten kostet jeweils 5 Euro. Neu in der Reihe „Treffpunkt Synagoge“ ist die Idee, Schulklassen zur Auseinandersetzung mit dem Thema Judentum, Antisemitismus und Diskriminierung im Allgemeinen zu bewegen. Zwei Filme sollen gezeigt werden, „Dr. Endsieg“ und „Blue Eyed“. Ein genaues Datum für die Film-Vorführungen steht noch nicht fest. Eines sei aber sicher: Die Filme sollen gut vor- und nachbereitet werden – in der Kultusgemeinde und in der Schule.

Gedenkschaufenster mit Artefakten

 

 

 

 

 

Opfer von Riga sind nicht vergessen

Zeichen der Hoffnung: Einen Gedenkstein und zwei Bäume setzten Rolf Abrahamsohn (2.v.l.) und Landrat Cay Süberkrüb (r.) auf dem jüdischen Friedhof. Mit im Bild: Vorbeter Isaac Tourgman (l.) und Dr. Mark Gutkin, Vorsitzender der Kultusgemeinde. Jörg Gutzeit

Recklinghausen.  Auf den Tag genau vor 70 Jahren, am 3. November 1943, wurden in Riga 3000 Juden aus dem Getto in die umliegenden Wälder getrieben und dort von den Nazis ermordet. Darunter viele Menschen aus dem Kreis Recklinghausen.

Unter großer Anteilnahme nahezu aller wichtigen gesellschaftlichen Gruppen gedachte die jüdische Kultusgemeinde an diesem denkwürdigen Tag auf dem jüdischen Friedhof am Nordcharweg ihrer nach Riga verschleppten und ermordeten Gemeindemitglieder. Rolf Abrahamsohn, der letzte Überlebende des Rigaer Gettos, war gekommen, um vor allem jungen Menschen von den unvorstellbaren Verbrechen zu berichten, die er am eigenen Leib erfahren hat. Landrat Cay Süberkrüb mahnte in seiner Ansprache, dass man die Erinnerung unbedingt wachhalten müsse, denn „es war das Schweigen der Mehrheit und ihre vergifteten Gedanken“, die dem Bösen den Boden bereiteten und das schlimmste Verbrechen der Menschheitsgeschichte zuließen. Gemeinsam mit Rolf Abrahamsohn setzte der Landrat auf dem jüdischen Friedhof auch ein bleibendes Zeichen des Gedenkens: Sie pflanzten zwei Bäume als Symbol für das Leben und setzten einen Gedenkstein.

Von Alfred Pfeffer, WAZ, 03.11.2013

 

„Mit den Menschen“: MdB Frank Schwabe (SPD) eröffnet Wahlkampfzentrale

Der heimische SPD-Bundestagsabgeordnete Frank Schwabe (3.v.l.) hat gemeinsam mit seinen Unterstützern die Wahlkampfzentrale in Habinghorst eröffnet. Foto: Wengorz

„Es soll ein Wahlkampf bei den Menschen und mit den Menschen sein“, kündigt Frank Schwabe an. Am Montag (12. August) eröffnete der heimische Bundestagsabgeordnete offiziell seine Wahlkampfzentrale im SPD-Bürgerbüro an der Lange Straße 48. Diese soll in den kommenden Wochen als Anlaufstelle für Bürger-Anliegen aller Art und als Vorbereitungsort für verschiedene Wahlkampfaktionen dienen.

„Er kann nicht alles von heute auf morgen ändern, aber vor Ort mit den Bürgern zu sprechen, das ist schon viel wert“, ist Robert Mathis, Leiter der Sparte Fußball im Stadtsportverband, überzeugt. Mathis gehört, neben Dr. Mark Gutkin (Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Recklinghausen), Thomas Frauendienst, Stephan Bevc (Vorsitzender des Bezirksverbandes der Kleingärtner) und weiteren Castrop-Rauxelern zu den 100 Persönlichkeiten aus Schwabes Wahlkreis, die den SPD-Bundestagsabgeordneten bei seiner Plakatkampagne „100 für Schwabe“ unterstützen.
Rund 200 Wahlkampfhelfer sind aktuell für Schwabe im Einsatz und haben sich unter anderem um die Plakatierungen an etwa 70 verschienden Standorten im Stadtgebiet gekümmert.
„Der Kanditat auf Bundesebene“ ist der erste thematische Schwerpunkt, mit dem sich Frank Schwabe auf den Plakaten im Wahlkreis präsentiert. Bis zur Bundestagswahl am 22. September plane man noch zwei weitere „Plakatierungswellen“ mit unterschiedlicher thematischer Ausrichtung.
Zudem wird in etwa zwei Wochen der von Schwabe bereits angekündigte Wahlkampf von Tür zu Tür starten.
Als Ansprechpartner für Bürger-Anliegen wird er selbst – so die Planung – einmal wöchentlich im Bürgerbüro an der Lange Straße zur Verfügung stehen. Geöffnet ist das Büro montags bis freitags, jeweils von 10 bis 13 und von 14.30 bis 17 Uhr.
Am Mittwoch (14. August), 17 bis 22 Uhr, findet der erste Termin des „SPD-Mobils“ im Ortsverein Ickern Mitte (Ecke Heinestraße / Ruprechtstraße) statt, bei dem Schwabe und verschiedene lokale Ratsmitglieder der SPD das Gespräch mit den Bürgern suchen.

Verena Wengorz, Stadt Anzeiger

Berlin Fahrt mit KiJuPa und Jugend der jüdischen Gemeinde

Vom 13. – 16. Oktober hat der heimische Bundestagsabgeordnete Frank Schwabe Jugendliche der Jüdischen Gemeinde Recklinghausen und Mitglieder von Kinder- und Jugendparlamenten aus Castrop-Rauxel, Recklinghausen und Waltrop in Berlin zu Besuch.

„Es geht mir darum junges jüdisches Leben in meinem Wahlkreis bekannt zu machen und mit jungen Menschen jüdischen Glaubens aber auch anderen Religionen in den Austausch zu kommen. Das können wir in Berlin hervorragend tun“, so Frank Schwabe.

Das Programm ist geprägt durch Informationen über jüdisches Leben in Deutschland heute und in der Vergangenheit, über den Holocaust und den israelischen-palästinensischen Konflikt. Auf dem vielfältigen Programm stehen u.a. ein Besuch im Jüdischen Museum, der Besuch einer Synagoge und natürlich der Besuch im Deutschen Bundestag.

Begleitet wird der Besuch durch den Journalisten der Ruhrnachrichten Peter Wulle.

 

Fotomaterial wird auch durch das Büro von Frank Schwabe erstellt.

Grabsteine restauriert: Arbeiten am Jüdischen Friedhof

Oliver Langenbach von der Dortmunder Firma Langenbach (v.l.), Klaus Breuer, Heiko Dobrindt, Udo Behrenspöhler und Dr. Mark Gutkin, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Recklinghausen, vor den sanierten Grabsteinen. Foto: Wengorz

Fünf umgestürzte historische Grabsteine im Eingangsbereich des Jüdischen Friedhofs an der Oberen Münsterstraße konnten auf Initiative des Arbeitskreises Stolpersteine wieder aufgerichtet und saniert werden.

„Jetzt sind wir zu einem sehr schönen Ergebnis gekommen“, stellte Udo Behrenspöhler (SPD) fest. Die Sanierungsarbeiten wurden von dem Dortmunder Steinmetzbetrieb Langenbach durchgeführt. Unter anderem habe man die Fundamente der Steine erneuert und sie wieder aufgerichtet, so Oliver Langenbach von der ausführenden Firma. „Die Steine bleiben durch diese Maßnahmen langfristig besser erhalten“, erklärte er.
Insgesamt habe die Sanierung 2.100 Euro gekostet, die durch den Arbeitskreis Stolpersteine, die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, die SPD sowie durch eine Privatspende des Castrop-Rauxeler Hobbyhistorikers Gisbert Baranski zusammengebracht wurden.
Heiko Dobrindt, Technischer Beigeordneter der Stadt, betonte noch einmal die herausragende Bedeutung des Jüdischen Friedhofs für Castrop-Rauxel. „Für mich ist bemerkenswert, dass sich hier immer wieder Privatinitiativen engagieren“, erklärte er und verwies unter anderem auf den Einsatz der Kolpingjugend für den Erhalt der Gedenkstätte.

 

Verena Wengorz, Stadt Anzeiger

Gedenkstein auf dem Jüdischen Friedhof in Wulfen eingeweiht

Foto Bludau, Stadt Anzeiger, aus Dorsten, 31. März 2014

Unter großer Anteilnahme aus Bevölkerung und Politik wurde am Sonntagmorgen auf dem Jüdischen Friedhof in Wulfen ein neuer Gedenkstein eingeweiht. Er soll an die jüdischen Mitbürger aus Wulfen erinnern, die hier beerdigt wurden.

Da seit der Zerstörung des Friedhofes 1938 die Namen der hier beigesetzten Wulfener nur schlecht lesbar waren oder sogar ganz fehlten, sollen sie durch diese Aktion wieder ins Gedächtnis gerufen werden. Neben acht Erwachsenen-, sind hier auch drei Kindergräber zu finden. Auf Anregung der Geschichtsgruppe des Heimatvereins Wulfen 1922 e.V. wurde in Erinnerung an die jüdischen Familien Moises, Lebenstein und Levi ein so genannter Ewiger Stein nun offiziell eingeweiht.

Nach der musikalischen Eröffnung der Veranstaltung durch die Bläserklasse der Wulfener Gesamtschule, begrüßte Reinhard Schwingenheuer, Mitglied der Geschichtsgruppe des Heimatvereins, die über 200 Anwesenden. Sowohl Bürgermeister Lambert Lütkenhorst als auch der Vorsitzende der Jüdischen Kultusgemeinde Kreis Recklinghausen, Dr. Mark Gutkin, hielten nachdenkliche und emotionale Reden. Anschließend wurde der Gedenkstein enthüllt. Im Anschluss trug Isaak Tourgman, der Kantor und Vorbeter der Jüdischen Kultusgemeinde Kreis Recklinghausen, entsprechend der jüdischen Religion und Liturgie ein Gebet für die Verstorbenen vor.

Zwei Schüler der Gesamtschule, Emiliy Vogel und Tobias Fischer, lasen danach aus dem Alten Testament „Stein und Namen“ vor. Weitere vier Schüler verlasen die Namen der auf dem Friedhof Beerdigten und die im KZ umgekommenen jüdischen Mitbürger. Als Abschluss spielte die Bläserklasse unter Leitung von Thomas Klemme das Musikstück „Klezmoresque“.

Großen Bahnhof für kleine Steine

Künstler Gunter Dernnig verlegte vier Stolpersteine zur Erinnerung an ctie jüdische Familie Markus. Isaak Tourgman sprach ein Gebet

 

RECKLINGHAUSEN. Gunter Demnig ist kein Mann vieler Worte. Still und konzentriert verlegte der Künstler gestern Mittag vier seiner tolpersteine
vor dem Haus Steinstraße 12. Das Messing-Quartett im Straßenpflaster
erinnefi an das Schicksal der jüdischen Familie Markus, die bis 194i dort wohnte – damals ailerdings noch in einem anderen Haus. Die Eheleute Selma und Robert Markus und ihre Töchter Ruth und Ilse wurden von den Nazis deportien und ermordet.

Schnell hatten sich viele Menschen versa-mmelt. Offizieile und Passanten versuchten, einen Blick auf die Mini-Baustelle zu erhaschen. Viele Zuscha-uer hörten eher, was vor sich ging, als dass sie es wirklich sehen konnten. Mai drang ein leises Hämmern ans Ohr, dann wieder ein metallisches Schaben. Gunter Demnig kniete in Arbeits-kleidung auf dem Pflaster, 50 000 seiner Gedenksteine hat er seit 1993 schon europaweit verlegt.

Bürgermeister Christoph Tesche erinnerte an die Ermordeten. Robert Markus hatte, wie viele andere deutsche Juden, im Ersten Weltkrieg als Soldat ,,für Volk und Vaterland“ gekämpft. Die  Familie war aiteingesessen und angesehen“ Selma und Robert Markus betrieben an der Steinstraße ein Obst- und Gemüsegeschäft. Ab 1933 änderte sich alies. Die National-Zeitung prangerte am 51. Juli 1935 öffenllich die Besitzerin eines Kaffeegeschäfts an der Kunibertistraße an, dass sie ,,beim jüdischen Gemüsehändler Markus“ eingekauft habe. Im Oktober 1958 ließ das NS-Regime auch die gleichgeschaltete, sprich von ihm kontrollierte, Recklinghäuser Zeitung titeln: ,,Unser Markt ist judenfrei!“ Robert Markus nahm den Boykott anfangs noch mit Humor. ,,Kauft nicht bei Juden, kauft bei Markus!“, soll er seinen Kunden zugerufen haben. Georg Möllers zeichnete das weitere Schicksal der Familie Markus nach: 1941 folgte der Zwangsumzug von der Steinstraße in das sogenannte ]udenhaus an der Kellerstraße 1, im lanuar 1942 dann die Deponation mit 211 weiteren Recklinghäuser Juden nach Riga. Im dortigen Getto starben Robert Markus im Herbst 1942 und seine Frau Selma im Fnihjahr 1943. Die Töchter Ilse und Ruth wurden ins KZ Kaiserwald und später ins KZ Stutthoffbei Danzig deportiert, wo sie am 9. August 944 ankamen. Sie starben wenig später im Alter von 15 und 17 Jahren. Der Kantor der jüdischen Kultusgemeinde, Isaak Tourgman, sprach ein Gebet ,,fur die Seelen der Familie Markus und die Seelen der sechs Millionen ermordeten Juden“. Düstere Klänge spielte dazu Barbara Marreck von der Musikschule am Cello. Nach einer halben Stunde hatte Gunter Demnig seine Arbeit getan. Wihrend die Menge die neuen Steine begutachtete, fuhr der Künstler fast unbemerkt weiter nach Oberhausen – seiner dritten Station an diesem Tag.

von  Alexander Spieß, Foto: © Thomas Nowaczyk

 

„Eine tolle Erfahrung“

Maccabiade

Dr. Mark Gutkin, Vorsitzender der Jüdischen Kultusgemeinde (r.) freut sich über die Erfolge von (v.l.) Erik Gawronski, Artem Goncharov und Daniel Ruschitzki bei den Europäischen Maccabi-Spielen in Berlin. © Meike Holz

BERLIN/RECKLINGHAUSEN – „Wenn ich noch einmal die Gelegenheit bekommen würde“, sagt Artem Goncharov, „würde ich diese Chance auf jeden Fall wahrnehmen. Das war eine tolle Erfahrung.“ Diese machte der 16-Jährige nicht allein. An den Europäischen Maccabi-Spielen in Berlin nahmen auch Daniel Ruschitzki und Erik Gawronski teil.

„So erfolgreich waren unsere Sportler noch nie“, sagt Dr. Mark Gutkin, Vorsitzender der Jüdischen Kultusgemeinde, stolz. Das kann er auch sein. Die drei Jugendlichen bedankten sich für die finanzielle Unterstützung der Gemeinde auf ihre Weise: Mit sechs Medaillen im Gepäck kehrten sie zurück.

Der Sprung aufs Siegerpodest blieb Artem Goncharov mit den U18-Basketballern verwehrt. Dass am Ende Platz fünf zu Buche stand, war die Folge großen Verletzungspechs. Das deutsche Team konnte nur acht statt zwölf Spieler melden. Artem Goncharov, der bei Citybasket auf der Aufbauposition spielt, kam in Berlin als Flügelspieler zum Einsatz. „Das war für mich ungewohnt“, räumt der Recklinghäuser, der nach den Ferien am Hittorf-Gymnasium die zehnte Klasse besucht, ein. Er meisterte die Herausforderung. „Unser Erfolg“, so der 16-Jährige, „war es, dass wir wertvolle Erfahrungen gesammelt haben.“ Vor der starken Konkurrenz – die USA gewannen vor Israel und der Türkei – brauchten sich Goncharov und Co. nicht zu verstecken. „Wir haben lange mitgehalten. Am Ende ging uns aber die Puste aus“, gesteht der Basketballer offen ein.

Was ein deutsches Team in Bestbesetzung leisten kann, haben die U18-Fußballer gezeigt, die erstmals die Goldmedaille gewinnen konnten. Im Finale setzte sich die Mannschaft mit Erik Gawronski gegen die favorisierten Engländer durch. 2:2 stand‘s nach regulärer Spielzeit, sodass ein Elfmeterschießen die Entscheidung bringen musste. In dem hatte die deutsche Auswahl das bessere Ende auf ihrer Seite – 4:1. Der 17-Jährige trat selbst nicht an. „Ich war zu nervös“, gibt der Zwölftklässler des Freiherr-vom-Stein-Gymnasiums zu.

Beim 1:0-Auftaktsieg gegen Schweden war der A-Junior von Blau-Weiß Westfalia Langenbochum in der 55. Minute eingewechselt worden. Der Innenverteidiger, der auf der ungewohnten rechten Abwehrseite zum Einsatz kam, überzeugte und war fortan eine feste Größe beim späteren Turniersieger.

Als Einzelkämpfer war hingegen Daniel Ruschitzki im Einsatz. Der Schwimmer des SV Blau-Weiß gewann zwei Gold- und drei Silbermedaillen, die er mit Bestzeiten über 100 m Rücken und 400 m Freistil krönte. Dieser Erfolg war der Verdienst harter Arbeit. Vor einem Jahr nahm der Zehntklässler des Hittorf-Gymnasiums die Vorbereitung auf die Maccabi-Spiele auf. In einem Trainingslager und individuellen Einheiten bereitete sich der Recklinghäuser intensiv auf die Wettbewerbe vor. Das musste er auch. „Die Konkurrenz war sehr stark“, berichtet Daniel Ruschitzki.

Die drei Jugendlichen sahen in Berlin nicht nur ihre Sportanlagen im Olympiapark, sondern verfolgten auch das Rahmenprogramm. Das Trio war bei der Eröffnungs- und Abschlussfeier sowie Einlagespielen der Basketballer und Fußballer gegen Profi- und Promimannschaften. Großen Eindruck hinterließ bei den Jugendlichen auch der Besuch des Konzentrationslagers Sachsenhausen.

Zehn Tage lang waren mehr als 2000 jüdische Athleten, die in 19 Sportarten gegeneinander antraten, Trainer, Betreuer und Funktionäre aus 36 europäischen und außereuropäischen Staaten in Berlin zu Gast. Die 14. Europäischen Maccabi-Spielen fanden erstmals in Deutschland statt, und zwar in Berliner Olympiapark, wo 1936 jüdische Sportler von den Olympischen Spielen ausgeschlossen worden waren. „Das war etwas ganz Besonderes für uns“, sagt Fußballer Erik Gawronski.

„Ein unvergessliches Erlebnis“, bringen die Jugendlichen die Reise auf den Punkt.

 

Ex-Botschafter Mordechay Lewy warnt vor Judenhass

Dr. Mark Gutkin, Vorsitzender der Jüdischen Kultusgemeinde, begrüßte die Gäste in der Synagoge

Nachmittag der Begegnung in der Synagoge

RECKLINGHAUSEN. Die deutsch-israelischen Beziehungen waren Thema eines ..Nachmittags der Begegnung“ mit hochkarätigen Gästen in der Synagoge. Den Weg nach Recklinghausen hatte unter anderem der frühere israelische Botschafter Mordechay Lewy gefunden.

Die Jüdische Kultusgemeinde, die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit und die Stadt mit ihrem Auslandsinstitut „Die Brüchcke hatten eingeladen. Anlass war die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Deutschland und Israel vor 50 Jahren. Bürgermeister Christoph Tesche würdigte die lebendige Partnerschaft zwischen Recklinghausen und Akko.

Die Vorsitzende der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, Gerda E. H. Koch, führte anschließend ein Gespräch mit Botschafter a.D. Mordechay Lewy und Dr. h.c. Johannes Gerster. Beide sind Zeitzeugen der 50-jährigen Beziehungen, haben sie begleitet und mit gestaltet.

Beide Gesprächspartner schilderten sehr persönliche Eindrücke. Deutschland sei heute in Israel beliebt wie nie zuvor, was umgekehrt nicht gesagt werden könne. Beide Referenten warnten eindringlich vor den Folgen, wenn Kritik an der Politik Israels – berechtigt oder nicht – zu einer undifferenzierten, pauschalen Verurteilung Israels wird. Im vergangenen Sommer war es zuverba len und körperlichen Angriffen gegen deutsche Juden sowie ihre  Einrichtungen gekommen.

Fortsetzung der Beziehungen

Für die Zukunft wünschen sich die drei Gesprächspartner die Fortsetzung der stabilen und freundschaftlichen  Beziehungen beider Städte und Länder, gegenseitigen Respekt und Verständnis für die unterschiedlichen Lebensbedingungen: ,,Alle Menschen – ob Israelis oder Palästinenser oder Deutsche – wollen Frieden.“

FOTO: STADT RE

„Ein Wunder“ vor 50 Jahren – und heute?

Die Jüdische Kultusgemeinde, die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit und die Stadt Recklinghausen mit der BRÜCKE hatten gemeinsam zu einem Nachmittag der Begegnungen eingeladen. Anlass: Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Deutschland und Israel vor 50 Jahren. Zahlreiche Bürgerinnen und Bürger sowie offizielle Vertreter aus dem Kreis, den Kommunen, aus Politik und Kirchen, Institutionen und Vereinen waren der Einladung gefolgt.

Nach der Begrüßung durch den Vorsitzenden der Jüdischen Kultusgemeinde, Herrn Dr. Mark Gutkin, hörten die Gäste im übervollen Saal der Gemeinde stehend die israelische und deutsche Nationalhymne, vorgetragen vom Gemischten Chor.

Bürgermeister Christoph Tesche würdigte stellvertretend für seine z.T. anwesenden Amtskollegen die Beziehungen zwischen den beiden Staaten und hob dabei die langjährige, lebendige Partnerschaft zwischen Recklinghausen und Akko hervor.

Die Vorsitzende der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, Gerda E.H. Koch, führte anschließend ein Gespräch mit den hochkarätigen Referenten: Botschafter a.D. Mordechay Lewy und Dr. h.c. Johannes Gerster. Beide sind Zeitzeugen der 50jährigen Beziehungen, haben sie begleitet und mit gestaltet; sie informierten das interessierte Publikum über bekannte und unbekannte Ereignisse, über Höhen und Tiefen und ließen dabei auch sehr persönliche Eindrücke und Erlebnisse mit einfließen. Deutschland ist heute in Israel beliebt wie nie zuvor, was umgekehrt leider nicht gesagt werden kann. Beide Referenten warnten eindringlich vor den Folgen, wenn Kritik an der Politik Israels – berechtigt oder nicht – zu einer undifferenzierten, pauschalen Verurteilung Israels oder der Israelis wird. Im vergangenen Sommer war es zu verbalen und physischen Angriffen gegen deutsche Jüdinnen und Juden sowie ihre Einrichtungen gekommen. Das ist Antisemitismus, der in unserer Gesellschaft keinen Platz haben darf. Für die Zukunft wünschten sich die drei Gesprächspartner die Fortsetzung der stabilen und freundschaftlichen Beziehungen, gegenseitigen Respekt und Verständnis für die unterschiedlichen Lebensbedingungen, denn alle – ob Israelis oder Palästinenser oder Deutsche – die Menschen wollen Frieden. Die politischen Beziehungen geben den Rahmen, Menschen auf beiden Seiten müssen sie leben – und das erfolgt am besten durch vielfältige Begegnungen.

Das anschließende zwanglose weitere Programm leiteten israelische Lieder ein, gesungen vom Chor. Draußen (bei inzwischen besserem Wetter) setzten Beiträgen der Tanzgruppe und des Jugendzentrums der Jüdischen Kultusgemeinde das Programm fort. Auch für das leibliche Wohl war gesorgt: Vorbeter Isaak Tourgman bereitete seine berühmten Falafel zu, und die Schlange an diesem Stand nahm kein Ende. Bei Getränken und Musik waren die Gäste noch lange in Gespräche vertieft.

Eindringliche Worte

Rolf Abrahamsohn (l.) und Werner Hansch sprachen bei Gedenkfeier, FOTOS: Reiner Kruse 

Rolf Abrahamsohn und Werner Hansch sprechen bei Gedenkfeier auf dem jüdischen Friedhof

RECKLINGHAUSEN. (kg) Das Laufen fällt Rolf Abrahamsohn schwer. 90 Jahre und ein Schicksal, an dem viele längst zerbrochen wären, haben Spuren hinterlassen. Im Kopf ist der letzte Holocaust-Überlebende der jüdischen Kultusgemeinde Recklinghausen ganz klar. Seine Geschichte, die er am Sonntag beim Gedenktag auf den Friedhof  Nordcharweg verträgt, steht beispielhaft für das unvorstellbare Leid, das den Juden von den Nazis zugefügt wurde.

„Siebenmal kam ich ins KZ, siebenmal brauchte man mich noch zum Arbeiten“, berichtet Abrahamsohn von der Deportation ins Rigaer Getto, von Stutthof, Buchenwald, Theresienstadt und von der Befreiung durch die Russen im Mai 1945. Er habe „Glück gehabt“. Abrahamsohns Eltern und ein Bruder  werden ermordet. „Mein anderer Bruder ist 1940 an Diphterie gestorben. Kein Krankenhaus in Recklinghausen wollte einen jüdischen Jungen behandeln.“

 

Die Worte von Abrahamsohn, der immer am 3. November, dem Jahrestag der Ermordung von 3000 Juden in Riga, auf den Friedhof  kommt, sind eindringlich. So eindringlich, dass es Werner Hansch, dem eigentlich stets schlagfertigen Sportreporter, sichtlich schwerfällt, als Nächster ans Mikrofon zu gehen. „Mein Geschichtsunterricht in der Schule endete mit Ersten Weltkrieg“, gesteht Hansch, der 1938 in Süd zur Welt kommt. Erst im vergangenen Jahr kommt er hinter das dunkle Geheimnis seiner Familie: Hanschs Vater, Gesteinshauer auf Zeche „Klärchen“ und Kommunist, wird ein einziger Satz in seiner Stammkneipe zum Verhängnis. „Ich kann gar nicht verstehen, warum so viele Leute diesem Hitler hinterherlaufen…“ Hansch senior wird verraten, kommt für zweieinhalb Jahre zur „politischen Umerziehung“ ins KZ Buchenwald. Ich bin stolz auf meinen Vater, einen einfachen Püttmann“, sagt Werner Hansch. Ich weiß nicht, ob ich den Mut meines Vaters gehabt hätte oder ob ich nicht auch den braunen Rattenfängern auf den Leim gegangen wäre“.

,,Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus sind nicht verschwunden“, sagt Landrat Cay Süberkrüb mit Blick auf Pegida-Demos und „dumpfe Proteste gegen Flüchtlinge“. Es sei eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, rechte Parolen nicht unwidersprochen zu lassen: Wer schweigt, stimmt zu.“ Dr. Mark Gutkin, Vorsitzender der jüdischen Gemeinde, bittet inständig darum, dass sich Gräueltaten wie die der Nazis nicht wiederholen. „Ich wünsche mir, dass unsere Gemeinde weiter friedlich im Kreis leben kann.“

„Ich kann nicht vergessen“

Rolf Abrahamsohn (1.) ist Ehrenvorsitzender der jüdischen Gemeinde. Vorsitzender Mark Gutkin überreichte ihm gestern bei einer Feierstunde die Urkunde. Foto: Thomas Nowaczyk

Eine ungewollte Ehre für Rolf Abrahamsohn

WEST. (metz) Unzählige Male hat Rolf Abrahamsohn von seinem Überleben des Holocaust berichtet. „Vor und nach jedem Vortrag kann ich nächtelang nicht schlafen“, gesteht er. Trotztdem hört der 90-Jährige damit nicht auf. Gestern ernannte die jüdische Kiltusgemeinde ihn zum Ehrenvorsitzenden.

Zu dieser Ehre kann ich nur sagen, dass sie mir nicht zusteht“, betont der Marler in der voll besetzten Synagoge: „Alles, was ich getan habe, war den Toten gegenüber, und nicht, um Lorbeeren zu ernten“.

1942 wird Abrahamsohn mit 214 weiteren Recklinghäuser Juden nach Riga deportiert. Seine Familie wird ermordet. Er kommt in drei Konzentrationslager und nach einer Zwischenstation in einer Bochumer Munitionsfabrik ins KZ Theresienstadt. Dort befreit ihn die Rote Armee am 8. April 1945.

„Natürlich wollte ich nach dem Krieg raus aus Deutschland, aber die Engländer haben uns nicht nach Israel gelassen und die Amerikaner wollten uns auch nicht“, erzählt er. Rolf Abrahamsohn kehrt nach Marl zurück, baut die jüdische Gemeinde wieder mit auf und leitet sie von 1978 bis 1992. „Seit 70 Jahren möchte ich vergessen, was passiert ist, aber ich kann nicht“, gesteht er.

Vor einem knappen Jahr lernte Ich Rolf Abrahamsohn kurz vor seinem 90. Geburtstag kennen. Es war eine der bewegendsten Begegnungen in meiner Zeit als Journalist. Ich wunderte mich zunächst wie abgeklärt er über seine Zeit im Rigaer Getto, im KZ Buchenwald und in Theresienstadt sprach. Aber gerade diese Sachlichkeit gegenüber seinem eigenen Schicksal und das scheinbare Fehlen jeden Grolls, gepaart mit der Ahnung des Horrors, den Abrahamsohn durchlebt haben musste, ging mir ziemlich unter die Haut. Es ist eine Sache, über den Holocaust aus Geschichtsbüchern oder Fernsehsendungen zu erfahren. Einem betroffenen Zeitzeugen wie Rolf Abrahamsohn direkt gegenüberzustehen, ist ein anderes, intensiveres Erlebnis. Deshalb ist es wichtig, dass Leute wie er von der Vergangenheit erzählen, so lange sie leben.

von ALEXANDER SPIESS

 

Synagoge 3D Visualisierung

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Designer Oleg Minich

Synagoge 3D Visualisierung 1904 - 1938

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Präsentation des Buches „Unmöglich zu vergessen“ (09.05.2017)

 

Unmöglich zu vergessen

Das Buch enthält Geschichten von Menschen, die die Erfahrungen der Kindheit und Jugend, die während des 2. Weltkrieges fielen, in Erinnerung behalten haben. Ihre Erinnerungen, die Erinnerungen derer, die in den Bränden und Gefahren, in den faschistischen Konzentrationslagern und in den Ghettos überlebt haben, bildeten ein einziges dramatisches Epos, das an die wahre Situation der Juden während der Besatzung Jahre erinnern wird, insbesondere in den westlichen Regionen der UdSSR.

Die Autoren der Geschichten und die Redaktion danken der Leitung der jüdischen Gemeinde des Landkreises Recklinghausen, die die Idee der Erstellung eines Erinnerungsbuchs unterstützte und umfassende Unterstützung bei der Vorbereitung dieser Veröffentlichung leistete.

 

 

 

 

Rotary Club Datteln-Lippe spendet der jüdischen Kultusgemeinde Recklinghausen Geländer vor dem dem ehemaligen Toraschrein der alten Synagoge, 18.10.2018

 

 

 

 

 

 

 

 

Alter Gebetsraum im neuen Licht

Rotarier unterstützen die jüdische Gemeinde bei der Sanierung historischer Leuchter

ALTSTADT. (TN) Foto: NOWACZYK  Wie neu hängen die beiden Leuchter an der Decke im alten Gebetsraum der jüdischen Gemeinde am Westerholter Weg. Der Zahn der Zeit hatte ihnen mächtig zugesetzt. Dank einer Spende der Rotarier konnten sie nun repariert und wieder angebracht werden.

Eine schmale Wendeltreppe führt in den alten Gebetsräum der jüdischen Gemeinde. Nach dem Zweiten Weltkrieg und bis ins Jahr 1996 versammelten sich die Gläubigen hier zum Gebet unter dem Dach. Unter den wenigen Gegenständen, die nach der Reichspogromnacht 1938, in der die Nationalsoziallsten die alte Synagoge an der Limperstraße in Brand steckten, gerettet werden konnten, waren zwei Deckenleuchter. Diese wurden nun umfangreich restauriert. Möglich wurden diese Arheiten erst durch eine Spende des Rotary-Clubs Datteln-Lippe, der so die „Erinnerungs kultur an die Geschichte der will“, wie es Mitglied Udo Hollmann formuliert. Insge-samt wurden 2600 Euro investiert und die Deckenleuchter gleichzeitig mit moderner LED-Technik ausgestattet. Dabei wurden auch alle Kabel in den Leuchtern erneuert. Eine nicht alltägliehe Aufgabe für Elektrotech-nikermeister Andre Stengler aus Oer-Erkenschwick, der die Arbeiten durchführte. In den kommenden Monaten wollen die Mitglieder der jüdischen Gemeinde den alten Gebetsraum in ein Bildungszentrum umbauen, wie ihr Vorsitzender Dr. Mark Gutkin gestern bekannt gab. Derzeit sind in dem Raum vorrangig Bücher und Unterlagen gelagert, „Im kommenden Jahr feiern wir als Gemeinde unseren 190. Geburtstag, bis dahin wollen wir das schaffen“, kündigte der Vorsitzende an. Neben den historischen Deckenleuchtern aus Messing sind unter anderem noch einige Wandleuchten und die Wandvertäfelung aus Holz erhalten. Auch sie zieren den relativ kleinen Raum unter dem Dach, der nur über eine schmale Wendeltreppe zu erreichen ist.

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Fenster werden mit den Reproduktionen der Themenfenster-Folien beklebt

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Foto: Udo Hollmann

Die Fotos der Original Themenfenster, deren Reproduktionen in Bibliothek nachgebaut worden sind, Foto: Foto-Designerin Ilona Voss-Arnt

Das Gebäude der Gemeinde vor und nach Renovierung, 2018

Alte Synagoge, heutzutage ist hier die Bibliothek

190 Jahre Jüdische Kultusgemeinde Kreis Recklinghausen

LIVHT DES JUBILÄUMS

v. l. n. r.: Cay Süberkrüb (SPD), Landrat des Kreises Recklinghausen; Friederike Zurhausen, Polizeipräsidentin des Polizeipräsidiums Recklinghausen; Dr. Mark Gutkin, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Recklinghausen; Zwi Rappoport, Vorsitzender des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Westfalen-Lippe; Michael Zachäus, erster Polizeihauptkommissar, Leiter der Polizeiwache Recklinghausen. Foto: Alexander Libkin

Seit 190 Jahren wird in der jüdischen Gemeinde Recklinghausen ein vielfältiges und buntes Leben praktiziert. In feierlichem Rahmen wurde dieses Jubiläum in der Synagoge zelebriert. Zahlreiche Gäste aus Politik, Kirche und öffentliche Amtsträger erwiesen der Gemeinde ihre Aufwartung. „Ich freue mich, dass Sie so zahlreich gekommen sind, um mit uns zu feiern“, erklärte Dr. Mark Gutkin, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Kreis Recklinghausen. Mit dem musikalischen Vokalensemble, das den Psalm 1 von Louis Lewandowski, der für die Neubelebung der jüdischen Liturgie große Bekanntheit erlangte, gesanglich vortrug, startete die Zeremonie. Cay Süberkrüb, Landrat des Kreises Recklinghausen, mahnte, wachsam zu sein vor den Menschen, die rechtes Gedankengut verbreiten wollen, und appellierte, gegen Antisemitismus und Rassismus Stellung zu beziehen und Flagge zu zeigen. „Wir bauen Brücken und beseitigen Brüche“, so Süberkrüb. „Es kann doch nicht sein, dass jüdische Mitbürger davor gewarnt werden müssen, eine Kippa zu tragen. Das bereitet mir große Sorgen. Ich bin mir jedoch sicher, dass wir den Rechten den Nährboden entziehen können.“ Recklinghausens Bürgermeister Christoph Tesche empfand es als Ehre, gemeinsam mit der jüdischen Gemeinde zu feiern. „Das Schönste ist, dass wir gemeinsam die Feierlichkeitenbegehen“, so Tesche. „Wir dürfen nicht vergessen, sondern müssen uns an die Gräueltaten erinnern“, plädierte der Bürgermeister nachdrücklich. Mit Toleranz, Barmherzigkeit und Nächstenliebe überwinden wir die Anfeindungen von rechts. „Wir leben gemeinsam mit unseren jüdischen Freunden in großer Verbundenheit.“ Auch Abraham Lehrer, Vizepräsident des Zentralrats der Juden, stellte seine Sicht der Juden, stellte seine Sicht der aktuellen Situation dar und sah in seinem Resümee Licht, aber auch zu viel Schatten. Die Demos für Toleranz machten ihm Mut. Der Aufmarsch der Neonazis und die Angriff e auf Rabbiner erfüllten ihn mit großer Sorge. „Wir sollten unsere Aufmerksamkeit auf das Licht lenken und uns vor Augen führen, mit welch unfassbarer Energie die Überlebenden des Zweiten Weltkrieges überall in Deutschland neue Gemeinden aufgebaut haben“, so Lehrer. Zeitzeugen seien wichtig, um den Zahlen ein Gesicht zu verleihen. Sie schaff ten Empathie und könnten kein Geschichtsbuch ersetzen. Filmaufnahmen könnten die Schilderungen und Erfahrungen der Überlebenden nicht ersetzen. Zwi Rappoport, Vorsitzender des Landesverbandes Westfalen-Lippe, drückte in seinen Worten aus, dass die deutsche Demokratie, die er als sehr wehrhaft empfindet, jüdischem Hass vieles entgegensetzen könne. Eine Handvoll Überlebende kehrten nach dem Krieg in ihre Heimat zurück, lösten sich aus ihrer Erstarrung und gaben jüdisches Wissen weiter. „Nach der Wiedervereinigung wurden die Zuwanderer aus Russland gut aufgenommen. Das war eine große Integrationsleistung“, so Rappoport. Bereits im XV. und XVI. Jahrhundert gab es in Recklinghausen jüdisches Leben. 1829 wurde der Grundstein für die heutige Gemeinde mit dem Eintrag in das Vereinsregister gelegt. Am 20. und 21. August 1880 konnte die erste Synagoge eingeweiht werden. Als die Mitgliederzahlen auf rund 500 stiegen, wurde der Wunsch nach einer neuen Synagoge laut, die 1906 an der Limperstraße in Recklinghausen eingeweiht wurde. Einen tiefen Einschnitt bildet die Reichsprogromnacht, in der die Synagoge zerstört wurde. Die letzten 110 Gemeindemitglieder wurden 1942 nach Riga deportiert. Die 15 Überlebenden kehrten in die Ruhrfestspielstadt Recklinghausenzurück, um eine neue Gemeinde aufzubauen. Die dritte Synagoge wurde 1955 eingeweiht. Nach der Wiedervereinigung erlebte die Gemeinde eine Renaissance. Die Mitgliederzahl erhöhte sich rasant auf 600, so dass der Bau einer neuen Synagoge beschlossen wurde. Die Eröffnung erfolgte 1997. Zwei Jahre später löste sich die Gemeinde aus der Verbundgemeinde Bochum/Herne/Recklinghausen und ist seitdem wieder selbständig. Passend zum Neujahrsfest erklang zum 190. Jubiläum schließlich auch der Schofar. Außerdem plant die Gemeinde, eine neue Torarolle schreiben zu lassen.
Ulrich Nickel

Manfred de Vries, Dr. Mark Gutkin,
Fotos: Alexander Libkin

Flyers zum 190. Jahrestag der jüdischen Gemeinde Recklinghausen

Recklinghausen, Synagoge neuer Chanukka Leuchter auf der Terasse der Synagoge

Dr. Mark Gutkin, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Recklinghausen
Foto: Jörg Gutzeit / Recklinghäuser Zeitung

UND DIE CHANUKKIA WIRD LEUCHTEN!

Die Idee, eine große Chanukkia auf der Straße zu errichten, gibt es in unserer Gemeinde schon ziemlich lange. Es wurden sogar einige, wie sich später herausgestellt hat, nicht sehr erfolgreiche Versuche unternommen: Mal war das Material für ihre Herstellung falsch gewählt, mal harmonierte das Aussehen der Chanukkia nicht mit der  Fassade des Gemeindehauses, mal gab es Schwierigkeiten mit der Montage und der Sicherheit bei dem Zünden der Lichter. Es gab auch andere Gründe, die unseren Ansprüchen nicht genügten und es lange Zeit nicht erlaubten, die Idee in vollem Umfang umzusetzen.

Und nun ist es der alten Idee endlich bestimmt, realisiert zu werden – im Jubiläumsjahr des 190-jährigen Bestehens unserer Gemeinde und kurz vor der Chanukka-Feier. Unsere elektrische Straßen-Chanukkia, hergestellt von der Schlosserei Stallmann in Recklinghausen, wiegt etwa 100 Kilo und ist zweieinhalb Meter hoch. Genauso groß ist auch die Breite ihrer Äste. Das Chanukkia-Licht wird ferngesteuert, mit Hilfe einer Fernbedienung, auf der man jedes Mal die nötige Zusammensetzung der Lichter einstellt. Das gab uns die Möglichkeit, die Chanukkia auf dem Balkon im 2. Obergeschoss zu platzieren und ihre Lichter mehr als 10 Meter über den Boden anzuheben. Es ist bekannt, dass die Chanukkia eines der Erkennungssymbole der Juden ist und dass es von alters her üblich war, Chanukkia-Leuchter vor dem Gebäude aufzuhängen, die Welt so an das Wunder von Chanukka erinnernd. Und nun können wir, wenn Chanukka kommt, erstmals unsere geistige Stand-haftigkeit und den Sieg des Heiligen über das Unheilige, des Lichtes über die Dunkelheit o… en demonstrieren.

Verdienstorden für HolocaustÜberlebenden aus Marl

Ministerpräsident Armin Laschet heftet Rolf Abrahamsohn den Verdienstorden des Landes an

Er gehört zu den wenigen deutschen Juden, die noch selbst über das Unheil berichten können, das Juden in der NS-Zeit widerfahren ist. Und er setzt sich mit großem Engagement gegen das Vergessen ein: Dafür ist Rolf Abrah-amsohn (94) mit dem Verdienstorden des Landes Nordrhein-Westfalen ausgezeichnet worden. Ministerpräsident Armin Laschet überreichte die Auszeichnung am 06.01.2020 persönlich in Marl. Mit dem Landesverdienstorden ehrt die Landesregierung Bürgerinnen und Bürger für herausragende Verdienste um das Gemeinwohl und um das Land NRW. Rolf Abrahamsohn hat sich diese Verdienste erworben, weil er die Erinnerung an das Menschheits-verbrechen des Holocaust und seine Opfer wachhält, indem er unter anderem Schülerinnen und Schülern berich-tet, welche Grausamkeiten die Nationalsozialisten seiner Familie und ihm aufgrund ihres jüdischen Glaubens angetan haben.
Rolf Abrahamsohn wurde als Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie in Marl geboren. Während der Zeit des Nationalsozialismus wurde er aus seiner Heimatstadt vertrieben und nach Riga deportiert. Er überlebte sieben Arbeits- und Konzentrationslager. Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte Abrahamsohn nach Marl zurück. Von seiner Familie aber überlebte niemand.
„Rolf Abrahamsohn ist einer der letzten noch lebenden Zeitzeugen der menschenverachtenden Ideologie der Nazi-Diktatur“, sagte Ministerpräsident Laschet in seiner Laudatio. „In sieben Konzentrations- und Arbeitslagern hat er selbst ein unvorstellbares Martyrium erlebt. Es ist Rolf Abrahahmsohns überragendes Verdienst, dass er die men-schliche Größe und Kraft aufgebracht hat, bei uns in Nordrhein-Westfalen die Erinnerung an die Nazi-Diktatur und an den Holocaust wachzuhalten.“
Durch seine Besuche in Schulen habe Rolf Abrahamsohn dazu beigetragen, dass nichts vergessen werde und dass vor allem die Opfer nicht vergessen würden. Laschet betont: „Rolf Abrahamsohns Lebensweg ist für uns alle eine Mahnung, dass wir immer wachsam bleiben müssen gegenüber jeder Form von Rassismus und Antisemitismus.“
Der gebürtige Marler setzte sich für die neu gegründete Jüdische Kultusgemeinde Bochum/Herne/Re-cklinghausen ein und war von 1978 bis 1992 deren Vorsitzender. Seit 2016 ist Rolf  Abra-hamsohn Ehrenvorsitzender der Jüdischen Kultusgemeinde Recklinghausen. Er war im Vorstand der Jüdischen Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit aktiv und hat den Aufbau des Jüdischen Museums in Dorsten intensiv unterstützt und begleitet.
Laschet macht deutlich: „Ohne das herausragende Engagement von Rolf Abrahamsohn wäre das Jüdische Leben im Ruhrgebiet nicht das gleiche, wie wir es heute vorfi nden. Gemeinsam mit anderen Holocaust-Überlebenden hat er jüdisches Leben im Ruhrgebiet und in Nordrhein-Westfalen erst wieder möglich gemacht.“
2011 ist Rolf Abrahamsohn vom Kreis Recklinghausen die Vestische Ehrenbürgerschaft verliehen worden.

RECKLINGHÄUSER ZEITUNG, Fotos: Mark Hermenau (Land NRW)

Ehrung im Hause Abrahamsohn. Ministerpräsident Armin Laschet (2.v.r.) hat Rolf Abrahamsohn (2.v.l.) am 06.01.2020 im Beisein von Landrat Cay Süberkrüb (l.) und Bürgermeister Werner Arndt (r.) mit dem  Verdienstorden des Landes Nordrhein-Westfalen ausgezeichnet

Zum 95-jährigen Geburtstag von Rolf Abrahamsohn

Am 9. März 2020 feierte Rolf Abrahamsohn, einer der ältesten Mitglieder unserer Gemeinde, sein 95. Wiegenfest. Als einer der letzten verbliebenen Zeitzeugen können wir Rolf Abrahamsohn getrost als lebende Legende bezei-chnen, welche die Schrecken des Holocaust aus eigener Erfahrung eindrucksvoll schildern kann.
Nach Zwangsarbeit und Aufenthalt in den Konzentrationsla gern von Riga, Stutthof, Buchenwald, Bochum und Theresienstadt, war er der einzige Überlebende seiner gesamten Familie. Rolf Abrahamsohn scheute auch nicht davor zurück, nach seiner Befreiung in die ursprüngliche Heimat zurückzukehren. Er wirkte aktiv an der Wieder-belebung des jüdischen Lebens in dieser Region mit und stand schließlich über einen langen Zeitraum der Gemei-nde Bochum-Herne-Recklinghausen vor.
Wir gratulieren von ganzem Herzen Rolf Abrahamsohn zu seinem wunderbaren Jubiläum und wünschen ihm viel Gesundheit, Glück, Wohlstand und ein langes Leben.
                                   Im Namen der jüdischen Gemeinde Kreis Recklinghausen
                                                                                                       Dr. Mark Gutkin

 

 

Dr. Mark Gutkin und Rolf Abrahamsohn

Zehn weitere Stolpersteine

Drei Verlegeorte in Castrop, Habinghorst und lckern

Zehn weitere Stolpersteine hat der Künstler Gunter Demnig (l.) an drei Orten in Castrop-Rauxel verlegt. Unterstützt wurde er von Yvonne Wittenbreder-Molloisch vom Aktionsbündnis Stolpersteine Castrop-Rauxel und von Dr. Mark Gutkin, Vorsitzender der Jüdischen Kultusgemeinde Recklinghausen. FOTO: Thiele

Rund neuneinhalb Jahre nach den ersten Stolpersteinen zur Erinnerung an Bürger jüdischen Glaubens hat der Künstler Gunter Demnig am Dienstag (23. Juni) zehn weitere Stolpersteine in der Europastadt verlegt.

Das „Aktionsbündnis Stolpersteine Castrop-Rauxel“ hatte Demnig nicht nur in die Altstadt, sondem auch -nach Ickem und Habinghorst gebeten. Bereits zum fünften Mal wurden Stolpersteine verlegt, zum ersten Mal am 5. No-vember 2010.

Mit der Aktion Stolpersteine werden Juden geehrt, die in Castrop-Rauxel ihre Wohn- oder Wirkungsstätte hatten und während der Nazi-Herrschaft verfolgt, deportiert und ermordet wurden. Vor dem Haus, in dem die zu ehren-den Personen zuletzt aus freien Stücken gewohnt haben, werden die Steine dauerhaft im Gehweg eingelassen.

Fünf neue Stolpersteine erinnern an der Lönsstraße 6 (ehemals Kaiser-Friedrich-Straße) an Familie Feuerstein. Sie hatte ein Haushaltswarengeschäft, war jüdischen Glaubens und hatte die polnische Staatsbürgerschaft . Diese Fa-milien jüdischen Glaubens mit polnischer Staatsbürgerschaft wurden Ende Oktober 1938 von den National-sozialisten aus ganz Deutschland nach Polen abgeschoben. Alle fünf Mitglieder der Familie Feuerstein, die Eltem und die drei Söhne, sind später von den Nazis ermordet worden. An der Oskarstraße 60 in Habinghorst erinnem vier Stolpersteine an Familie Nathan. Walter Nathan war die letzte Person, die 1939 auf dem alten jüdischen Fried-hof zu Castrop bestattet wurde. In Ickem an der Kirchstraße 17 wurde ein Stolperstein für Hans-Otto Körbs verleg.
Er war für die Kommunistische Partei im Stadparlament. Hans-Otto Körbs ist, nachdem er sich abfällig über Hitler und Göring geäußert hatte und die Nazis für den Reichstagbrand veran-twortlich gemacht hatte, denunziert worden, daraufhin verurteilt und nach Verbüßung seiner Gefängnisstraße ins KZ Esterwegen gebracht worden (,,Schutzhaft“). Er hat die NS-Zeit überlebt.

Der Besuch der Jüdische Kultusgemeinde Kreis Recklinghausen von Carina Gödecke erste Vizepräsidentin des Landtags NRW.

Es war Carina Gödecke MdL, Vizepräsidentin des NRW-Landtags und Trägerin der Josef-Neuberger-Medaille der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf sowie der  Dr.-Ruer-Medaille der Jüdischen Gemeinde Bochum-Herne-Hattingen, und mir ein wirkliches Herzensanliegen die jüdische Kultusgemeinde in Recklinghausen zu besuchen. Ihr Vorsitzender Dr. Mark Gutkin führte uns und einige SPD-Ratskandidaten durch die Geschäftsstelle und die Synagoge, diskutierte mit uns über die Arbeit der Gemeinde. Mir war es als Bürgermeisterkandidat anläßlich des Besuches wichtig zu betonen, dass Recklinghausen eine weltoffene, bunte und tolerante Stadt ist, in der alle Religionen zu Hause sind und Fremdenfeinlichkeit oder Antisemitismus keinen Platz haben. Ich bin sicher, dass dies auch nach der Kommunalwahl am 13. September der Fall ist.

Autor: Andreas Becker

Gläubige arbeiten für den Frieden

Freuen sich auf den Auftakt in der Synagoge: (v.l.) Beatrix Ries, Ahmad Aweimer, Mark Gutkin, Hartmut Dreier und Isaac Tourgman. -FOTO: MUNKER

WEST. Am Sonntag startet das 20. Abrahamsfest mit einer Auftaktfeier in der Synagoge. Coronabedingt finden dort nur 30 ausgewählte Gäste einen Platz. Andere Teilnehmer können jedoch online dabei sein.

Eigentlich war alles anders geplant. Eigentlich. Doch dann wirbelte die Corona-Pandemie die Vorbereitungen des 20. Abrahamsfestes durcheinander. Die Feier begehen Christen, Juden und Muslime gemeinsam. „Wir sind derzeit bei Plan B“, sagt Dr. Mark Gutkin von der jüdischen Kultusgemeinde „von Plan C konnten wir uns verabschieden.“ Letzterer hätte bedeutet, dass keine Auftaktveranstaltung in dem jüdischen Gotteshaus hätte stattfinden können. Nun also Plan B. „Wir laden nur 30 Personnen ein“, erklärt Dr. Mark Gutkin weiter. Diese Gästeanzahl findet nach Coronabestimmungen Platz in der Synagoge. Jeweils sechs Plätze davon können die drei Religionen frei vergeben. Zwölf sind für geladene Besucher reserviert, darunter Bürgermeister Christoph Tesche, Landrat Cay Süberkrüb, Werner Arndt (Bürgermeister der Stadt Marl) Serap Güler (Staatssekretärin des Landtages), Carina Gödecke (Vizepräsidentin des Landtages) und Dorothee Feller. Die Regierungspräsidentin wird eine Rede zum Thema „Zusammenleben über alle Grenzen hinweg – Chancen und Sorgen der Generationen hier und heute“ halten. Unterstützung erhält sie von jeweils einem christlichen, jüdischen und muslimischen Jugendlichen. Die jungen Menschen diskutieren über ihre persönlichen Befürchtungen und Hoffnungen.

„Wir positionieren uns deutlich gegen den wieder entflammten Rassismus. Davon sind wir alle betroffen und hoffen durch unsere Arbeit auf eine bessere Zukunft. Wir arbeiten alle gemeinsam für den Frieden“, sagt Ahmad Aweimer , Zentralrat der Muslime in Deutschland. Isaac Tourgman, Kantor der jüdischen Gemeinde, fügt hinzu: ,,Corona wird vorübergehen, doch es gibt andere Seuchen, die Bestand haben: Rassismus und Antisemitismus. Dagegen kämpfen wir jedes Jahr und hoffen, dass unsere Kinder und Enkelkinder das nicht mehr erleben müssen.“

Von Bianca Munker, Recklinghäuser Zeitung

INFO: Wer die Übertragung sehen möchte, hat unter Youtube (Abrahamsfest Marl), Facebook (@abrahamsfestmarl), Instagram (@abrahamsfest marl), oder www.abrahamsfest-marl.de die Möglichkeit.

Das erste Licht leuchtet

Die jüdische Kultusgemeinde feiert Chanukka. Das Fest dauert acht Tage.

Dr. Mark Gutkin (l.) und Isaac Tourgman entzünden das erste Licht des Chanukkia. —FOTO: MUNKER

West. (bimu) Seit gestern feiern Menschen jüdischen Glaubens Chanukka. Dabei wird jeden Abend ein Licht am neunarmigen Leuchter entzündet. Aus diesem Anlass zündeten Dr. Mark Gutkin, Vorsitzender der jüdischen Kultusgemeinde, und Kantor Isaac Tourgman die erste Kerze an. Und das zwei Mal.
Denn die Gemeinde besitzt zwei Chanukkia, wie der Leuchter genannt wird. Der Größere befindet sich auf einem Balkon der Synagoge. Sein elektrisches Licht wurde bequem per Fernbedienung eingeschaltet. Der Kleinere steht im Inneren des Gotteshauses. Wer sich wundert, warum auf unserem Foto zwei brennende Kerzen zu sehen sind: Das neunte Licht in der Mitte dient lediglich als „Diener“, nur mit diesem dürfen die anderen angezündet werden. Es brennt jeden Tag. Eigentlich feiert die Gemeinde Chanukka mit Mitgliedern und Gästen. Das muss dieses Jahr coronabedingt ausfallen. „Wir haben allen 570 Gemeindemitgliedern Geschenktüten mit Wein, Kuchen aus Israel und einem Chanukka-Leuchter vorbeigebracht“, sagt Dr. Mark Gutkin. Traditionell essen Juden während Chanukka abends Speisen, die in Öl gebraten oder gebacken wurden wie Berliner Ballen. Dr. Mark Gutkin und Isaac Tourgman freuten sich gestern auf leckere Reibekuchen.

Chanukka erinnert an die Befreiung aus griechischer Herrschaft, die zweite Weihe des Tempels und an ein Lichtwunder. Das diesjährige Fest endet am 18. Dezember.

Gegen das Vergessen

Fünf weitere Stolpersteine an der Bochumer Straße 111 in Recklinghausen verlegt

Vor dem Haus Bochumer Straße 111 erinnern Stolpersteine an die Familie Markus. Bei der Gedenkfeier gegen das Vergessen (v.l.): Bürgermeister Christoph Tesche, Manfred de Vries, der Sohn von Martha de Vries (geb. Markus), ihre Tochter Inge Steindler und ihr Ehemann Georg Steindler sowie Georg Möllers vom Verein für Orts- und Heimatkunde. Quelle: Foto: Stadt RE, hochgeladen von Lokalkompass Recklinghausen.

An der Bochumer Straße 111 in Recklinghausen sind fünf weitere Stolpersteine verlegt worden.
„Man stolpert mit dem Kopf und dem Herzen.“ So wurde Gunter Demnigs Gedenk-Projekt Stolpersteine schon beschrieben. Demnig erinnert an die Opfer der NS-Zeit, indem er vor ihrem letzten selbstgewählten Wohnort Gedenktafeln aus Messing in den Bürgersteig verlegt. In 1265 Kommunen Deutschlands und in 21 Ländern Europas bilden Stolpersteine einen Gedenkort. Als Teil der Recklinghäuser Gedenkkultur wurden und werden auch in Recklinghausen Stolpersteine verlegt, die ein Zeichen gegen das Vergessen der Opfer der NS-Diktatur setzen.
Nun sind fünf weitere Stolpersteine an der Bochumer Straße 111 in Recklinghausen verlegt worden.

Erinnerung an die Familie Markus

Sie erinnern an die Familie Markus und erzählen in knappen Daten die Lebensgeschichte der jüdischen Familie. Von Felix Markus und seiner Ehefrau Julie Markus, von deren Töchtern Dina und Martha Markus und von Heinrich Hanau, dem Bruder von Julie Markus.
„Stolpersteine“, sagte Bürgermeister Christoph Tesche in seiner Rede, „sind Mahnmale zur Erinnerung an die Opfer. Sie sind eine Warnung vor den Tätern. Sie sind ein Zeichen von Trauer und Respekt vor den Opfern. Sie dienen als Mahnung, dass sich diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit niemals wiederholen dürfen. Wir stehen hier mit dem unbedingten Willen, nicht zu vergessen.“
Er erinnerte daran, dass die Familie zu den alteingesessenen Poahlbürgern der Stadt gehörte. Die Brüder Alex, Felix und Robert Markus betrieben mit ihren Ehefrauen Obst- und Gemüsegeschäfte in der Innenstadt, in Süd und auf dem Wochenmarkt.
An ihre Biographien erinnerte Georg Möllers vom Verein für Orts- und Heimatkunde und ehrenamtlicher Bearbeiter des städtischen Online-Gedenkbuches. 2014 hatte der Rat der Stadt in einem Beschluss zur Gedenkkultur die Erarbeitung der Biographien der Opfer der NS-Diktatur in einem Online-Gedenkbuch und die anschließende Verlegung von Stolpersteinen zum Gedenken beschlossen.

1941 Einzug in eines der „Judenhäuser“

1941 mussten die Eheleute Felix und Julie Markus mit ihrer Tochter Martha ihr Haus an der Bochumer Straße 111 verlassen und wie alle Juden in eines der fünf von den Nazis so bezeichneten „Judenhäuser“ der Stadt ziehen. Heinrich Hanau war auch dabei. Am 24. Januar 1942 erfolgten die Deportationen von insgesamt 95 Erwachsenen und zehn Kindern aus den Häusern. Im Transport, der Dortmund am 27. Januar 1942 verließ, befanden sich auch die Familie Julie und Felix Markus mit Tochter Martha und Heinrich Hanau.
Der Zeitpunkt des Todes von Heinrich Hanau im Ghetto kann nicht mehr bestimmt werden. Dies gilt ebenso für Julie und Felix Markus. Dina Markus wurde 1942 nach Auschwitz deportiert und dort getötet.
Einzige Überlebende war die damals 22-jährige Martha Markus. Nach ihrer Rückkehr nach Recklinghausen musste sie den Tod von 24 Familienmitgliedern beklagen, davon stammten drei aus der unmittelbaren Verwandtschaft von Ludwig de Vries aus dem Emsland, den sie in Recklinghausen heiratete.
Ludwig und Martha de Vries gehörten zu den wenigen überlebenden Gemeindemitgliedern, die jüdisches Leben nach der Shoah in Recklinghausen wieder aufbauten.

Mahnmal der Holocaust-Opfer

1948 stiftete das Ehepaar das Mahnmal der Holocaust-Opfer auf dem Jüdischen Friedhof. Ludwig de Vries (1904-1958) leitete bis zu seinem Tod die Gemeinde. Martha de Vries wurde nach ihrem Tod am 30. Dezember 1988 neben ihrem Mann auf dem Jüdischen Friedhof beigesetzt.
Zur Enthüllung der Stolpersteine waren eigens die Kinder von Martha und Ludwig de Vries, Manfred de Vries sowie Inge Steindler, angereist. „Es ist schwer, diese Steine zu setzen, und heute war es schwer, für die eigenen Eltern diese Steine zu setzen“, sagte Manfred de Vries. „Leider hat der Antisemitismus wieder zugenommen. Wir müssen alles tun, dass Menschen verstehen, dass das falsch ist. Doch die meisten Menschen trauern wegen dem, was geschehen ist. Das ist der richtige Weg.“
Aufgrund der Corona-Krise fand die Verlegung der Stolpersteine in einem kleinen Kreis statt.

Dr. Mark Gutkin und Isaac Tourgmann

Anwesend waren neben anderen Dr. Mark Gutkin und Isaac Tourgmann von der Jüdischen Kultusgemeinde.
Isaac Tourgmann, Kantor der Jüdischen Kultusgemeinde, sprach ein Gebet für die Seelen der Familie Markus und die Seelen der Millionen ermordeten Juden, die in den Vernichtungslagern von Auschwitz und in vielen anderen Konzentrationslagern gequält und ermordet wurden.
Anwesend waren auch Vertreter der Ratsfraktionen und Schuldezernent Dr. Sebastian Sanders. Johannes Ruddek vom Theodor-Heuss-Gymnasium spielte während der Verlegung Gitarre.

Beteiligung Recklinghäuser Schulen

Die Gedenkkultur ist wichtiger Baustein für die Gegenwart mit großer Beteiligung der Recklinghäuser Schulen. Sie konnten aufgrund der Corona-Pandemie nicht teilnehmen. Eine größere Veranstaltung mit Schülern und Manfred de Vries soll zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen.

Das „Mabat“-Projekt der Gemeinde von Recklinghausen

Der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Recklinghausen Mark Gutkin überreicht die Laptops im Rahmen des „Mabat“-Projekts. FOTO: ALEXANDER LIBKIN

Schon seit einigen Jahren ist das Thema Digitalisierung immer öfter in Zeitschriften und Zeitungen präsent und wird lebhaft im Fernsehen und in Inter-net-Foren diskutiert. Immer mehr Menschen auf der ganzen Welt können sich ein Leben ohne moderne Technologien nicht mehr vorstellen, der Arbeits-alltag und das Privatleben von Millionen wird in die virtuelle Welt übertragen. Soziale Netzwerke ersetzen nach und nach persönlichen Kontakt, flack-ernde elektronische Buchstaben von e-Books ersetzen das Lesen richtiger Bücher und die Cyberkultur verdrängt das Kulturerbe der Menschheit im Bewusstsein der Jugendlichen. Wir sind Zeugen hitziger Streitereien zwischen Befürwortern und Gegnern dieses Prozesses geworden.

Doch dann kam das Jahr 2020, welches die Meinung vieler zu diesem Thema von Grund auf verändert hat. Die Digitalisierung der unterschiedlichen
Lebensbereiche in heutiger Zeit wurde unter den aktuellen Umständen zur einzigen Lösung. Bei Quarantäne-Bedingungen ist es sehr wichtig, die Mög-lichkeit zu haben, zu kommunizieren, neues Wissen und Fähigkeiten zu erlangen und das Gefühl zu bekommen, dass man nicht der Einzige in dieser Lage ist. Was noch vor Kurzem seltsam und unnötig schien, ist zum Alltag geworden und hat unser Leben wenigstens etwas interessanter und bedeutungsvoller gemacht.

In dieser Situation ist das Projekt „Mabat“ der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland sehr willkommen: Kindern und Jugendlichen aus Familien in schwieriger finanzieller Lage die Teilnahme an verschiedenen virtuellen Treff en und Projekten zu ermöglichen und den Zugang zu diesen Aktivitäten zu erleichtern. Unsere Gemeinde hat dieser wunderbaren Initiative großes Interesse und Achtung entgegengebracht. Diese Idee hat die Gemeindeführung inspiriert und es wurde sofort ein Finanzierungsantrag im Rahmen des Projektes gestellt. Und sobald die positive Antwort gekommen war, begann die Suche nach Laptops, die allen modernen Standards entsprechen, wobei der Preis auch eine Rolle spielte.

Es wurde eine Liste der Kinder erstellt, die aktiv an den Treff en der Kindergruppe der Gemeinde, „Agada“, teilnehmen, und natürlich der Familien, die Zuwendungen durch die Stadt erhalten. Die Arbeit ging sehr schnell vonstatten, weil man die Laptops rechtzeitig zum Chanukka-Fest verteilen wollte, um sozusagen das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden, den Kindern und Eltern eine Überraschung zu bereiten und am Programm „Mabat“ teilzu-nehmen. Und das alles ist uns gelungen, die Überraschung ist geglückt. Sieben Laptops der Firma kamen rechtzeitig an.

Es hat geklappt, den Zweck des Treff ens zu verheimlichen – niemand von den Eingeladenen wusste, aus welchem Anlass man sie in die Gemeinde gerufen hat. Es gab Dankesworte, überraschte Gesichter und Freude.

Es herrschte eine familiäre, herzliche Atmosphäre. Den Kindern hat sich die Möglichkeit eröff net, an verschiedenen Bildungsprogrammen, an Initiativen der heimischen Gemeinde und anderen Organisationen sowie an den zahlreichen Projekten der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland teilzuhaben. Und dieses ganze großartige Ereignis geschah am fünften Tag des Chanukka-Festes! Wie soll man danach nicht an Wunder glauben?

Valentina Shekun, Sozialarbeiterin der Jüdischen Kultusgemeinde Kreis Recklinghausen

Superintendentin besucht Jüdische Gemeinde Recklinghausen
Saskia Karpenstein freut sich auf gemeinsame Ideen und Projekte

Foto: Isaac Tourgman, Sup. Saskia Karpenstein, Dr. Mark Gutkin und Pfr. Roland Wanke (v.l.). FOTO: Jörg Eilts

Recklinghausen – Eigentlich war der Antrittsbesuch von Superintendentin Saskia Karpenstein bei der Jüdischen Kultusgemeinde Kreis Recklinghausen schon länger geplant, aber Corona und der Lockdown haben bekanntlich die meisten Präsenzveranstaltungen unmöglich gemacht.
Am gestrigen Dienstag war es dann so weit. Gemeinsam mit Pfarrer Roland Wanke, Kreiskirchlicher Beauftragter für den jüdisch-christlichen Dialog, und Öffentlichkeitsreferent Jörg Eilts machte sich die Superintendentin auf den kurzen Weg in die unmittelbare Nachbarschaft zur Synagoge.
Im Gespräch mit dem Gemeinderatsvorsitzenden der Jüdischen Kultusgemeinde Kreis Recklinghausen Dr. Mark Gutkin und Isaac Tourgman, dem Kantor der Jüdischen Kultusgemeinde, betonte Karpenstein, dass sie ohne konkretes Anliegen gekommen sei: “Es ist ein freundschaftlicher erster Kontakt, der hoffentlich wachsen wird. Ein Gespräch verbunden mit Hoffnung auf gemeinsame Ideen und Projekte in Zukunft – und verbunden durch eine schmerz-hafte Leidenserfahrung für jüdisches Leben in Deutschland.”
Bei einer kleinen Führung stellten die Vertreter der Jüdischen Kultusgemeinde die Synagoge vor, die in direkter Nähe zum Polizeipräsidium in Reckling-hausen liegt. Das Jüdische Zentrum verfügt über eine eigene Bibliothek, ein Jugendzentrum, einen Seniorentreff, einen Makkabi (Sportverein), einen Chor und eine Vokalgruppe. Verschiedene Schautafeln zeigen das jüdische Leben in Recklinghausen im Wandel der Geschichte. Ein besonderer Blickfang ist
der im Jahr 2019 neu installierte Chanukka-Leuchter, der von der Straße gut sichtbar ist.
In der Stadt Recklinghausen wurden Juden erstmalig im Jahr 1305 erwähnt. Die Gemeindegründung geht auf das Jahr 1828 zurück. Die Gemeinde erbaute 1880 ihre Synagoge und eröffnete 1905 einen jüdischen Friedhof. Unter der Terrorherrschaft der Nationalsozialisten wurde die Synagoge am 9. November 1938 zerstört. Das neue Gebäude der Synagoge in Recklinghausen wurde am 27. Januar 1997 eingeweiht und aufgrund des großen Zuwachses der Kultusgemeinde errichtet. Die jüdische Gemeinde in Recklinghausen zählt heute im Kreisgebiet 537 Mitglieder.
Jörg Eilts, Dr. Hans Hubbertz, Foto: Alexander Libkin

Das Schmuckstück ist 35 Meter lang.
Die neue Thorarolle der jüdischen Gemeinde soll im Mai eingeweiht werden.

Blick in den Schrein: Isaac Tourgman und Dr. Mark Gutkin zeigen Martin Brambach und Christine Sommer (v.r.) die Thorarollen, Foto: Alexander Libkin.

Recklinghausen. Die Augen von Isaac Tourgman, Kantor der jüdischen Gemeinde, strahlen, wenn er von der Thorarolle spricht. Vor einigen Wochen ist das Schriftstück (siehe Infokasten) in Recklinghausen angekommen. Noch wird es vor den Augen der Öffentlichkeit strikt verborgen.

Zudem fehlt etwas. Isaac Tourgman: „Die letzten Buchstaben werden bei einer Zeremonie geschrieben. Dafür kommt extra ein Rabbiner aus Israel.“ Die Einweihung ist eine feierliche Angelegenheit. Dafür ist ein Fest im Mai geplant. Die jüdische Kultusgemeinde konnte zwei bekannte Paten für die Thorarolle gewinnen: Schauspielerin Christine Sommer und ihren Mann, den Tatort-Star Martin Brambach. Dr. Mark Gutkin, Vorsitzender der Gemeinde,
und Isaac Tourgman begrüßten das Ehepaar in der Synagoge.

„Die Patenschaft ist eine ganz große Ehre“, sagt Martin Brambach. Wie es zu der Verbindung kam? „Isaac Tourgman und ich haben uns auf dem Weg zum Supermarkt getroffen“, erzählt Christine Sommer und lächelt. „Er hat mich gefragt, ob wir uns das vorstellen können. Auch für mich ist das eine große Ehre.“

Die Thorarolle wurde in Jerusalem rund ein Jahr lang von Hand auf Kalbsleder geschrieben und ist zwischen 35 und 38 Meter lang. 300.000 Buchstaben sind darauf zu finden. Stolze 34.000 Euro kostet sie, inklusive Schmuck und einem Mantel. „Rund 31.000 Euro haben wir schon durch Spendengelder zusammen, der Rest fehlt noch“, berichtet Isaac Tourgman. Knapp 300 Personen, darunter hauptsächlich Recklinghäuser, haben sich an der Sammelaktion
beteiligt. Als Dank für jede Geldgabe schreibt der Kantor die Namen der Spender auf eine Papierrolle – auf Deutsch und auf Hebräisch. Etwa 400 Namen wurden so verewigt. Auch die der Paten. Isaac Tourgman richtet Worte des Dankes an alle Menschen, die sich beteiligt haben: „Vielen Dank, dass Recklinghausen die Thorarolle mitträgt.“

bimu

Die vier Thorarollen der Synagoge

  • Die Thora ist der erste Teil des Tanach, der hebräischen Bibel und besteht aus fünf Büchern Moses. Dabei handelt es sich um eine handgeschriebene Rolle aus Pergament oder Leder.
  • Die Recklinghäuser Synagoge besitzt vier Rollen darunter die neue. Sie werden in einem Schrein aufgehoben.
  • Einen Beitrag sehen Sie unter www.cityinfo.tv

Holocaust überlebt und Geschichte geschrieben

RECKLINGHAUSEN. Ein neues Buch handelt von dem legendären israelischen Nationaltrainer Emanuel Schaffer. Er verbrachte seine Kindheit in Recklinghausen.

1977 bei einem Trainingsspiel der israelischen Nationalmannschaft in Köln: FC-Manager Karl-Heinz Thielen (l.), Emanuel Schaffer (Mitte) und der damalige FC-Trainer Hennes Weisweiler. FOTO NACHLASS FAMILIE SCHAFFER


2002 stiftete Emanuel Schaffer – hier mit Kantor Isaac Tourgman – der jüdischen Kultusgemeinde Recklinghausen eine Thorarolle © Recklinghäuser Zeitung (Archiv) © Recklinghäuser Zeitung (Archiv)

In Israel wird Emanuel Schaffer auch neun Jahre nach seinem Tod noch als „Fußballgott“ verehrt. Seine Spielerkarriere endete zwar verletzungsbedingt 1956, doch als Nationaltrainer ist er bis heute die unangefochtene Nummer 1.
Schließlich gelang es bislang nur ihm, eine israelische Nationalmannschaft zu einer Weltmeisterschaft zu führen, das war 1970 in Mexiko. Etwas von diesem Stolz ist auch am Mittwochvormittag in der Synagoge in Recklinghausen
zu spüren.
Schaffer war Freund der jüdischen Kultusgemeinde, feierte bei Besuchen in seiner früheren Heimat hier gerne den Sabbat und stiftete der Gemeinde 2002 eine Thorarolle. Dass Autor Lorenz Peiffer hier nun die Biografie über ihren Förderer vorstellt, freut den Vorsitzenden Dr. Mark Gutkin und Kantor Isaac Tourgman. Lorenz Peiffer hat das Buch gemeinsam mit Moshe Zimmermann geschrieben. Beide sind Historiker, sie eint ihre Forschung über die Geschi-chte des jüdischen Sports in Deutschland. Für eine Ausstellung über „deutsch-jüdische Fußballstars im Schatten des Hakenkreuzes“ recherchierten sie auch über Emanuel Schaffer und waren sich einig, dass dessen Geschichte ein ganzes Buch füllt. „Es gab nicht viele Informationen. Aber die Familie hatte reichlich Material gesammelt und es mit uns geteilt“, erzählt Peiffer. Die Treffen mit der Witwe Shoshana und den Kindern sehr bewegend gewesen.
Geboren wurde Schaffer am 11. Februar 1923 im polnischen Drohobyz. Bald siedelte die Familie nach Recklinghausen über. Emanuel besuchte die jüdische Schule am Steintor 5, wohnte an der Paulusstraße. Und er tat schon das, was ihn später berühmt machte: Fußball spielen.
Krieg und Verfolgung holen die Familie ein 1933 verließen die Schaffers Deutschland, zogen erst ins französische Metz, dann ins Saarland. 1937 wurden die Schaffers, die immer noch die polnische Staatsbürgerschaft besaßen, nach der Wiedereingliederung des Saarlandes ins Deutsche Reich ausgewiesen.
Es ging zurück in die ostpolnische Heimat. Dort holten Krieg und Judenverfolgung die Familie ein: Emanuel Schaffer schloss sich dem russischen  Wider-stand ein, Eltern und Schwestern wurden ermordet. Nach dem Krieg lebte er bis 1950 in Breslau, dann wanderte er nach Israel aus.
Fußball spielte Emanuel Schaffer immer: als Kind, als Jugendlicher und auch nach dem Krieg in Polen und ebenso in Israel. In Haifa startete er als 27-Jäh-riger eine Erstliga-Karriere und wurde dann Trainer.
Zur Ausbildung zurück ins Land der Täter
Dafür kehrte Emanuel Schaffer zurück ins Land der Täter. 1958/59 war er der erste Israeli an der Sporthochschule in Köln. „Dort war Hennes Weisweiler sein Ausbilder. Sie knüpften eine Freundschaft, die bis zum Lebensende ge-halten hat“, erzählt Peiffer. Und beiden gelang es, dass Israel und Deutschland sich durch den Sport wieder näher kamen: Auf Weisweilers Vermittlung führte die israelische Nationalmannschaft mit ihrem Trainer Schaffer 1968 in der Sportschule Hennef ein Trainingslager und Vorbereitungsspiel für die WM-Qualifikation durch.
Höhepunkt war ein Spiel gegen Borussia Mönchengladbach. Dabei blieb es nicht, 1969 folgte der Gegenbesuch. „Obwohl Gladbach beide Spiele gewonnen hatte, wurde die Mannschaft am Ende mit stehenden Ovationen in Israel gefeiert“, so Peiffer.
1997 zum ersten Mal wieder in Recklinghausen
Schaffer war beruf lich und privat zwar oft in Deutschland. Aber er kehrte erst 1997 auf Betreiben des damaligen Stadtdirektors Peter Borggraefe zurück nach Recklinghausen. Am 26. Januar sollte die neue Synagoge der jüdischen Kultusgemeinde eingeweiht werden, dazu weilte auch eine Delegation aus Akko in der Stadt. Das Gespräch kam auf Fußball.
Borggraefe erzählte den Gästen bei einem Essen, dass Emanuel Schaffer nur ein paar Häuser weiter gewohnt habe. Spontan kam die Idee auf, Schaffer einzuladen. Zwei Tage später – am 29. Januar – besuchte Schaffer die Stadt sein-er Kindheit und die neue Synagoge. „Danach kam er jedes Jahr, 2002 stiftete er uns eine Thora-Rolle“, berichtet Kantor Isaac Tourgman. Als Emanuel Schaffer 2012 starb, war auch in Recklinghausen die Trauer groß.
Nun schmiedet die Gemeinde Pläne, wie sie sich an den Aktivitäten zur Buchveröffentlichung beteiligen kann, sobald Corona es zulässt. So teilte Peiffer mit, dass Borussia Mönchengladbach zu Schaffers 100. Geburtstag eine Aus-stellung plant.
Das ließ Sozialdezernent Dr. Sebastian Sanders aufhorchen, der am Mittwoch ebenfalls in der Synagoge dabei war: „Ich bin Fan und Mitglied des Vereins“, verriet er. Und so werde er sich gleich in dreifacher Funktion gern dafür einsetzen, dass die Ausstellung anschließend vielleicht auch in Recklinghausen gezeigt werden kann.

Von Silvia Seimetz

Eine jüdische Trainerkarriere

  • Die Biografie „Emanuel Schaffer. Zwischen Fußball und Geschichtspolitik – eine
    jüdische Trainerkarriere“ ist seit einer Woche im Handel.
  • Auf 200 Seiten zeichnen die Autoren Lorenz Peiffer und Moshe Zimmermann Schaffers
    spannendes Leben nach, dazu gibt es etliche Fotos – auch aus Recklinghausen.
  • Das Buch kostet 22 Euro.

 

 

 

 

 

 

 

Unvergessen: Emanuel Schaffer
starb 2012. FOTO ARCHIV

Lorenz Peiffer hat die Bografie geschrieben, die in der Synagoge mit (h.v.l.) Dr. Sebastian Sander, Jochen Welt, Mark Gutkin und Alexander Sperling vorgestellt wurde. Kantor Isaac Tourgman hält die Thorarolle, die Schaffer 2002 der Gemeinde gestiftet hatte. Lorenz Pfeiffer hat über den israelischen Nationaltrainer Emanuel Schaffer (1923-2012) aus Recklinghausen ein Buch geschrieben, das in der Synagoge vorgestellt wurde.

Die Polizei schützt die Synagoge

Nach anti-jüdischer Demo in Gelsenkirchen wird auch der jüdische Friedhof bewacht und auch unter besonderem Schutz: die Synagoge der jüdischen Gemeinde am Polizeipräsidium.

Quelle: Medienhaus BAUER, FOTO: Alexander Libkin

Recklinghausen. Nach einer großen anti-jüdischen Demonstration vor der Gelsenkirchener Synagoge am Mittwoch schützt die Polizei nun verstärkt jüdische Einrichtungen und Symbole in Recklinghausen. Polizeisprecher Andreas Lesch wollte am Freitag aus polizeitaktischen Gründen nur bestätigen, dass die Beamten „jüdische Einrichtungen“ schützen. Mit wie vielen Einsatzkräften oder wann die Polizei dies tut, ließ er offen.

Dem Vernehmen nach sind Polizeibeamte seit der Eskalation des Konf liktes zwischen Palästinensern und Israel vor allem an der Synagoge, die direkt neben dem Polizeipräsidium liegt, im Einsatz. Aber auch der jüdische Friedhof am Nordcharweg, auf dem alljährlich der Nazi-Opfer nach den Deportationen nach Riga gedacht wird, zählt zur kritischen Infrastruktur.

Am Mittwoch hatte die Polizei auch das Rathaus im Visier, denn dort war einen Tag lang die israelische Flagge gehisst. Wie die Stadtverwaltung auf Anfrage mitteilt, habe sie die Flagge wie in den Vorjahren gehisst, um an die Aufna-hme diplomatischer Beziehungen zwischen Israel und Deutschland am 12. Mai 1965 zu erinnern.

Die Deutsch-Israelische Gesellschaft ruft dazu alljährlich alle deutschen Städte auf, die Partnerstädte in Israel haben. Recklinghausen beteilige sich seit Jahren, um die guten Beziehungen zu Israel und der Partnerstadt Akko zu beto-nen, sagt Stadtsprecher Hermann Böckmann.

Die Stadt Hagen hatte die Flagge Israels ebenfalls gehisst, sie nach heftiger Kritik muslimischer Mitbürger aber wieder abgenommen.
-jhs

 

 

 

 

 

 

 

 

Jüdische Gemeinde lädt im Jubiläumsjahr zu Veranstaltungen ein.

1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland

Laden ein zum Jubiläumsjahr: Kantor Isaac Tourgman (l.) und Vorsitzender Mark Gutkin von der Jüdischen Gemeinde Recklinghausen. FOTO: © Tobias Mühlenschulte, © Medienhaus Bauer

Programmpunkten beteiligt sich die Jüdische Gemeinde Recklinghausen am bundesweiten Jubiläum „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“. Los geht‘s mit einem Konzert am 11. Juli.

Anlässlich des Projekts „Jubiläumsjahr 2021: 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ lädt die Jüdische Kultusgemeinde Recklinghausen alle Interessierten zu zehn Veranstaltungen ein. Kantor Isaac Tourgman und Vorsitzender Mark Gutkin stellten das Programmheft nun vor.

Konzerte im Ensemble, Quartett und Quintett

Den Start macht am Sonntag, 11. Juli, ein Konzertabend mit dem Ensemble „Asamblea Mediterranea“. Die sieben Musikerinnen und Musiker, die sich ursprünglich auf völlig unterschiedliche Musikstile spezialisiert hatten, arrangieren und komponieren ihre Musik aus Melodien und Texten der Juden in Spanien, Nordafrika, in der Türkei und Griechenland, die über Generationen überliefert wurden. Das Konzert im Saal der Jüdischen Gemeinde (Am Polizeipräsidium 3) beginnt um 17 Uhr.

Musikalisch weiter im Jubiläumsprogramm geht es am Sonntag, 1. August. Dann gastiert das Quartett „The Klezmer Tunes“ im Gemeindesaal. Die Gruppe interpretiert mit Klarinette, Akkordeon, Violine und Gitarre Klezmer mal klassisch, mal modern. In ihre Musik lassen sie auch gerne Jazz, Funk, Gypsy, Bossa Nova und Rock’n’Roll einfließen. Los geht’s um 17 Uhr.

Das Quintett „Sistanagila“ setzt den musikalischen Veranstaltungskalender am Sonntag, 12. September, um 17 Uhr im Saal der Jüdischen Gemeinde fort. Die in Berlin lebenden israelischen und iranischen Musiker zelebrieren ihren Dialog in Noten. Sie spielen jahrhundertealte jüdische und iranische Musiker und bedienen sich folkloristischer und religiöser Melodien aus Klezmer, sephardischer und traditionell persischer Musik sowie modernen und klassischen Kompositionen.

In der Christuskirche an der Limperstraße findet am Sonntag, 5. Dezember, das Orgelkonzert mit Viola und Chor „Shalom – Kirche trifft Synagoge“ statt. Paul Kayser und Semjon Kalinowski spielen Werke von etwa Max Bruch, Ernest Bloch und Louis Lewandowski, dazu singt das Vocal-Ensemble der Jüdischen Kultusgemeinde. Beginn ist um 15 Uhr. Im Anschluss lädt die Gemeinde zur gemeinsamen Chanukka-Feier in die Synagoge ein.

Vorträge über Sport, Geschichte und das jüdische Leben

Sportlich wird es am Montag, 4. Oktober. Dann hält Alon Meyer den Vortrag „Bedeutung des Sports im Judentum“. Meyer ist Vorsitzender des TuS Makkabi Frankfurt und Präsident von Makkabi Deutschland. Erst im Mai hatte er dem Sender Sky-Sport ein Interview zum Thema „Antisemitismus im Sport“ gegeben. Wo der Vortrag stattfindet, ist noch ungewiss. „Wir arbeiten daran, es soll etwas Großes werden“, sagt Gemeinde-Kantor Tourgman.

Am Vortrag mit Uri Kaufmann, dem Leiter der Alten Synagoge in Essen, steht noch ein kleines Fragezeichen. Geplant ist, dass Kaufmann am Dienstag, 26. Oktober, einen Überblick über „Jüdisches Leben in Westfalen und Deutschland“ gibt.

Mit gleich zwei Vorträgen füllt Matthias Kordes, Leiter des Stadt- und Vestischen Archivs Recklinghausen, den Veranstaltungskalender im Jubiläumsjahr. Am Donnerstag, 11. November, referiert er zum Thema „Der Patriotismus der deutschen Juden im Ersten Weltkrieg“. Darin geht Kordes der Frage nach, wie sich das Verhältnis der deutschen Juden zum Kaiserreich und zum Krieg ab 1914 gestaltete und welche Entwicklung der deutsche Antisemitismus im und nach dem Ersten Weltkrieg nahm. Noch weiter zurück geht der Archiv-Leiter am Mittwoch, 1. Dezember. Dann skizziert er die Entwicklung des mitteleuropäischen Judentums im 15. und 16. Jahrhundert.

Abrahamsfest und jährliches Gedenken

Die Eröffnung des Abrahamsfests am Sonntag, 19. September, steht unter dem Motto „Utopien in Krisenzeiten – gemeinsam unterwegs“. Dazu gibt es kreative Darbietungen aus den drei abrahamitischen Religionen (Christentum, Islam, Judentum).

Das jährliche Gedenken an die Deportation jüdischer Bürgerinnen und Bürger aus Recklinghausen nach Riga findet am Sonntag, 7. November, um 11.30 Uhr auf dem Jüdischen Friedhof am Nordcharweg statt.

Weil die Corona-Schutzverordnung voraussichtlich nur eine begrenzte Anzahl von Gästen zulässt, ist eine verbindliche Anmeldung unter Tel. 02361/ 15136 erforderlich. Weitere Informationen zu den Veranstaltungen gibt die Jüdische Gemeinde telefonisch oder nach einer E-Mail an jkg_re@gmx.de.

Bodo Klimpel besucht jüdische Kultusgemeinde der Kreis Recklinghausen

Quelle: Facebook – Bodo Klimpel (https://www.facebook.com/bodo.klimpel)

Seit Jahren sind die jüdische Kultusgemeinde und der Kreis Recklinghausen eng verbunden. Diese erfolgreiche Zusammenarbeit möchte ich fortsetzen. Gerne bin ich der Einladung von Dr. Mark Gutkin und Isaac Tourgmann in die Synagoge in der Recklinghäuser Innenstadt gefolgt. Im gemeinsamen Gespräch – zum Beispiel über die Gedenkkultur im Kreis Recklinghausen – haben wir uns darauf verständigt, auch in Zukunft ein gutes und partnerschaftliches Verhältnis zu pflegen.

 

 

 

Die Reinigung der Stolpersteine in der Halterner Innenstadt

Quelle: Facebook – Bodo Klimpel (https://www.facebook.com/bodo.klimpel)

Heute morgen habe ich zusammen mit meiner ehemaligen Ratskollegin Maaike Thomas die Stolpersteine in der Halterner Innenstadt gereinigt. Vielen Dank, liebe Maaike, für deine traditionell tolle Unterstützung und Vorbereitung. #stolpersteine #halternamsee #kreisrecklinghausen

 

 

 

 

 

Jüdische Gemeinde feiert – wegen 300.000 Buchstaben auf 40 Metern Pergament

Synagoge in Recklinghausen empfängt am 12. September Torarolle

Quelle: www.kirche-und-leben.de, Foto: Johannes Bernard

Sagen Danke für die Spenden, die eine neue Torarolleermöglicht haben: Mark Gutkin, Vorsitzender der jüdischen Gemende Recklinghausen (links) uns Isaac Tourgmann, Kantor der jüdischen Gemeinde. Alle Namen der Spenderinnen und Spender sindin hebräischer und deutscher Sprache auf eine etwa 20 Meter langen Papierrollefestgehalten.

  • Eine 40 Meter lange neue Torarolle empfängt die Jüdische Gemeinde in Recklinghausen für ihre Synagoge.
  • Die Namen der mehr als 350 Spenderinnen und Spender aus Recklinghausen, aus der Region und aus dem Ausland sind auf einer Papierrolle auf Deutsch und Hebräisch verewigt.
  • Die Feier der Einweihung der Torarolle kann über einen Livestream am 12. September 2021 verfolgt werden.

In einer feierlichen Zeremonie wird am Sonntag, 12. September 2021, eine neue Torarolle in die Synagoge in Recklinghausen hereingetragen. Diese Torarolle wurde zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg eigens für die Jüdische Gemeinde in Recklinghausen niedergeschrieben.

„Es ist ein besonderes Gebot, das jedem Juden gegeben wurde, seine eigene Torarolle zu schreiben oder seinen eigenen Kräften entsprechend an einer Niederschrift teilzunehmen. Und wir haben, dieses Gebot erfüllend, zum ersten Mal seit Ende des Zweiten Weltkriegs eine eigene Tora geschrieben“, sagt der Vorsitzende der Jüdischen Kultusgemeinde im Kreis Recklinghausen, Mark Gutkin.

300.000 hebräische Buchstaben

Die Torarolle mit den fünf Büchern Moses wurde in Jerusalem von Hand auf Kalbsleder geschrieben. Sie ist knapp 40 Meter lang und enthält mehr als 300.000 hebräische Buchstaben.

„Eine Torarolle für den Gottesdienstgebrauch muss per Hand von einem speziell dafür ausgebildeten Schreiber geschrieben werden“, erklärt Gutkin. Das Schreiben der Torarolle dauere etwa ein Jahr und sei entsprechend teuer. Der Abschluss des Toraschreibens werde feierlich in einer Synagoge begangen. „Die letzten Buchstaben dürfen von ausgesuchten Anwesenden geschrieben werden“, so der Gemeinde-Vorsitzende.

Dank an 350 Spenderinnen und Spender

Etwa 35.000 Euro kostet die Torarolle. Das Geld haben etwa 350 Spenderinnen und Spender aus Recklinghausen und zum Teil aus dem Ausland mit kleinen und größeren Beträgen aufgebracht.

Als Dank für jede Geldgabe hat der Kantor der Gemeinde, Issac Tourgman, die Namen aller Spender in deutscher und hebräischer Schrift auf eine 20 Meter lange Papierrolle geschrieben. „Die Rolle befindet sich im Eingangsbereich der Synagoge an einem exponierten Platz“, sagt Tourgman.

Der Innenraum der Synagoge in Recklinghausen.

Aufbewahrung im Toraschrein

Die neue Torarolle ist die vierte im Besitz der Gemeinde. „Man kann nicht genug Torarollen haben“, sagt Gutkin und verweist auf die Bedeutung der heiligen Schriften: „Eine Torarolle darf nicht verunreinigt sein. Sie gilt uns als heilig.“

Beim Lesen der Tora-Abschnitte im Gottesdienst benutzt der Vorleser einen Torazeiger, um den heiligen Text nicht mit den Fingern zu berühren. Die Torarollen werden im Toraschrein, wie der heilige Schrank genannt wird, aufbewahrt und sind aufwändig geschmückt und geschätzt. Trägt man die Rollen für den Gottesdienst zum Lesepult, so soll man die Rolle nur an ihren Holzstäben anfassen, um das Pergament zu schonen.

Festtag im Livestream

Über den Festtag sagt Gutkin: „Ich bin mir sicher, dass unser feierliches Ereignis des Hereintragens und der Einweihung der neuen Torarolle nicht nur in die Geschichte unserer Gemeinde in goldener Schrift hineingeschrieben wird, sondern auch in die Geschichte unserer Stadt und des Kreises Recklinghausen.“

Aufgrund der geltenden Corona-Beschränkungen können an der Zeremonie nur 120 geladene Gäste teilnehmen. Um allen Interessierten eine virtuelle Teilnahme zu ermöglichen, wird ein Livestream eingerichtet. Er beginnt am 12. September um 10.45 Uhr und ist unter www.youtube.com/user/JKGKreisRe erreichbar.

Umzug durch die Innenstadt

Folgender Ablauf ist geplant: Um 10.30 Uhr treffen sich die Gäste der Zeremonie am Ort der ersten Synagoge in Recklinghausen an der Klosterstraße. Um 11 Uhr beginnt der Umzug, der über das Mahnmal der in der Pogromnacht zerstörten Synagoge zur heutigen Synagoge führt. Der Festakt im Festzelt vor der Synagoge beginnt um 11.30 Uhr. Gegen 12.30 Uhr wird die Torarolle in das Gebäude gebracht.

Die Torarolle:
Die heiligsten Schriften im Judentum sind die fünf Bücher Moses, die sogenannte Tora oder Thora. Wörtlich übersetzt heißt sie „Lehre“ oder „Gesetz“. An jedem Schabbat wird im Gottesdienst ein Wochenabschnitt vorgetragen. Alle Kapitel werden über ein Jahr verteilt gelesen. Für diese gottesdienstlichen Lesungen wird ausschließlich eine traditionelle Rolle verwendet, die von einem Toraschreiber, dem so genannten „Sofer“, von Hand in unpunktierter hebräischer Sprache auf gegerbte Tierhaut geschrieben wird. Die einzelnen Pergamentbögen werden zu einem langen Streifen vernäht, die auf zwei Holzstäbe gewickelt werden. Die Holzstäbe werden als „Bäume des Lebens“ bezeichnet. Die Torarollen werden im Toraschrein der Synagoge aufbewahrt. Um die Rollen zu schützen, werden sie in einem bestickten Stoffmantel verwahrt. Eine sogenannte silberne Hand dient als Lesehilfe, um die Handschrift nicht zu verunreinigen.

Neue Thorarolle wird am 12. September in die Synagoge eingebracht

Auf diesen Tag haben die Mitglieder der jüdischen Kultusgemeinde – nicht nur wegen der Corona-Pandemie – lange warten müssen: Am 12. September nehmen sie ihre neue Thorarolle in Empfang.

Quelle: Recklinghäuser Zeitung, Recklinghausen / /

Der Davidstern an der Synagoge in Recklinghausen. © SYSTEM

Dr. Mark Gutkin, Vorstandsvorsitzender der jüdischen Kultusgemeinde, freut sich schon auf den 12. September, wenn die neue Thorarolle in die Synagoge am Polizeipräsidium eingebracht wird. „Diese Thora wurde zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg eigens für unsere Gemeinde geschrieben. Und ich bin mir sicher, dass dieses feierliche Ereignis des Hereintragens und der Einweihung einer neuen Thorarolle nicht nur in die Geschichte unserer Gemeinde in goldener Schrift hineingeschrieben wird, sondern auch in die Geschichte unserer Stadt und des Kreises Recklinghausen.“ Mehrmals hatte der Termin wegen der Corona-Pandemie verschoben werden müssen, nun ist es endlich so weit, genau zwischen den zwei wichtigsten jüdischen Feiertagen Rosch-ha-Schana und Jom Kippur.

Namen der Spender nehmen fast 20 Meter ein

Die Thorarolle wurde in Israel geschrieben, während die Gemeinde gleichzeitig eine eigene Rolle beschrieben hat. In dieser etwa 20 Meter langen Rolle sind die Namen derjenigen eingetragen, die eine Spende und somit einen Beitrag zur Niederschrift der Thora geleistet haben. „Es waren Privatleute – Bewohner der Stadt und des Kreises Recklinghausen, Personen aus anderen Regionen Deutschlands und aus dem Ausland – religiöse, staatliche und öffentliche Organisationen und Firmen in Privatbesitz, außerdem wurden Spenden bei wohltätigen Veranstaltungen gesammelt“, sagt Dr. Mark Gutkin voller Dankbarkeit. Schließlich gebe es ein „besonderes Gebot, das jedem Juden gegeben wurde: Seine eigene Thorarolle zu schreiben oder seinen eigenen Kräften entsprechend an einer Niederschrift teilzunehmen“, erklärt Gutkin. Und nicht ohne Stolz fügt er hinzu: „Wir haben dieses Gebot erfüllt.“

Zu seinem Bedauern kann die feierliche Zeremonie wegen der immer noch geltenden Einschränkungen nicht im ganz großen Rahmen stattfinden. Um allen Interessierten dennoch die Möglichkeit zu geben, dabei zu sein, organisiert die Gemeinde einen Internet-Livestream für den Festtag. Dieser startet am Sonntag, 12. September, um 10.45 Uhr.

Feierlicher Umzug erinnert an frühere Synagogen-Standorte

Geplant ist folgender Programmablauf: Um 10.30 Uhr treffen sich die Teilnehmer der Zeremonie am Parkplatz Ecke Klosterstraße/Herzogswall an der alten Feuerwache, dem Ort der ersten Synagoge in Recklinghausen. Um 11 Uhr beginnt dann der feierliche Umzug, der über das Mahnmal der in der Pogromnacht zerstörten Synagoge führt, zur heutigen Synagoge, Am Polizeipräsidium 3. Der Festakt im Festzelt vor der Synagoge soll gegen 11.30 Uhr beginnen, gegen 12.30 Uhr wird die Thorarolle dann in das Gebäude eingebracht. Im Anschluss findet draußen ein Empfang statt.

Besuch der jüdischen Gemeinde Recklinghausen

Quelle: ANGELA FREIMUTH MdL / 0/

Recklinghausen, 08.11.2021: Der aufgrund der pandemischen Beschränkungen mehrfach verschobene Austausch mit der jüdischen Kultusgemeinde in Recklinghausen konnte nun endlich stattfinden.  Der Vorsitzende, Dr. Mark Gutkin, informierte über die zahlreichen Aktivitäten der Gemeinde: 3 Chöre, Seniorenclub, Jugendtreff, Konzerte und vieles mehr. Natürlich stellte die Corona-Pandemie das Gemeindeleben in den vergangenen Monate vor neue Herausforderungen. Die Gemeinde verstand es jedoch, trotz schwieriger Umstände, den Kontakt zu den Mitgliedern zu halten und das aktive Gemeindeleben weiterzuführen.  Bei einem Rundgang durch das Gebäude zeigte Dr. Gutkin nicht nur die gerne genutzte Bibliothek und den auch als Veranstaltungsraum genutzten Gebetsraum, sondern wies auch auf die Sicherheitsanforderungen und bauliche Herausforderungen mit Blick auf Barrierefreiheit hin.

Mit Blick auf die bevorstehenden Chanukka-Feierlichkeiten wünschte Angela Freimuth eine unbeschwerte Zeit und wenig Beeinträchtigungen. Es sei schön, dass jüdisches Leben in Nordrhein-Westfalen zu Hause sei.

 

Recklinghausen. Einweihung der Thorarolle

Quelle: J. E. W. • JÜDISCHES ECHO WESTFALEN • NR.7 • SEPTEMBER 2021, FOTO: Reiner Kruse

Liebe Freunde,
am 12. September fand in unserer Gemeinde endlich ein freudiges und lang ersehntes Ereignis statt: die feierliche Zeremonie des Hereintragens der neuen Thora. Für die Niederschrift der neuen Thora hatten wir eine wohltätige  aktion organisiert, an der neben unseren Gemeindemitgliedern Bewohner der Stadt und der Umgebung teilgenommen haben, sowie Vertreter von Kirchen und öffentlicher Organisationen, Politiker und Unternehmer. Uns erreichten Spenden aus anderen Städten Deutschlands, wie auch aus anderen Staaten. Ursprünglich war die Zeremonie des Hereintragens der neuen Thora für Sonntag, den 24. Mai 2020, geplant. Doch die Mitte März 2020 verkündete  Coro-navirus-Pandemie hat unseren Plänen einen ernsthaften Strich durch die Rechnung gemacht.

Im Zusammenhang mit der erzwungenen Verschiebung dieses in unserem Gemeindeleben wichtigsten Ereignisses habe ich durch die Presse allen gedankt, die an der wohltätigen Aktion beteiligt waren, und die Verschiebung der Ze-remonie auf den 16. Mai 2021 verkündet, in der Hoff nung, dass diesmal ihrer Durchführung nichts im Wege steht. Und wieder zwang uns die aktuelle Pandemie-Lage dazu, die Zeremonie auf unbestimmte Zeit zu verschieben. Doch die Möglichkeit, die sich Mitte des Sommers im Zusammenhang mit sinkenden Zahlen der Neuerkrankungen ergab, und die Gesetzgebung in dieser Etappe der Pandemie haben es möglich gemacht, kurzfristig einen Beschluss zu  fas-sen und die feierliche Zeremonie des Hereintragens der neuen Thora-Rolle am 12. September zu organisieren. Leider war es uns wegen der geltenden Beschränkungen nicht möglich, diese Zeremonie im ursprünglich geplanten Rah-men stattfi nden zu lassen, doch wir haben uns alle Mühe gegeben, dass möglichst viele Interessierte daran teilnehmen konnten. Dafür wurde ein Livestream organisiert und es wurden rechtzeitig Einladungen zur Teilnahme auf Distanz verschickt. Das machte es möglich, die Reportage vom Veranstaltungsort in verschiedenen Städten, Ländern und Kontinenten anzuschauen.

Ich möchte daran erinnern, dass die neue Thora speziell für unsere Gemeinde  erst-mals nach dem Zweiten Weltkrieg in Israel niedergeschrieben wurde. Die Niederschrift der neuen Thora wie auch die Beschaff ung ihres Schmucks ermöglicht wurde dank der Spenden unserer Gemeindemitglieder, von Privatleuten – Bewohnern der Stadt und der Umgebung Recklinghausens sowie aus anderen Regionen Deutschlands und aus dem Ausland, ebenso wie von religiösen, staatlichen und gemeinnützigen Organisationen und Unternehmen. Die Namen aller Spender haben wir auf einer eigens dafür geschriebenen Rolle verewigt, die heute im Eingangsbereich der Synagoge ausgestellt ist. Für  die Teilnehmer an der Zeremonie und natürlich für alle, die für die Niederschrift der Tora gespendet hatten, hatten wir Souvenirs als Andenken hergestellt und sie während des Festes verteilt.

Ich denke, das war eines der wichtigsten Ereignisse in der Geschichte unserer Gemeinde in den letzten Jahrzehnten. Die neue Thora ist der Beitrag unserer Generation zur Geschichte der Gemeinde und eine Brücke in ihre Zukunft. Ich möchte noch einmal mit Hilfe der Ausgabe unserer gemeinsamen Zeitschrift J.E.W. vom Herzen allen danken, die an der Niederschrift der neuen Thora beteiligt waren.

Dr. Mark Gutkin
Vorstandsvorsitzender Jüdische
Kultusgemeinde Kreis Recklinghausen

Heute kann man das vollständige Video des Ereignisses unter https://youtu.be/q9EJfZ4hZ4I (Livestream von J K G, Thora Einweihung, 12.09.2021) anschauen.
Auch ein Video ist in der Vorbereitung

 

Die MENORA aus dem Besitz der Familie Strunk in Recklinghausen

Quelle: J. E. W. • JÜDISCHES ECHO WESTFALEN • NR.7 • SEPTEMBER 2021, FOTO: Alexander Libkin

v.l.n.r.: IsaacRTourgman Kantor der Jüdischen Kultusgemeinde, Rudolf Strunk und Dr. Mark Gutkin, Vorstandsvorsitzender Jüdische Kultusgemeinde Kreis Recklinghausen

 

 

Vermutlich Ende der 1950er Jahre haben unsere Eltern, Hildegard und Adalbert Strunk in Recklinghausen diese MENORA bei einem bekannten und renommierten Antiquariat in Münster erworben.

Der christliche Glaube, verbunden mit großem Respekt vor dem jüdischen Glauben, war das Hauptmotiv für den Erwerb. Darüber hinaus entsprach dieser Kauf der tiefen Überzeugung unserer Eltern zum Gedanken der Versöhnung nach den Jahren des großen Unrechts.
Gefertigt aus schwerem Messing, hatte die MENORA stets einen besonderen Platz in unserem Elternhaus. Sie stand in einem repräsentativen Raum, der für besondere Anlässe wie Familienfeste oder Empfang von Gästen genutzt wurde.
Der Wunsch unserer verstorbenen Eltern war es, diese MENORA der Jüdischen Gemelnde in Recklinghausen zukommen zu lassen.
Diesem Wunsch unserer Eltern sind wir drei Brüder gerne und aus Überzeugung nachgekommen und haben die MENORA im September 2021 der Jüdischen Gemeinde als Geschenk überreicht.

Rudolf, Ullrich und Ludger Strunk

„Jüdische Kultusgemeinde Kreis Recklinghausen leuchtet mit“

Quelle: Ruhrfestspielstadt Recklinghausen, FOTO: Alexander Libkin

Nach der coronabedingten Pause im vergangenen Jahr kommt das Lichterspektakel „Recklinghausen leuchtet“ 2021 unter dem Motto „Best of“ zurück in die „Gute Stube“ von Recklinghausen. Das verkündeten am Donnerstag, 2. September, bei einer Pressekonferenz im Rathaus gemeinsam Bürgermeister Christoph Tesche und die Arena Recklinghausen GmbH.
Erstmals wird in diesem Jahr auch die jüdische Kultusgemeide Kreis Recklinghausen beleuchtet und nimmt damit an einem Lichtspektakel „Recklinghausen leuchtet“ teil.

Recklinghausen gedenkt…

Jährliches Gedenken an die Deportation und Ermordung jüdischer Bürgerinnen
und Bürger aus Recklinghausen nach Riga

QUELLE: J. E. W. • JÜDISCHES ECHO WESTFALEN • NR.9 • FEBRUAR 2022, FOTO: Alexander Libkin

Bodo Klimpel (CDU), Landrat des Kreises Recklinghausen

Seit Jahren erinnert die Jüdische Kultusgemeinde Kreis Recklinghausen auf ihrem Friedhof stets am ersten Sonntag im November an die Mitglieder, die durch die Nazis ermordet wurden.

In diesem Jahr, am 7. November nahmen mehr als 80 Personen an der Gedenkveranstaltung auf dem jüdischen Friedhof am Nordcharweg teil.

Unter den Anwesenden waren die Vorsitzenden zweier jüdischen Gemeinden: Dr. Mark Gutkin aus Recklinghausen und Judith Neuwald-Tasbach aus Gelsenkirchen sowie Landrat Bodo Klimpel (CDU). Alle drei haben ihre Sorgen um den wachsenden  ntisemitismus zum Ausdruck gebracht.

Unter den Anwesenden waren die Vorsitzenden zweier jüdischen Gemeinden: Dr. Mark Gutkin aus Recklinghausen und Judith Neuwald-Tasbach aus Gelsenkirchen sowie Landrat Bodo Klimpel (CDU). Alle drei haben ihre Sorgen um den wachsenden  Antisemitismus zum Ausdruck gebracht.

Von ihren Kindheitserinnerungen erzählt nun Frau Neuwald-Tasbach. Als kleines Mädchen war sie mit ihrem Vater Kurt Neuwald öfters im Geschäft von Rolf Abrahamsohn und hat den Gesprächen der Erwachsenen gelauscht. Die beiden Männer, welche die  Shoa überlebt haben, deren Schicksal sie durch die schrecklichen Erfahrungen als Folge der Verschleppung nach Riga vereint hat, tauschten qualvolle Gedanken aus.

Die Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen weiß nur zu gut, dass auch in der Nachkriegszeit der Antisemitismus in Deutschland nicht verschwunden ist. Frau Neuwald-Tasbach musste es selbst erleben: antiisraelische Demonstrationen im Mai  letzten Jahres infolge des neu entbrannten Nahost-Konfl ikts brachten 180 Demonstranten direkt zur

Judith Neuwald-Tasbach, Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen

Synagoge. Die Rechtsextremisten marschierten vor dem G-tteshaus und skandierten antisemitische Parolen. „Die Kinder unserer Gemeinde haben mich  gefragt: „Warum hassen sie uns so?“, schildert Neuwald-Tasbach. Sie konnte es den Kindern nicht erklären, sie konnte nur die Worte ihres Vaters wiederholen, die Worte von damals, als sie ihn dasselbe fragte: „Ich weiß es nicht.“

„Einer Studie des Jüdischen Weltkongresses zufolge teilt jeder vierte Bundesbürger antisemitische Ansichten“, referierte Dr. Mark Gutkin. Im Jahre 2020 wurden in Deutschland fast 2000 antisemitische Handlungen dokumentiert. Es ist mehr als traurig, dass  im Festjahr „1700 Jahre Jüdisches Leben in Deutschland“ die Polizei erhöhte Sicherheitsvorkehrungen vornehmen musste, um Synagogen zu bewachen und jüdisches Leben zu schützen.

So auch heute auf dem jüdischen Friedhof zeigt die Polizei Präsenz. Landrat Bodo Klimpel bringt die Anwesenden durch eine schreckliche Vorstellung zum Nachdenken: „Was wäre, wenn wir eine Schweigeminute für jedes im Holocaust genommene jüdische  eben einlegen würden? – Elf Jahre Schweigen in Deutschland.“

506 jüdische Bürger aus dem Präsidialbezirk Recklinghausen mussten am 24. Januar 1942 ihre Heimat verlassen. Sie wussten nicht, was sie im Ghetto von Riga erwartet. Die wenigsten von ihnen haben überlebt und wurden am 3. November 1943 in  onzentrationslager gebracht.

Jüdisches Echo Westfalen, J.E.W.

Die Erinnerung darf nie enden

QUELLE: J. E. W. • JÜDISCHES ECHO WESTFALEN • NR.9 • FEBRUAR 2022, FOTO: Alexander Libkin

W  ir gedenken der Recklinghäuser Jüdinnen und Juden, die Opfer der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik wurden. Wir gedenken des jüdischen Lebens in Recklinghausen, bevor es von den Nationalsozialisten ausgelöscht wurde. Wir gedenken derjenigen Recklinghäuser und Recklinghäuserinnen, die in der Reichspogromnacht vom 9. November 1938 ihres Besitzes, ihrer kulturellen Güter, ihres G“tteshauses und ihrer Leben beraubt wurden, nur weil sie jüdischen Glaubens waren. Wir gedenken all der  ermordeten Jüdinnen und Juden und weiterer Opfer der Nationalsozialisten in Recklinghausen, Deutschland, Europa und darüber hinaus.

Dies waren die einleitenden Worte der ersten Gedenkveranstaltung 2018 zum 80. Jahrestag der Reichspogromnacht in der Synagoge zu Recklinghausen, organisiert von Bürgern und Bürgerinnen der Stadt.

Die Erinnerung darf nie enden“, so nennt sich eine  unabhängige Initiative, die aus einem spontanen Impuls heraus entstanden ist mit dem Ziel Bürger und Bürgerinnen der Stadt Recklinghausen zu mobilisieren. Haltung zeigen gegen Antisemitismus und einen Beitrag leisten, dass das furchtbare Verbrechen an den Juden durch die Nationalsozialisten niemals vergessen wird.

Leitgedanke sollte sein, dass jede und jeder am Ende selbst ein Zeichen setzen kann und Verantwortung nicht auf kommunale oder staatliche Institutionen verschoben wird. Wir stehen alle in der  erantwortung, uns für jüdisches Leben in unseren Städten einzusetzen und uns klar gegen Antisemitismus zu positionieren.

Ziel war es, möglichst viele Bürger und Bürgerinnen der Stadt zum gemeinsamen Erinnern zu bewegen.

Drei Gedenkveranstaltungen mit unterschiedlichsten Akteurinnen und Akteuren hat die Initiative bereits organisiert. Über 300 Menschen dieser Stadt haben erstmals die Synagoge besucht und ihr Bewusstsein geschärft für aktuelle antisemitische Strömungen und Anfeindungen gegen unsere jüdischen Mitmenschen. Das ist noch viel zu wenig. Wir ho• en darauf, dass sich im nächsten Jahr weitere Bürgerinnen und Bürger der Stadt für das gemeinsame Erinnern in der Synagoge zum Jahrestag der Pogrome einsetzen  und mitgestalten und sich so der Kreis stets erweitert.

Hier und jetzt gegen Vergessen und Ignoranz!

Den Verstorbenen zu Ehren unterstützten namhafte Künstlerinnen und Künstler aus der Region die Gedenkveranstaltung durch musikalisch, tänzerische Darbietungen.

Für die Gedenkveranstaltung am 9. November 2021 hat die Bürgerinitiative „Die Erinnerung darf nie enden“ mit Unterstützung der Initiative „Fetzen“ die Flamencotänzerin Maria del Mar mit ihrem Musikensemble und Schauspieler Franz Joseph Dieken  ingeladen.

Sie erinnerten in ihren Darbietungen an den Massenmord an jüdischen Kunstschaff enden, an Sinti und Roma, sowie sephardischen Juden der Flamencowelt.

Franz Joseph Dieken las Texte von Peter Kien, einem talentierten jüdischen Künstler und Dichter, der von 1941 bis 1944 Gefangener in Theresienstadt war. Er schrieb dort das Libretto für Victor Ullmanns Einakter Oper „Der Kaiser von Atlantis“ und war  vielfältig künstlerisch tätig. Er wurde am 16. Oktober 1944 nach Auschwitz deportiert und starb dort im Alter von nur 25 Jahren an einer Infektion.

Der Flamenco hat seine Ursprünge im kulturellen Austausch zwischen Sinti und Roma, Mauren und sephardischen Juden in Andalusien. Maria del Mar und ihr Ensemble präsentierten jüdische Flamencostücke wie die melancholische, ernste Petenera und die Klagegesänge der Seguiriya: Die Petenera hat vermutlich einen sephardischen Ursprung und entwickelte sich aus den alten „Romanzen“ (ebenfalls Gesänge), die die Juden aus dem östlichen Mittelmeerraum mit nach Andalusien brachten. Die Seguiriya ist ein hoch dramatischer, tragischer Gesangsstil, der Wut, Verzweifl ung und Protest ausdrückt. Ihr Tanz ist ebenfalls kraftvoll, ernst und ausdrucksstark. Musikalisch begleitet wurden die Darbietungen von Javi Castrillon, Gilberto Torres, Juan Lama und Luis  lorente.

Bettina Kollecker

Gemeinderatswahl im Kreis Recklinghausen

QUELLE: J. E. W. • JÜDISCHES ECHO WESTFALEN • NR.9 • FEBRUAR 2022, FOTO: Vadym Abonosimov

v.l.n.r.: Stellvertretende Vorstandsvorsitzende – Larysa Pomogayko, Irina Barsukova, Igor Lyevi, Vorstandsvorsitzender – Dr. Mark Gutkin, Gemeinderatsvorsitzender – Evgenij Vilkinski

An der Gemeinderatswahl vom 12.12.2021 haben 210 von 280 stimmberechtigten Mitgliedern teilgenommen. Auf 5 Stellen in dem Gemeinderat sind 9 Kandidaten angemeldet.

Das Ergebnis der Stimmenzählung:

Barsukova, Irina 111
Gutkin, Mark 188
Ilmer, Abram 21
Kuznecov, Igor 48
Lyevi, Igor 122
Marychyn, Igor 63
Milinevski, Jaroslaw 97
Pomogajko, Larissa 162
Vilkinski, Evgenij 124

Nach der Wahl wurde folgendes Ergebnis zur Kenntnis genommen. Diese Personen wurden gewählt: Irina Barsukova, Mark Gutkin, Igor Lyevi, Larissa Pomogajko, Evgenij Vilkinski.

Am 12.12.2021 fand die erste Gemeinderatssitzung statt. Es wurde wie folgt gewählt:

Vorstandsvorsitzender – Dr. Mark Gutkin
Stellvertretende Vorstandsvorsitzende – Larysa Pomogayko
Gemeinderatsvorsitzender – Evgenij Vilkinski

Das Wahlergebnis wurde als gültig anerkannt, Ansprüche in der Wahlkommission wurde nicht eingereicht.

Nachruf zum Tode von Rolf Abrahamsohn זיי

Quelle: www.bvb.deNewsUebersichtZeitzeugengespraech-mit-Rolf-Abrahamsohn

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


Rolf Abrahamsohn wurde 9. März 1925 in Marl als eines von vier Kindern einer Kaufmannsfamilie geboren. Sein Vater betrieb ein Kaufhaus für Bekleidung und Schuhe. Ab 1931 besuchte er die evangelische Goetheschule in Marl; ab 1934 wurden die Diskriminierungen so stark, dass er die Schule verließ.

Mit dem Novemberpogrom 1938, körperlichen Angriffen und Brandstiftung im Ladengeschäft setzte die Vertreibung aus Marl ein; die Familie zog in ein sogenanntes Judenhaus in Recklinghausen. Sein Vater und der älteste Bruder wurden inhaftiert. Nach der Haftentlassung flohen beide nach Belgien. Das elterliche Haus wurde von der örtlichen NSDAP übernommen und zur lokalen Parteizentrale gemacht.

Mit 14 Jahren musste Rolf Abrahamsohn Zwangsarbeit leisten, unter anderem für die Firma Ruhrgas in Gelsenkirchen. Sein jüngerer Bruder starb 1940 an Diphtherie.

Im Januar 1942 wurde Rolf Abrahamsohn mit seiner Mutter und den in Recklinghausen verbliebenen Juden nach Riga deportiert. Er überstand das dortige Ghetto, das KZ Kaiserwald, in dem seine Mutter an den grausamen Lebensbedingungen starb, das KZ Stutthof bei Danzig und monatelange Zwangsarbeit im KZ-Außenkommando Brüllstraße in Bochum. Dort war er in der Rüstungsproduktion und beim Bombenräumen eingesetzt. In den letzten Kriegswochen wurde er über Buchenwald nach Theresienstadt transportiert und dort von der Roten Armee befreit.

In der Hoffnung, überlebende Familienmitglieder aufzufinden, kehrte Abrahamsohn nach Marl zurück. https://bit.ly/3qoNRa5

Sein Vater und sein Bruder waren aber von Belgien aus deportiert und ermordet worden. Eine Auswanderung in die USA misslang, eine eventuelle britische Internierung in Palästina wollte er nicht riskieren. Rolf Abrahamsohn baute das Geschäft seiner Eltern in Marl wieder auf und wurde ein erfolgreicher Textilunternehmer mit zeitweise eigener Produktion.

Ab den 1970er Jahren engagierte er sich in der von ihm und anderen Überlebenden neu errichteten Jüdischen Gemeinde Recklinghausen-Bochum intensiver und war von 1978 bis 1992 deren Vorsitzender. Zugleich war er aktiv in der christlich-jüdischen Verständigung und beim Aufbau von Kontakten nach Israel. Als wichtiger Zeitzeuge und als Überlebender mehrerer NS-Lager berichtete er in Schulen und anderen Bildungseinrichtungen über seine Lagererfahrungen und das jüdische Leben im Allgemeinen.

Der Kreis Recklinghausen ehrte Abrahamsohn 2011 mit der Ehrenbürgerschaft.  https://bit.ly/3Eumal4

2020 erhielt Abrahamsohn den Verdienstorden des Landes Nordrhein-Westfalen, über dieses Ereignis haben wir in der zweiten Ausgabe unseres Magazins auf den Seiten 26-27 berichtet.

Sie können auch hier darüber lesen: https://bit.ly/3psAeaC

Rolf Abrahamsohn starb am 23. Dezember 2021 im Alter von 96 Jahren. https://bit.ly/3mA9uTT

Zum 30-jährigen Bestehen des Jüdischen Museums Westfalens

Dr. Mark Gutkin, Vorsitzender der Jüdischen Kultusgemeinde Kreis Recklinghausen

Liebe Freunde!
Ich denke, unsere Gemeinde hat großes Glück gehabt. Glück, weil das Jüdische Museum Westfalen, das 2022 30 Jahre alt wird, und unsere jüdische Gemeinde sich auf dem Gebiet des gleichen Regierungskreises von Recklinghausen befinden. Und ungeachtet dessen, dass das Museum den offiziellen Status „Jüdisches Museum Westfalen“ innehat, nennen wir es unser Museum, was der Definition nach zu freundschaftlichem nachbarschaftlichem Verhältnis und zur engen Zusammenarbeit verpflichtet. Deswegen  möchte ich die Gelegenheit nutzen, zu überlegen, wie ich den Begriff der Zusammenarbeit verstehe, worin ich seine Aktualität und die gesellschaftlich-politische Bedeutung sehe.

Aktuell gibt es in Deutschland 32 jüdische Museen, zu denen das Jüdische Museum Westfalen in der Stadt Dorsten zählt. Eine beeindruckende Menge. Die Museen dokumentieren die Geschichte des Judentums in Deutschland, erzählen mit ihren Ausstellungsstücken von religiösem Leben und jüdischen Feiertagen, führen Aufklärungs und Erziehungsarbeit durch, erfüllen verschiedene für die Gesellschaft wichtige und nützliche Funktionen.

Was ist denn dann das Problem? Wie es aussieht, besteht es darin, dass sich heutzutage in Deutschland, auch nicht ohne die „Hilfe“ der jüdischen Museen, ein Stereotyp der Wahrnehmung jüdischen Lebens gebildet hat. Der Sinn dieses Stereotyps besteht darin, dass für einen Großteil der Bevölkerung die Quelle der Informationen über jüdisches Leben Ausstellungsstücke in Museen, Archivmaterial und alte, wie durch ein Wunder erhalten gebliebene, Friedhöfe sind. Das jüdische Leben selbst assoziiert man vor allem mit Klezmer-Konzerten, Gedenkveranstaltungen, Ausstellungen zum Thema und mit politischen Aktionen, sowie Publikationen in der Presse und im Internet. Die Gründung, der Besuch oder die Unterstützung jüdischer Museen wird dem Kontakt mit real existierenden Juden gegenüber off- ensichtlich bevorzugt. Und für viele Deutsche ist ein Museum beinahe der einzige Weg, Juden, die jüdische Welt, das Judentum und die viele Jahrhunderte umfassende Geschichte des jüdischen Volkes kennenzulernen.

Was sind denn die Gründe für das Entstehen dieses Stereotyps, der zu einer Situation führte, die man kurz als „Über Juden ohne Juden“ zusammenfassen kann? Wahrscheinlich besteht einer der Hauptgründe darin, dass sowohl heute in den nach dem Zweiten Weltkrieg wiedergeborenen jüdischen Gemeinden als auch nach über 30 Jahren seit dem Beginn der jüdischen Emigration aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion in vielen jüdischen Gemeinden immer noch hauptsächlich Russisch gesprochen wird. Ich bin mir sicher, dass es noch eine Vielzahl unterschiedlicher Gründe gibt, deren Analyse und Systematisierung ich nicht vertiefen möchte. Ich möchte auch nicht bei Beispielen stehenbleiben, welche die Schlussfolgerungen illustrieren, dass das reale Leben der jüdischen Gemeinden Deutschlands, in denen heute die moderne jüdische Geschichte „geschrieben“ wird und die ihre Traditionen bewahren, nicht sehr anziehend ist und am Rande der Aufmerksamkeit der Gesellschaft bleibt – und dass das jüdische Thema oft genug „ausgebeutet“ wird, um bestimmte politische Ziele zu erreichen.

Wie also kann man die Gesellschaft vom existierenden Stereotyp befreien und was muss man tun, damit zwei einander sehr selten kreuzenden Linien – das von der Gesellschaft wahrgenommene und das real existierende jüdische Leben – so viel mehr Berührungspunkte wie möglich finden? Ich bin nicht bereit fertige Rezepte zu präsentieren. Doch ich bin mir sicher, dass bei der Vielzahl der möglichen Herangehensweisen an die Lösung des Problems das Hauptergebnis die Bildung des Verständnisses in der Gesellschaft sein muss, dass das mehr als 1700 Jahre andauernde Leben der Juden in Deutschland keineswegs eine historische Vergangenheit und nicht ihr Phantom ist, dass wir kein Dokument aus dem Archiv sind und kein Ausstellungsstück im Museum. Wir sind die nach der blutigen Katastrophe wiedergeborene jüdische Gemeinschaft Deutschlands, die im „Hier und Jetzt“ real existiert.

Ich verstehe, dass das oben Dargelegte nicht ganz in die Tradition der Lobsprüche zu einem Jubiläum passt. Doch mich als Menschen, der seit vielen Jahren eine aktive Position in der jüdischen Gemeinschaft Deutschlands einnimmt, kann die entstandene Situation nicht gleichgültig lassen.

Es ist mir sehr wichtig, meine Meinung zu dieser Frage öffentlich auszusprechen und darauf aufmerksam zu machen. Auch ist es mir sehr wichtig, die besondere Rolle der jüdischen Museen zu unterstreichen, die sie bei der Änderung der Situation spielen können, denn ich bin mir sicher, dass ihre Gründer die Museen nicht als Modeerscheinung gegründet haben, sondern weil sie sich in der Verantwortung vor der Geschichte sehen. Und sie sind nicht nur dort offen, wo die einst erblühten Gemeinden vernichtet wurden, sondern auch dort, wo heute die wiedergeborenen jüdischen Gemeinden real existieren. Diese Rolle muss an erster Stelle darin bestehen, dass die Konzeption der Arbeit der jüdischen Museen neu ausgerichtet wird, insofern dass das heutige Leben der jüdischen Gemeinden darin viel stärker zur Geltung kommt. Und genau das setzt unser engeres Zusammenwirken und die Zusammenarbeit voraus.

Das Museum und unsere Gemeinde verbindet eine eigene langjährige gemeinsame Geschichte, das Verhältnis hatte verschiedene Phasen. Doch was auch immer gewesen ist, das Niveau der Zusammenarbeit bleibt meiner Meinung nach nicht hoch genug, um das existierende Stereotyp zu überwinden.

Von hier aus mein wichtigster Jubiläumswunsch an das Jüdische Museum Westfalen: Ein langes schöpferisches Leben in enger Zusammenarbeit mit der jüdischen Gesellschaft.

Dr. Mark Gutkin, Vorstandsvorsitzender der Jüdischen Kultusgemeinde Kreis Recklinghausen, Foto: Alexander Libkin

Stadt Recklinghausen hält Erinnerung an die Opfer des Nazi-Terrors wach

Neben dem Modell der 1938 von den Nazis niedergebrannten Synagoge hielt Bürgermeister Christoph Tesche seine Rede. Foto: Stadt RE/Hermann Böckmann

Seit Jahren pflegt die Stadt Recklinghausen mit vielen Akteurinnen und Akteuren eine ausgeprägte Erinnerungs- und Gedenkkultur. Ein wesentlicher Baustein ist auch eine Veranstaltung, mit der am Mahnmal vor dem Finanzamt Jahr für Jahr an die Reichspogromnacht 1938 erinnert wird. Bürgermeister Christoph Tesche lud auch in diesem Jahr die Bürgerschaft zur Teilnahme ein.

„Mit dem Gedenken halten wir nicht nur die Erinnerung an die Menschen wach, die auch in unserer Stadt durch die Nazis drangsaliert und ermordet wurden, sondern setzen gleichzeitig auch ein klares Zeichen gegen Antisemitismus, Rassismus und jede Form von Ausgrenzung“, sagte Christoph Tesche bei seiner Rede am Mahnmal. Das Gedenken fand unter Schirmherrschaft der Stadt Recklinghausen statt. Mitgestaltet wurde die Veranstaltung durch die Jüdische Kulturgemeinde, die Gesellschaft für Christlich-jüdische Zusammenarbeit (GCJZ) und Schülerinnen und Schüler der Gesamtschule Suderwich.

„Die Zahl der Straftaten mit antisemitischem Hintergrund ist in den vergangenen Jahren massiv angestiegen. Das ist für unsere Gesellschaft beschämend und darf uns nicht ruhen lassen“, erklärte Christoph Tesche. „Wir sind es den Opfern der Nazidiktatur, aber auch allen Menschen jüdischen Glaubens, die zum Glück mittlerweile wieder in größerer Zahl zu unserer Stadtgesellschaft gehören, schuldig, zu erinnern“, betonte Christoph Tesche.

Der Bürgermeister verwies darauf, dass die Stadt Recklinghausen nicht nur mit dem Verlegen von sogenannten Stolpersteinen, sondern auch mit dem Online-Gedenkbauch, das sich auf der Homepage der Stadt findet, die Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus wachhält. 1942 wurden 215 Menschen jüdischen Glaubens aus der Recklinghäuser Gemeinde nach Riga deportiert. Ihre Namen finden sich auf einem Gedenkstein, der auf dem Friedhof der Gemeinde steht. Ihnen wird traditionell am ersten Sonntag im November gedacht. Nur 16 Gemeindemitglieder fanden nach dem Krieg den Weg zurück, die anderen wurden ermordet.

Auch in Recklinghausen zogen in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 SA-Trupps

Gemeinsam entzündeten Bürgermeister Christoph Tesche und Gemeindevorsitzender Dr. Mark Gutkin am Mahnmal ein Friedenslicht. Foto: Stadt RE/Daniel Maiss

durch das Stadtgebiet. Sie misshandelten jüdische Bürgerinnen und Bürger, zerstörten deren Geschäfte und setzten die Synagoge der Jüdischen Kultusgemeinde in Brand.

Ein von den Stuckenbuscher Krippenbauern gestaltetes Modell, das während der Gedenkfeier auf der Bühne am Finanzamt platziert wurde, erinnerte an das Gotteshaus, das einst an der Ecke Westerholter Weg/Limperstraße Heimat der Jüdischen Kultusgemeinde war.

Tradition hat mittlerweile auch die Beteiligung von Schülerinnen und Schülern an Gedenkveranstaltungen in der Stadt. „Fachleute schätzen, dass bei 25 Prozent der Bürgerschaft ein latenter Antisemitismus vorherrscht. Und mögen einige Leute auch fordern, es müsse ein Schlussstrich unter diesen Teil der deutschen Geschichte gezogen werden, tun wir genau das Gegenteil und forcieren ganz bewusst die Auseinandersetzung mit dem Thema an unseren Schulen“, erklärte Christoph Tesche.

Und so lasen Schülerinnen und Schüler der Gesamtschule Suderwich, die sich im Rahmen eines Projektes mit dem Schicksal jüdischer Bürgerinnen und Bürger intensiv befasst und dabei auch erfolgreich den Kontakt zu deren Nachfahren gesucht hatten, aus Tagebuchaufzeichnungen vor. Nachdem Kantor Isaac Tourgman das Kaddisch gebetet hatte, zogen die Teilnehmer der Gedenkfeier zur Synagoge, in der die Bürgerinitiative „Die Erinnerung darf nie enden!“ ein eindrucksvolles Programm präsentierte. Auf dem Weg in das Gotteshaus wurde das Modell der alten Synagoge getragen.

Presseserice Ruhrfestspielstadt Recklinghausen

 

 

 

 

Zur Gedenkveranstaltung am 6. November auf dem Friedhof der Jüdischen Kultusgemeinde im Kreis Recklinghausen

Ehrengast Manfred de Vries spricht bei der feierlichen Enthüllung des restaurierten Denkmals

Rund 200 Gemeindemitglieder, Ehrengäste und Freunde der Jüdischen Kultusgemeinde im Kreis Recklinghausen wohnten am 6. November dem Gedenken zu Ehren der 215 ermordeten Gemeindemitglieder sowie aller insgesamt sechs Millionen Holocaust-Opfer bei. Die vielen Besucherinnen und Besucher sowie die musikalische Untermalung durch Geiger Michael Nodelman verliehen der seit 1945 traditionell am ersten Novembersonntag auf dem Friedhof der Gemeinde stattfindenden Gedenkveranstaltung einen würdigen Rahmen.

Herr Dr. Gutkin, Vorstandsvorsitzender der Jüdischen Kultusgemeinde Kreis Recklinghausen, begrüßte die Anwesenden mit Mahnen und folgenden bewegenden Worten:„Im Mittelpunkt der Gedenkveranstaltung steht die Enthüllung des restaurierten Denkmals, das überlebende Kriegsheimkehrer am 12. September 1948 auf dem Friedhof zur Erinnerung an die 215 ermordeten Gemeindemitglieder aufgestellt hatten. Initiator der Gedenkstätte war damals Ludwig de Vries, der erste Gemeindevorsitzende nach dem 2. Weltkrieg, unter dessen Leitung die Gemeinde nach dem Holocaust wiederauflebte.“

Die Wiedereinweihung nahmen nun Manfred de Vries, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Bad Nauheim und Sohn von Ludwig de Vries, seine Schwester Inga de Vries, Mark Gutkin

v.l.n.r.: Schwester von Ludwig de Vries Inga de Vries, Manfred de Vries, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Bad Nauheim, Kantor Isaac Tourgman, Dr. Mark Gutkin, Vorsitzender der Jüdischen Kultusgemeinde Kreis Recklinghausen

sowie Kantor Isaac Tourgman vor.

Zu den zahlreichen Ehrengästen gehörte Landrat Bodo Klimpel. Mit einem eindrucksvollen Vortrag verstand er es souverän und eindrucksvoll,

seine Worte zu einer tiefgründigen Rede mit Nachhall zu verbinden. Das in Recklinghausen lebende Schauspielerpaar Christine Sommer und Martin Brambach nahm die Besucher mit einem eindringlichen Wechselvortrag über die Opfer des Holocaust ein.

Da das Denkmal in den fast 75 Jahren nach seiner Aufstellung einige Risse bekommen hatte und einsturzgefährdet war, wurde es vollständig restauriert, wobei das ursprüngliche Aussehen erhalten geblieben ist. Die Namen aller Gefallenen sind auf der Rückseite eingraviert. Die Inschrift lautet: „Zum ewigen Gedenken an unsere ermordeten Brüder und Schwestern“.
Manfred de Vries sprach bei der Wiedereinweihung, die mit Fahnenträgern der ursprünglichen Enthüllung anno 1948 nachempfunden war – wie ein historisches Foto belegte. Getragen wurde die Restaurierung des Denkmals durch die Gemeinde, zusammen mit den Erben der Familien Ludwig de Vries und Mina Aron und unter aktiver Beteiligung der Stadt Recklinghausen. Die Durchführung oblag der Firma Vogt Grabmale aus Oer-Erkenschwick.Leider fehlte Rolf Abrahamsohn, der ehemalige Vorsitzende und Ehrenvorsitzende der Gemeinde, der im Dezember vergangenen Jahres verstorben war und eine große Lücke hinterlassen hatte. Für ihn sowie für die Holocaust-Opfer sprach Kantor Isaac Tourgman Kaddisch und Gebet.

Freundeskreis der Jüdischen Kultusgemeinde Kreis Recklinghausen, FOTOS: Alexander Libkin

Restaurierung der Denkmäler auf dem jüdischen Friedhof Recklinghausen

An dem Mahnmal für die 215 Opfer der Shoah auf dem jüdischen Friedhof in Recklinghausen sieht man immer deutlicher, wie die Zeit vergeht. Die schwarze Farbe verblasst, mit der im Jahr 1948 auf dem Beton des Mahnmals die Namen der Recklinghäuser Juden, die nach Riga verschleppt und getötet wurden, geschrieben wurden. Nicht nur das – auch die Substanz des Mahnmals hat unübersehbar gelitten. Deswegen soll die Gedenkstätte am Nordcharweg bis zum 6. November 2022 erneuert werden, wenn auf dem Friedhof die alljährliche Gedenkveranstaltung stattfindet, die an die Deportation der jüdischen Bürgerinnen und Bürger Recklinghausens nach Riga erinnert. „Am 6. November soll das Mahnmal so aussehen wie zur Eröffnung“, sagt der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Recklinghausen Dr. Mark Gutkin und zeigt ein Schwarz-Weiß-Foto vom 12. September 1948, dem Tag der Einweihung des Mahnmals, das auf dem Bild mit zwei Israel-Fahnen (rechts und links) zu sehen ist. Die Restaurierung übernimmt das Unternehmen Vogt Grabmale aus Oer-Erkenschwick. Maximilian Dryja, ein Vertreter des Unternehmens, schätzt den Arbeitsaufwand auf eine gute Woche zu zweit, mag sich jedoch nicht festlegen, denn sollte das Mahnmal innen nass sein, was man erst bei dessen Öffnung sieht, reiche eine Woche nicht aus. Mit der Zeit kann bei einem gegossenen Denkmal wie diesem der Beton platzen, wenn durch Ritzen Feuchtigkeit eindringt und die verbaute Substanz sich dadurch ausdehnt. Die Risse im Mahnmal seien in der Vergangenheit zwar ausgebessert worden, „aber nicht fachmännisch“, sagt der Steinmetz Dryja.

Der Stadtarchivar Dr. Matthias Kordes erzählt, dass die Aufstellung des Mahnmals 1948 dem jüdischen Ehepaar de Vries zu verdanken ist, das am 9. April 1946 die erste jüdische Hochzeit in Recklinghausen nach der Shoah feierte. Obwohl es damals keine Gedenkkultur und kein Archiv in der Stadt gegeben habe, haben Ludwig und Martha de Vries die Namen der 215 Opfer herausgefunden. Ludwig de Vries war außerdem der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde der Stadt, bis er 1958 verstarb.

Für die Restaurierung des Mahnmals und des Gedenksteins für jüdische Soldaten, die im Ersten Weltkrieg gefallen sind, ruft die Stadt Recklinghausen zu Spenden auf. Diese beiden Denkmäler spiegelten als „Antipoden“ die „Extreme der deutsch-jüdischen Kultur des 20. Jahrhunderts wider“ stellt Dr. Matthias Kordes fest und der VHS-Leiter Dr. Ansgar Kortenjann sagt dazu: „Es ist wichtig für die Stadt diese Denkmäler zu erhalten“.

Quelle: JEW_14_RE_Mahnmal

Bürgermeister Tesche unterstützt Spendenaufruf für jüdische Mahnmale

Sie werben für die Restaurierung der zwei jüdischen Mahnmale auf dem Jüdischen Friedhof (v.l.n.r.): Isaac Tourgmann, Kantor der Jüdischen Kultusgemeinde, Steinmetz Maximilian Dryja, VHS-Leiter Dr. Ansgar Kortenjann, Stadtarchivar Dr. Matthias Kordes und Dr. Mark Gutkin, Vorsitzender der Jüdischen Kultusgemeinde. Foto: Stadt RE

Mahnmale halten die Erinnerung wach und arbeiten gegen das Vergessen. Ihre gesellschaftliche Bedeutung ist unleugbar. Nicht nur aus diesem Grund bekräftigen die Stadt Recklinghausen und Bürgermeister Christoph Tesche den Spendenaufruf der Jüdischen Kultusgemeinde, um die Restaurierung der beiden Gedenksteine auf dem Jüdischen Friedhof am Nordcharweg zu unterstützen.

„Wir pflegen in Recklinghausen eine intensive und breit angelegte Gedenkkultur. Daran hat die Jüdische Kultusgemeinde ihren ganz besonderen Anteil“, sagt Tesche. „Umso wichtiger ist es also, die bestehenden Denkmale zu schützen und zu pflegen. Sie erinnern nicht nur an Geschehenes, sondern regen auch zum Nachdenken an und tragen hoffentlich dazu bei, dass es nie wieder zu ähnlich schrecklichen Ereignissen wie im 20. Jahrhundert kommt. Deshalb möchte ich mich mit einer Bitte an Sie wenden, liebe Bürgerinnen und Bürger, unterstützen Sie diese wichtigen Restaurierungsmaßnahmen gerne mit einer Spende.“

Es geht um zwei Mahnmale – das eine erinnert an die jüdischen Soldaten aus Recklinghausen, die während des Ersten Weltkrieges gefallen sind, das andere an die 215 jüdischen Opfer des Holocaust, ebenfalls aus Recklinghausen. Über viele Jahrzehnte hinweg waren die Mahnmale der Witterung ausgesetzt. Diese hat ihre Spuren mittlerweile sichtbar hinterlassen; die Inschriften mit den Namen der Kriegs- bzw. Holocaust-Opfer sind an einigen Stellen kaum mehr lesbar. Das Holocaust-Denkmal, das bereits am 12. September 1948 eingeweiht wurde, wird als erstes restauriert, sodass die Arbeiten spätestens in diesem November abgeschlossen sein sollen.

Maximilian Dryja, Geschäftsführer der Handwerksunternehmen Vogt Grabmale und Starmoris, übernimmt mit seinen Mitarbeitenden diese Instandsetzung. Das Ziel ist es, das historische Erscheinungsbild zu erhalten bzw. wiederherzustellen. Neben der Ausbesserung der vorhandenen Risse in den gegossenen Denkmalen gilt es auch die Inschriften zu erneuern und neu mit Farbe auszustatten. Die Handwerkstechnik des Einschlagens, die traditionelle Arbeit der Steinmetze, wird heutzutage nur noch selten angeboten.

Nach der Fertigstellung des Holocaust-Mahnmals soll die Restaurierung des Gedenksteins für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs folgen. Da dieser Obelisk bereits im Jahr 1921 errichtet wurde, ist er weitaus schlimmer von Schäden betroffen.

„Die beiden Mahnmale sind bewegende Symbole für die tragischen Extreme der deutsch-jüdischen Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts“, erläutert Stadtarchivar Dr. Matthias Kordes. „Nachdem die patriotischen deutschen Juden im Ersten Weltkrieg bereitwillig und Seite an Seite mit nicht-jüdischen Soldaten für das Kaiserreich kämpften, wurden sie bzw. ihre Angehörigen zwei Jahrzehnte später systematisch verfolgt und umgebracht.“

Die gesamte Restaurierungsmaßnahme soll im Laufe des Jahres 2023 abgeschlossen sein. Die Kosten belaufen sich auf circa 20.000 Euro. Um diese aufbringen zu können, ist die Jüdische Kultusgemeinde auf Spenden angewiesen.

Das Spendenkonto

Bankinstitut: Sparkasse Vest Recklinghausen

IBAN: DE87 4265 0150 0000 0450 47

BIC: WELADED1REK

Stichwort: Spende Mahnmal

Quelle: Isabel Wessels, Stadt Recklinghausen, Rathaus, Foto: Alexander Libkin

Jüdischer Freundeskreis und Erinnerungskultur

v.l.n.r.: Jochen Welt, Prof. Dr. Albrecht Geck, Isaac Tourgman, Judith Neuwald-Tasbach, Dr. Mark Gutkin

Mit einer Auftaktveranstaltung zum Thema „Erinnerungskultur im 21. Jahrhundert“ hat sich jetzt die „Initiativgruppe Freundeskreis der Jüdischen Gemeinde“ zu Wort gemeldet. Diese fand in gemeinsamer Vorbereitung in den Räumlichkeiten der Jüdischen  Gemeinde in Recklinghausen statt.

Ausgangspunkt für diese Veranstaltung war die großartige Resonanz bei der Spendenaktion für die Herstellung der Thora-Rolle. In dieser freundschaftlichen Atmosphäre regte die Jüdische Kultusgemeinde die Gründung eines „Freundeskreis der Jüdischen Gemeinde Recklinghausen“ an. Ein solcher Freundeskreis ist in Städten wie Bochum, Unna, Frankfurt, Chemnitz und anderswo schon längst selbstverständlich. Durch ihn sollen sich Menschen unterschiedlichen Glaubens und unterschiedlicher  eltanschauungen, die sich der jüdischen Kultusgemeinde unserer Region verbunden fühlen, persönlich begegnen, einander austauschen, Feste feiern und thematisch relevante Veranstaltungen, z.B. zum Thema der „Erinnerungskultur“ in Deutschland, durchführen. Deshalb hatte die jüdische Kultusgemeinde nun zwei Referenten eingeladen, eine jüdische Referentin und einen nicht-jüdischen Referenten.

In einem ersten Impulsreferat beschrieb Prof. Dr. Albrecht Geck, Leiter des Instituts für Kirchliche Zeitgeschichte des Kirchenkreises Recklinghausen (IKZG-RE), als Ziel von jüdisch-nicht-jüdischer Erinnerungskultur in Deutschland, dass „thematisiert wird, was geschehen ist, aber nie hätte geschehen dürfen, damit es nie wieder geschieht“. Geck charakterisierte „Erinnerungskultur als,Demokratiewissenschaft‘“ und schilderte ihre Entwicklung seit der berühmten Rede Richard von Weizsäckers zum 40. Jahrestag  es Kriegsendes 1985. Diese Rede habe auch in Recklinghausen zu einem Boom der systematischen Aufarbeitung der Verbrechen während des sog. Dritten Reichs geführt. Am Beispiel von Buch und Stadtplan „Wo du gehst und stehst“ (Recklinghausen 2002/09) schilderte Geck das vorbildliche „Recklinghäuser Konzept“, das die Geschichte mit konkreten Personen und konkreten Orten in Verbindung bringe. Anhand einer Stadtkarte könne man heute die „Stätten der Herrschaft, der Verfolgung und des Widerstands“ mit  chülerinnen und Schülern und mit Erwachsenen erkunden. So werde Geschichte kritisch ins Bewusstsein gehoben. Geck machte darauf aufmerksam, dass Erinnerung aus jüdischer und nicht-jüdischer Sicht jeweils etwas anderes bedeute. Beide müssten  llerdings zusammen fi nden in der gemeinsamen Arbeit an einer Demokratie, in der in Anerkennung der Menschenrechte Pluralität verantwortlich gelebt werde. In jedem Fall müsse auch zukünftig deutlich sein, dass die Erinnerung an die Shoa und die  nerkennung Israels zu den unverhandelbaren Bestandteilen staatsbürgerlicher Identität in Deutschland gehörten. Geck schloss seinen Vortrag mit einer nachdenklich stimmenden Anekdote: „Als evangelischer Theologe werde ich oft gefragt, was denn Juden  und  Christen gemeinsam haben. Und oft erstaunen mich die überraschten Gesichter, in die ich blicke, wenn ich antworte: „Die Menschenrechte!“.

Auf die aktuellen Gefährdungen für unser Zusammenleben und die Entwicklung der Erinnerungskultur ging Frau Judith Neuwald-Tasbach, Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen, Gladbeck und Bottrop und Tochter von Holocaust-Überlebenden in  ihrem persönlichen und emotional sehr bewegenden Vortrag ein. Sie berichtete sehr eindrücklich von der antisemitischen Demonstration am 12. Mai 2021 vor der Synagoge in Gelsenkirchen. Eine Hassveranstaltung, nicht in Ostdeutschland oder weit weg.  Vielmehr in der Nachbarschaft – in Gelsenkirchen.

Judith Neuwald-Tasbach: „Solche Taten regen und wühlen mich auf.“ Die hasserfüllten Gesichter, die sie in ihrer Heimatstadt gesehen hat, gehen ihr nicht mehr aus dem Kopf. Sie sieht sie ständig vor sich, ebenso die geballten Fäuste. Auch Kinder seien bei dem  Zug dabei gewesen, sagt sie entsetzt. Rund 180 Demonstranten waren vom Bahnhofsvorplatz in Richtung Synagoge gezogen, aufgehalten wurden sie von Polizeibeamten. Das Geschrei von Hass und Beschimpfungen wie „Scheiß Juden“ ginge ihr nicht mehr  aus dem Kopf. Ähnlich habe es ihr Vater in der Nazi-Zeit erfahren müssen.

Es sei gut, wenn sich zu derartigen Vorfällen die staatlichen Autoritäten klar und deutlich positionieren, so wie es im Mai des letzten Jahres Stadt, Land, Bund und viele gesellschaftliche Gruppen getan hätten. Und doch fehle etwas. Erinnerungskultur und  ekämpfung des Antisemitismus dürfe  nicht nur eine Aufgabe für die Offi ziellen sein. Erinnerungskultur müsse mehr in die Breite gehen, in die Schulen, in die Nachbarschaften und auch in die Familien. Dabei müsse vor allen Dingen gegen das Verdrängen und  Wegsehen gearbeitet werden.

Zum auf den Weg befi ndlichen „Freundeskreis der Jüdischen Kultusgemeinde“ kamen beide Referenten zu dem gleichen Ergebnis. In all den aufgeworfenen Fragen kann er wertvolle Arbeit leisten. Es gelte nicht etwas für Juden zu tun, vielmehr mit ihnen etwas  emeinsam auf den Weg zu bringen. Albrecht Geck: Von dem Freundeskreis, „verspreche ich mir persönliche Begegnungen, in denen sensible Fragen […] o• en besprochen werden, weil wir alleine im Gespräch unter Nicht- Juden damit vielleicht nicht  eiterkommen.“ Am 19.10.2022 hat die „Initiativgruppe Freundeskreis der Jüdischen Gemeinde“ zur Gründungsversammlung eingeladen.

Pressemitteilung, Foto: Alexander Libkin

 

Die vollständige wissenschaftliche Abhandlung
 finden Sie auf der Homepage der Jüdischen
Gemeinde Recklinghausen

Michael Breilmann MdB besucht gemeinsam mit Dr. Klein die jüdische Gemeinde

Am 22.07.2022 besuchte der Beauftragte der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus Dr. Felix Klein Michael Breilmann im Rahmen der Sommertour des Abgeordneten. Zu Besuch waren sie bei der jüdischen Gemeinde in Recklinghausen und wurden vor Ort von Herrn Dr. Gutkin, dem Vorstand der Gemeinde, und Herrn Tourgman, dem Vorbeter der Gemeinde, begrüßt. Begleitet wurden Michael Breilmann und Dr. Felix Klein vom Bürgermeister der Stadt Recklinghausen Christoph Tesche.

Herr Dr. Felix Klein wurde im Mai 2018 zum ersten Beauftragten der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus ernannt und durfte seine Arbeit auch nach dem Regierungswechsel in Berlin fortführen. Nun setzt er sich seit Jahren erfolgreich für die jüdischen Gemeinden sowie die Bekämpfung des Antisemitismus ein und besuchte Recklinghausen bereits zum zweiten Mal während seiner Amtszeit.

„Gerade nach den Antisemitismus-Vorfällen der vergangenen Monate ist es umso wichtiger zu den jüdischen Gemeinden zu stehen und immer wieder klare Zeichen gegen jede Form des Antisemitismus zu setzen. Der äußerst freundliche Austausch hat mich sehr begeistert und ich hoffe, dass die Zusammenarbeit auch in Zukunft entsprechend vorgeführt werden kann. Gleichzeitig bin ich Herrn Dr. Klein sehr dankbar für seinen Besuch, sein Engagement und den sehr informativen Austausch“, erzählt der Bundestagsabgeordnete Michael Breilmann, der im Ausschuss des Innern u.a. für die Themen Antisemitismusbekämpf Berichterstatter seiner Fraktion ist.

Nach einer kleinen Begrüßung zu Beginn des Besuchs des Abgeordneten und des Beauftragten der Bundesregierung führten Herr Dr. Gutkin Herr Tourgman ihre Gäste durch die Synagoge. Im Anschluss wurde über die Arbeit in der Gemeinde, zukünftige Veranstaltungen, mögliche Ideen und die Geschichte der Gemeinde berichtet.

Jonas Ehm, Foto: Alexander Libkin

Ein besonderes Ereignis für die jüdisches Kultusgemeinde und für Recklinghausen

Es gibt in Recklinghausen bereits eine vielseitige Erinnerungskultur. Am Sonntag,19.06.2022, kam ein weiteres eindrucksvolles Ereignis dazu. Die Stuckenbuscher Krippenbauer haben im vergangenen Jahr für die große Krippe in der Franziskuskirche verschiedene Modelle traditioneller Stuckenbuscher Gebäude und auch ein Modell der Synagoge, die am 09.November 1938 von den Nazis in Brand gesetzt wurde, gebaut. Dieses wurde am Sonntag in einer Feier der jüdischen Kultusgemeinde überreicht.
Zunächst wurde das Modell an der Stelle aufgestellt und enthüllt, an der die Synagoge stand. Günter Drax, Sprecher der Krippenbauer, begrüßte die vielen Gäste und brachte seine Freude zum Ausdruck, dass jetzt das Synagogen-Modell in der jüdischen Gemeinde einen würdigen Platz erhält. In mühevoller langer Arbeit haben Siggi Sander, Heiko Schulz, Andrea Schulte und Christiane Lück das Modell maßstabgerecht gebaut. Siggi Sander berichtete, wie es dazu gekommen ist. Sein Sangesbruder Josef Grimm, 91 Jahre alt, erzählte ihm, wie er als Junge am Morgen des 10.November 1938 die brennende Synagoge gesehen habe. Darauf kam der Entschluss: „Die bauen wir wieder auf – als Modell!“. Dann ging es an die Arbeit und es entstand ein faszinierendes Modell, das dann unter Klarinetten-Spiel durch Leonid Spivak zur heutigen Synagoge getragen wurde.
Dort begrüßte Dr. Mark Gutkin, Leiter der jüdischen Kultusgemeinde, die Anwesenden, besonders Bürgermeister Christoph Tesche, die Vertreter der Religionen und den Zeitzeugen Josef Grimm und sagte: „Heute ist wieder ein Freudentag. 118 Jahre sind seit der Einweihung der Synagoge in der Hedwigstraße (heute Limperstraße) vergangen, ca. 84 Jahre seit ihrer Zerstörung…. Heute kehrt die verbrannte Synagoge symbolisch in Form eines von Recklinghäuser Bürgern gebauten Modells in unsere Gemeinde zurück. Wir nehmen dieses sehr wertvolle Geschenk mit großer Dankbarkeit an. Und indem ich dieses Geschenk annehme, möchte ich betonen, dass es nicht nur ein Geschenk an uns ist.
Es ist für uns ein Symbol dafür, dass trotz zunehmender antisemitischer Einstellung im heutigen Deutschland unser Freundeskreis immer größer wird und die Solidarität und  Unter-stützung unserer Gemeinde wächst.
Und all dies ist eine Garantie dafür, dass sich die tragischen Ereignisse des Holocaust in diesem Land niemals wiederholen und wir weiterhin in Frieden und Harmonie leben werden.“ Danach berichtete eine Schülerinnengruppe des Theodor-Heuss-Gymnasiums (Recklinghausen) über ihre Arbeit zum Thema Synagoge mit ihrer Lehrerin Irmin Brocker. Für diese Arbeit stand das Synagogen-Modell mehrere Woche in der Schule. Ihre Erfahrungen brachten sie so zum Ausdruck: „In den letzten Wochen haben wir einen tieferen Zugang zu den Themen jüdisches Leben in Recklinghausen und Antisemitismus gefunden… Gemeinsam erinnern wir uns anhand des Synagogen-Modells an die zu vielen Opfer der Geschichte. Gemeinsam setzen wir durch die Übergabe ein Zeichen der Wertschätzung und Freundschaft in der Gegenwart. Es ist ein Zeichen gegen Antisemitismus und für den Frieden.“
Bürgermeister Christoph Tesche brachte seine Freude über die Übergabe des Modells zum Ausdruck und sagte: „Das Modell ist nicht nur Mahnung, sondern auch Symbol für das freundliche Aufeinander-Zugehen und für das friedvolle Miteinander in unserer Stadt, wie es hier in dieser Feier wieder zu erfahren ist.“
Umrahmt wurde die Feierstunde durch das Vokalensemble der Jüdischen Kultusgemeinde Kreis Recklinghausen unter Leitung von Nikolai Miassojedov und als Gastsängerin durch Daria Telytchenko, einer Teilnehmerin des Fernsehwettbewerbs „Voice  Ukraine“.Sehr bewegend sang sie: “Wo ist die Ukraine?“ Die Feierstunde klang mit einem Festessen aus. In unruhigen Zeiten ein wirklich besonderes Ereignis für die jüdische Kultusgemeinde und für Recklinghausen.
Quelle: Bernhard Lübbering, Foto: Alexander Libkin

Das Kulturprogramm „Musik in der Synagoge“, 2022

v.l.n.r.: Ulrich Engelmann, Holger Freitag, Udo Schmidt, Claus Beeking, Dr. Mark Gutkin, Christoph Tesche, Dr. Andreas Schumann, Anja Rex, Heidi Blessenohl und Klaus Herrmann, Foto: Alexander Libkin

Das Kulturprogramm „Musik in der Synagoge“ fand 2011 erstmals offiziell in Zusammenarbeit mit der Fraktion „Bündnis90 Die Grünen“ statt. Das Kulturprogramm im Format „Treffpunkt Synagoge“ gibt es bereits seit 2012. Mit anderen Worten: In diesem Jahr feiern wir unser zehnjähriges Jubiläum. Im Laufe der Zeit haben sich uns das Integrationsinstitut „Die Brücke“, die Fraktionen SPD, FDP, CDU, das Abrahamsfest in Marl und der Rotary-Club Marl angeschlossen.

Im Laufe von zehn Jahren haben mehr als fünfzig Konzerte im Rahmen unseres gemeinsamen Projekts stattgefunden. Diese Konzerte boten Musik aus verschiedenen Genres, Stilen, Epochen und Kulturen. Bei den Konzerten traten international bekannte Musiker auf. Im Jahr 2017 zum Beispiel Alex Jacobowitc, dessen Marimbophon in sieben Kisten passt und es über vier Stunden braucht, um zusammengebaut und aufgestellt zu werden. Oder zwei Konzerte mit dem berühmten Geiger Alexander Kramarov, dem die Ehre zuteilwurde, auf der berühmten Paganini-Geige zu spielen. Es gab viele Auftritte von Klezmer-Musikern; es gab Musik von zeitgenössischen israelischen und bekannten jüdischen Komponisten. Der Kinderchor aus der Partnerstadt Acco (Israel) und der Ivrietchor „Al Narot“ aus der Partnerstadt Dordrecht (Niederlande) nahmen an unseren Programmen teil. In der letzten Saison hatten wir auch die gemischte israelisch-iranische Gruppe „Sistanagila“ in unserem Programm.

Die Pandemie hat zu einigen Einschränkungen der traditionellen Konzertreihenfolge geführt. Um das Risiko einer Ansteckung zu verringern, planen wir im zweiten Jahr in Folge alle Veranstaltungen für die Sommerzeit in dem Festzelt vor der Synagoge.

Prominente Gratulanten: Zum 30. Geburtstag des Jüdischen Museums kamen am Mittwoch viele namhafte Besucher nach Dorsten. Unter den Gästen waren auch Ministerpräsident Hendrik Wüst und Antisemitismusbeauftragte Sabine Leutheusser-Schnarrenberger.

30 Jahre sind vergangen, seit das Jüdische Museum Westfalen offiziell eröffnet worden ist. Als ein großes „Gemeinschaftswerk“ lobte Dr. Norbert Reichling die heutige Einrichtung. Der Vorsitzende des Trägervereins erinnerte daran, dass die Idee für das Museum aus bürgerschaftlichem Engagement entstanden sei. „Heutzutage nennt man das wohl eine Graswurzelbewegung“, ergänzte Bürgermeister Tobias Stockhoff. Er lobte das Museum als einen „Ort der Demokratie“.

Hendrik Wüst trägt sich im Goldenen Buch ein

Anlässlich des Jubiläums fanden sich zahlreiche prominente Gäste aus Politik und Gesellschaft ein. So war etwa der Münsteraner Bischof Felix Genn ebenso vertreten wie der Landesvorsitzende der Jüdischen Gemeinden von Westfalen-Lippe, Zwi Rappoport. Überregional bekannte Besucher waren etwa die Antisemitismusbeauftragte Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, die Generalsekretärin des Vereins „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“, Sylvia Löhrmann, und natürlich der NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst. Wüst nutzte die Gelegenheit, sich in das Goldene Buch der Stadt Dorsten einzutragen.

Hendrik Wüst trägt sich im Goldenen Buch ein

Anlässlich des Jubiläums fanden sich zahlreiche prominente Gäste aus Politik und Gesellschaft ein. So war etwa der Münsteraner Bischof Felix Genn ebenso vertreten wie der Landesvorsitzende der Jüdischen Gemeinden von Westfalen-Lippe, Zwi Rappoport. Überregional bekannte Besucher waren etwa die Antisemitismusbeauftragte Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, die Generalsekretärin des Vereins „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“, Sylvia Löhrmann, und natürlich der NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst. Wüst nutzte die Gelegenheit, sich in das Goldene Buch der Stadt Dorsten einzutragen.

Quelle: dorsten-online.de/hendrik-wuest-juedisches-museum

Besuch der Jüdischen Kultusgemeinde Kreis Recklinghausen

Jan Matzoll und Dr. Mark Gutkin

Heute habe ich die Jüdische Gemeinde 🕍 in Recklinghausen besucht und mich mit Dr. Mark Gutkin über die Entwicklung der Gemeinde, über die Kulturreihe „Treffpunkt Synagoge“ sowie über den Krieg in der Ukraine 🇺🇦 ausgetauscht.

Ein Großteil der Gemeindemitglieder in Recklinghausen hat Verwandte und Freund*innen in der Ukraine. Entsprechend groß sind die Anteilnahme sowie die Unterstützung für die Geflüchteten und die Menschen vor Ort. 🙏

Ich bin dankbar für den Austausch und glücklich, einen so wunderbaren Ort der Liebe, des Gemeinsinns und der Menschlichkeit in Recklinghausen zu wissen.

Jan Matzoll

Landtagskandidat der GRÜNEN in Recklinghausen und Oer-Erkenschwick

Foto: Alexander Libkin

Wichtige & mutmachende Besuche in der Jüdischen Kultusgemeinde Kreis Recklinghausen

v.l.n.r.: Karl-Hermann Kemper, Frank Schwabe, dr. Mark Gutkin, Isaac Tourgman

Am 08.03.2022 hatten wir in unserer Gemeinde Herrn Bundestagsabgeordneten Frank Schwabe und etwas später, zum ersten Mal, Herrn Karl-Hermann Kemper, Propst der katholischen Propsteigemeinde St. Peter in Recklinghausen, zu Gast.
Mit diesen Worten möchte sich die Gemeinde Recklinghausen nochmals im Namen des Vorstandsvorsitzenden Dr. Mark Gutkin, des Kantors Isaac Tourgman und allen Betroffenen ausdrücklich für die Unterstützung und den Beistand unserer beiden Gäste in dieser schwierigen Zeit bedanken.
Neben anderen Themen stand morgens mit Herrn Schwabe vor allem die Erörterung des Ukraine-Kriegs im Mittelpunkt. Ca. 60% unserer Gemeindemitglieder stammen aus der heutigen Ukraine. Das unvorstellbare Leid und die Probleme sind für Außenstehende kaum zu begreifen.
Herr Schwabe bekräftigte die jahrelange enge Freundschaft zu der Gemeinde Recklinghausen und versprach, bei der Suche nach Lösungen bei extremen Problemfällen im momentanen Konfliktgebiet unserer Gemeinde helfend und unterstützend beizustehen. Dieser Beistand gab uns neuen Mut. Wir sind über alle Maßen dankbar für die Unterstützung und die Hilfe.
Propst Kemper war zum ersten Mal bei uns. Wir waren äußerst froh und fühlten uns sehr geehrt, ihn bei uns begrüßen zu dürfen. Sowohl als Privatmann als auch im Namen der katholischen Kirche wurde betroffenen Gemeindemitgliedern ausdrückliche Unterstützung zugesagt und eine Fortsetzung der erfolgreichen Zusammenarbeit beider
Religionsgemeinschaften bekräftigt. Unter anderem wurde, voraussichtlich noch im März, ein gemeinsames Gebet vereinbart. Über die Anteilnahme sind wir sehr ergriffen und drücken hier nochmals unsere tiefe Dankbarkeit aus.
Besuche und Zusammenkünfte wie heute zeugen von einem beispielhaften Zusammenhalt aller Ethnien, Religionen und Gemeinschaften. Mit solcher Hilfsbereitschaft können und wollen wir die Hoffnung für eine friedliche Zukunft nicht verlieren.
Wir beten im Namen der Freiheit und des Friedens für Recklinghausen, die Ukraine und die Welt – für unsere Kinder, unsere Freunde und für alle Menschen.
Vielen Dank für die Unterstützung von Herrn Schwabe und Herrn Kemper und den Beistand aller Spender und Helfer. Möge der Krieg so schnell wie möglich enden!

 

Jüdische Kultusgemeinde Kreis Recklinghausen, Foto: Alexander Libkin

PUTINS KRIEG

Lieber Freunde, verehrte Spender, vielen Dank für die zahlreichen Spenden und die Unterstützung für unsere Schwestern und Brüder in der Ukraine. Wir alle beten und hoffen auf ein baldiges Ende dieses völlig sinnlosen Krieges. Dank eurer Hilfe können wir wenigstens versuchen, das Leid der ukrainischen Bevölkerung ein bisschen zu lindern.
Gottes Segen und Frieden für die Ukraine & uns allen, Amen
Schalom

Zum Gedenken an die Juden, die im Ersten Weltkrieg umgekommen sind

(gekürzte Fassung)

Der restaurierte Obelisk zu Ehren der deutschen Juden, die im Ersten Weltkrieg gefallen sind

Am 1. August 2023 fand auf dem jüdischen Friedhof Recklinghausen die feierliche Eröffnung nach der Restauration des Obelisken statt, welcher der Teilnahme deutscher Juden am Ersten Weltkrieg gewidmet ist.

Darauf sind die Namen der verstorbenen 13 Mit­ glieder der Recklinghäuser Gemeinde verewigt.
Der Obelisk verewigt die ungerechtfertigterwei­ se vergessene Generation der loyalen jüdischen Bürger, Deutschlands Patrioten, die ihre Bürger­ pflicht erfüllten. Das Denkmal wurde nur drei Jah­ re nach Kriegsende gebaut, im November 1921. Es war vom Architekten Bernhard Schwiters aus Recklinghausen geplant wor­ den, darüber berichtete damals die Recklinghäuser Zeitung.

­Im vergangenen Jahrhundert hat die zerstö­ rerische Wirkung der Zeit dem Monument Scha­ den zugefügt. Es wurde brüchig, verfiel und die Inschriften verblassten. Eine Generalüberholung war nötig. „Tatsächlich sollte das Denkmal im Jahr 2021 wiederhergestellt werden, 100 Jahre nach seiner Erbauung. Doch die Coronavirus-Pandemie bremste das Projekt aus. Und so findet heute, am Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkriegs, die Eröffnung des restaurierten Denkmals statt“, sagte der Vorsitzende der Gemeinde Mark Gutkin. Er hieß auch die Ehrengäste bei der Zeremonie willkom­ men. Die Ehre, das Denkmal zu eröffnen, wurde dem Ehrengast, dem Militärbundesrabbiner Zsolt Balla zuteil.
Der Davidstern und das Eiserne Kreuz auf dem Denkmal wird von 13 Namen verstorbener jüdischer Soldaten um­ rahmt. Dies ist kein Zufall. Im Ju­ dentum gibt es die alte Regel, die schon im Babylonischen Talmud (Talmud Bavli) fest­ gehalten wurde: „Das Gesetz des Landes ist Gesetz für den Juden.“

Diesem Gesetz folgend gingen sie an die Front, um nicht nur ihr Vaterland zu verteidigen, son­ dern auch die Rechte ihrer Glaubensgenossen zu schützen. Der Gerechtigkeit halber möchte ich an­ merken, dass die jüdischen Bürger der Länder, die gegen Deutschland kämpften, ebenso auf einer Welle des Patriotismus an die Frontgingen und ge­ gen ihre eigenen Glaubensbrüder kämpften. Etwa eine halbe Million „Deutsche des Glaubens Moses“, die weniger als ein Prozent der deutschen Bevölke­ rung ausmachten, spielten eine wichtige Rolle im gesellschaftlich-politischen, ökonomischen, finan­ ziellen, wissenschaftlichen und kulturellen Leben des Reiches. 100.000 Juden (jeder fünfte deutsche Jude) dienten 1914-1918 in der kaiserlichen Armee, 80.000 von ihnen kämpften an der Front. 10.000 deutsche Juden gingen freiwillig in die Armee.
Deutsche Juden waren nicht weniger deutsch­ patriotisch als nichtjüdische Deutsche. Während des Ersten Weltkrieges wurden 35.000 deutsch­ jüdische Kämpfer mit Orden und Medaillen aus­ gezeichnet, 18.000 von ihnen mit dem Eisernen Kreuz. An den Fronten des Ersten Weltkriegs star­ ben 12.000 deutsche Soldaten und Offiziere jü­ dischen Glaubens für ihre deutsche Heimat und weitere 32.000 wurden schwer verwundet oder durch Gase vergiftet.
In Deutschland waren die jüdischen Veteranen des Ersten Weltkriegs im imperialen Bund jüdischer Frontkämpfer vereinigt, der 55.000 Mitglieder zähl­te. Der Bund wurde von Kapitän Leo Löwenstein angeführt, deutscher Chemiker und Physiker, Trä­ ger des Eisernen Kreuzes 1. Klasse.
Doch dies hat ihnen nicht geholfen, schreck­ lichen antisemitischen Verfolgungen zu entgehen.
Im Kampf gegen die Weimarer Republik nutzten die Nazis aktiv antisemitische Provokationen – unter anderem die Lüge, Juden wären im Ersten Weltkrieg hinter den Linien sitzen geblieben und hätten dem kaiserlichen Deutschland einen „Mes­ serstoß in den Rücken“ verpasst.
Nach der Machtergreifung Hitlers wurden Juden Opfer des nationalsozialistischen staatlichen An­ tisemitismus, der in vielen Punkten auf den „Pro­ tokollen der Weisen von Zion“ basierte. Diese Fäl­ schung gab Hitler laut den Worten des britischen Historikers Norman Cohn den „Segen für den Ge­ nozid“. Nach Deutschland wurden die „Protokolle“
Ende 1918 gebracht, von Fedor Winberg und Pjotr Schabelski-Bork, Mitglieder der russischen Schwar­ zen Hundertschaften. Alfred Rosenberg, Emigrant aus Russland, der zum Ideologen der Partei Hitlers wurde, brachte eine Massenpublikation der „Proto­ kolle“ in deutscher Sprache heraus. Die „Protokol­ le“ wurden zu einem der Lieblingsbücher Hitlers: Er fasste den absurden Plan einer Verschwörung mit dem Ziel der Ergreifung der Weltherrschaft als Of­ fenbarung auf und versuchte ihn in die Tat umzu­ setzen. Der Führer der Nazis nutzte genau die Me­ thoden, welche die Autoren der „Protokolle“ den mythischen jüdischen Verschwörern zuschrieben.
Bereits im Jahr 1935 wurden die Juden entspre­ chend den Nürnberger Rassegesetzen ihrer Bür­ gerrechte beraubt. Das Judentum stellten die Nazis nicht an dem Glauben, son­ dern an der Abstammung fest.
Nach der Kristallnacht – dem Pogrom gegen die Juden im November 1938, wurde der Bund jüdischer Frontkämpfer verboten. Vor dem Zweiten Weltkrieg verstärkte sich die Flucht der Juden aus Deutsch­ land. Wer das nicht konnte oder es nicht mehr schaffte, zu emigrieren, wurde zum Opfer der nationalsozialistischen „Endlösung der Judenfrage“. Und die jüdischen Veteranen des Ersten Weltkriegs waren davon nicht ausgeschlossen.
Nicht zufällig befindet sich neben dem Obelisken auf dem jüdischen Friedhof ein Denkmal für die 215 Mitglieder der Gemeinde, die in der Zeit des Holocaust umgekommen sind, das ebenfalls restauriert wurde. Die Nähe der beiden Gedenkstätten ist eine Erinnerung und Mahnung an uns alle. Doch auch wenn die Welle des Antisemitismus im mo­ dernen Deutschland wächst, dienen heute 300 jüdische Soldaten ihrer Heimat in der Bundeswehr.
Der Erste Weltkrieg raubte mehr als neun Millionen Menschen das Leben und brachte Hunger, Zerstörung und menschliches Leiden mit sich. Die europäischen Großmäch­ te waren in zwei militärisch-politische Blöcke eingeteilt: die Entente und der Dreibund. Es ist traurig, dass auf jeder Seite Juden einander bekämpften und töteten.

In den jüdischen Gemeinden erzählte man die wahre Legende aus den Zeiten des Ersten Welt­ kriegs: In einem tödlichen Nahkampf standen russische und deutsche Soldaten einander gegenüber. Der Russe erstach den Deutschen mit einem Bajonett. Plötzlich hörte er aus dem Mund des Sterbenden die Worte des Gebets „Shma Israel“. Dem rus­ sischen Soldaten wurde klar, dass er einen Glaubensbruder getötet hatte – beide Soldaten waren Ju­ den.

Wie der Dichter Igor Guber- man schrieb:

Die Juden kannten die beschämende Lage unter dem Joch der Unterdrük- ker, doch nach der Schmach einer Niederlage überlebten sie die Sieger.

Irina Barsukova
Foto: Alexander Libkin

SOLIDARITÄTSBESUCH BEI DER JÜDISCHEN GEMEINDE

Freundschaft ist in schweren Zeiten noch wichtiger wie an guten Tagen. Deshalb haben die Landtagsabgeordnete Anna Teresa Kavena, die stellvertretende SPD-Stadtverbandsvorsitzende Sabine Meierhans und Ratsmitglied Frank Cerny die Jüdische Gemeinde besucht, um Anteilnahme und Solidarität angesichts des schrecklichen Terrorangriffs auf Israel zu bekunden. Bei dem Treffen wurde auch eine Solidaritätsnote des heimischen Bundestagsabgeordneten Frank Schwabe übergeben.

Gemeinsam gab es einen Austausch mit dem Vorsitzenden der Gemeinde, Dr. Mark Gutkin und Kantor Isaac Tourgman, über die aktuelle Situation im Nahen Osten. Ebenfalls wurde über die Lage  in Deutschland gesprochen. Die SPD-Vertreter*innen betonten, dass das Existenzrecht Israels durch nichts zu relativieren ist. Deutschland muss alles dafür tun, damit jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger frei und ohne Angst leben können. Zugleich wurde gemeinsam die Hoffnung geäußert, dass es zu keiner weiteren Eskalation im Nahen Osten kommt und die Bemühungen um einen dauerhaften Frieden in der Region fortgesetzt werden. Gegen diejenigen, die den Terror gegen Israel und den Tod unschuldiger Menschen hierzulande feiern, muss der Rechtsstaat mit voller Härte vorgehen.

Recklinghausen: Nachbarschaftstreffen mit Ausstellungsbesuch – Jüdische Kultusgemeinde ist im Polizeipräsidium zu Gast

Recklinghausen (ots)

Eine Delegation der Jüdischen Kultusgemeinde um Kantor Isaac Tourgman und den Gemeindevorsitzenden Dr. Mark Gutkin war bei der Recklinghäuser Polizei zu Gast und wurde von Polizeipräsidentin Friederike Zurhausen empfangen.

Eine Delegation der Jüdischen Kultusgemeinde um Kantor Isaac Tourgman und den Gemeindevorsitzenden Dr. Mark Gutkin war jetzt bei der Recklinghäuser Polizei zu Gast. Auf dem Plan stand der Besuch zweier Ausstellungen im Polizeipräsidium: der Dauerausstellung „WiRErinnern“ zur Geschichte der Recklinghäuser Polizei sowie der Wanderausstellung „Du Jude – Alltäglicher Antisemitismus in Deutschland“ der Kölnischen Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit.

Polizeipräsidentin Friederike Zurhausen und Wachleiter Martin Wilhelm empfingen die Gemeindevertreter und nutzten das Nachbarschaftstreffen mit Rundgang durch die Ausstellungen zu Gesprächen über Erinnerungskultur, gemeinsame christlich-jüdische Werte und demokratische Resilienz.

Seit Jahren pflegen die Jüdische Gemeinde und die Recklinghäuser Polizei eine gute Nachbarschaft mit regelmäßigem Austausch. Erst vor wenigen Tagen war eine Dienstgruppe der Recklinghäuser Wache in der benachbarten Synagoge zu Gast, um von Isaac Tourgman mehr zu erfahren über jüdisches Leben in unserer Region.

Die Auseinandersetzung mit der Geschichte und den eigenen Werten ist Friederike Zurhausen ein besonderes Anliegen. „Unsere Dauerausstellung setzt sich an zentraler Stelle mit den Gräueltaten der Polizei im Nationalsozialismus auseinander. Sie ist ein wichtiger Baustein unserer Selbstreflexion und Wertearbeit. Die Polizei hat im Terrorsystem der Nationalsozialisten eine schreckliche Rolle gespielt. Das in Recklinghausen gebildete Polizeibataillon 316 war an der Ermordung von tausenden jüdischen Opfern beteiligt. Wir erkennen unsere Verantwortung an, uns mit dem dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte und der Geschichte der Polizei auseinanderzusetzen und rechtsextremistischen sowie antisemitischen Tendenzen konsequent entgegenzutreten“, sagt die Polizeipräsidentin. „Die Wanderausstellung zu alltäglichem Antisemitismus in Deutschland gibt dabei wertvolle Denkanstöße.“ Die oft in Schulen genutzte Ausstellung „Du Jude“ war über die Sommermonate im Präsidium ausgestellt.

Friederike Zurhausen betont: „Antisemitismus und Rassismus, Ausgrenzung, Hass und Gewalt müssen wir als Gesellschaft, aber vor allem als Polizei, entschieden entgegentreten. Jüdisches Leben gehört selbstverständlich zu unserem Land und muss hier ohne Angst vor Bedrohung möglich sein.“

Das Treffen diente den Vertretern der Jüdischen Gemeinde auch dazu, sich einen ersten Eindruck von der Dauerausstellung der Recklinghäuser Polizei zu verschaffen, denn für Ende Oktober ist der Besuch einer größeren Gruppe von Gemeindemitgliedern im Präsidium geplant.

Polizeipräsidium Recklinghausen
Bjoern Korte

23. Abrahamsfest 2023

„Schöpfung und Lebensgrundlagen bewahren – unsere gemeinsame Verantwortung“

Unter dieses Thema haben die Verantwortlichen der „Christlich – Islamisch – Jüdischen Arbeitsgemeinschaft“ in Marl und Recklinghausen das 23. Abrahamsfest gestellt und ein vielfältiges Programm erarbeitet. Dr. Marc Gutkin, Vorsitzender der Jüdischen Kultusgemeinde im Kreis Recklinghausen eröffnete zum 12. Mal den feierlichen Auftakt des Abrahamsfestes in der Synagoge.

Landrat Bodo Klimpel erinnerte in seiner Rede an die Anschläge des 11. September und bedankte sich bei der interkulturellen Arbeitsgemeinschaft CIJAG für ihr jahrzehntelanges Bemühen um Begegnung, um Respekt und Toleranz und den Frieden zwischen den Religionen in der Stadt und im Land. Die Freude war groß, diesmal die Schirmfrau des 23. Abrahamfestes Dr. Deborah Williger begrüßen zu dürfen. Sie hielt als jüdische Theologin und Agrarwissenschaftlerin die feierliche Eröffnungsrede. Getragen waren ihre Worte von den Gedanken um die Abrahamitischen Religionen, die sich zu dem „Einem“ Gott bekennen, im Judentum, wie im Christentum und im Islam. Sie regte an, vom „Abrahamitischen Fest“ zu sprechen, statt vom Abrahamsfest, um zu verdeutlichen, dass es um die Nachfahren Abrahams geht, zu denen Männer, Frauen, Kinder gehören und alle miteinander den Auftrag haben, sich um das Wohlergehen aller und die Bewahrung der Schöpfung zu kümmern. Die jungen Leute der CIJAG thematisierten ihre Zukunftsängste angesichts der Klimakrise und appellierten an die Verantwortung, die jeder Einzelne für den Wandel hat. Den Rahmen für die Wortbeiträge bildeten die wunderbaren Klänge von Christos Kazagliz und Dr. Jana Emmrich (Christlich: Cello und Klavier), Salih Akkus (Islamisch: Baglama und Gesang, Nei-Flöte) und des jüdischen Vokalensembles, das unterstützt wurde von drei kleinen Solistinnen, die alle Herzen gewannen.

Vom Abrahamischen Forum Deutschland e.V. angereist waren von Darmstadt Dr. Jürgen Micksch (Träger des Bundesverdienstkreuzes für sein Engagement gegen Rassismus und für ein Miteinander der Menschen und Religionen) und die Referentinnen Stefanie Krauch und Charlotte Löbner. Sie eröffneten die „Religiösen Naturschutztage Deutschland“ hier bei uns und mit uns gemeinsam. Als besondere Zeichen, Symbole für Stärkung, Ermutigung und Neuanfang brachten sie für alle Anwesenden, in kleine Tütchen verpackt, die Zutaten der „Asure-Suppe“ mit, die Köstlichkeit Noahs. Der Erzählung nach bereitete Noah nach der vernichtenden Sintflut, als er wieder festen Boden unter den Füßen hatte, mit den letzten Resten seiner Vorräte diese Süßspeise zum ersten Mal zu und feierte mit den Überlebenden der Arche ein Festmahl.

Den Segen sprachen Vertreter*innen der 3 Religionen mit Isaac Tourgman von der jüdischen Kultusgemeinde, Superintendentin Saskia Karpenstein vom ev. Kirchenkreis, Muhammet Catmack von der Fatih Moschee in Marl und Karl Kemper, Kreisdechant in Recklinghausen. Nach diesen ermutigenden Worten für unsere Zukunft folgten noch sehr viele Gäste der Einladung zum gemeinsamen Essen auf dem Hof der Synagoge.

(http://www.cijag-marl.de) 

 Gespräch des Freundeskreises der Jüdischen Kultusgemeinde Recklinghausen mit Landrat

(v.l. n.r): Landrat Bodo Klimpel, Vera Klocke-Eickmann, Hans-Georg Wiemers, Jochen Welt, Ansgar Lewe, Isaac Tourgmann, Dr. Mark Gutkin

Nach der Gründung des Freundeskreises gilt es sich in Stadt und Kreis vorzustellen und gemeinsame Aktivitäten zu besprechen. Dabei wurde schnell klar, dass Landrat Bodo Klimpel ein engagierter Verfechter jüdischen Lebens im Kreis Recklinghausen ist. Zu den Gemeinsamkeiten gehören sowohl eine erlebbare Erinnerungskultur zu den Gräueltaten des Nationalsozialismus als auch die aktive Gestaltung eines bürgerschaftlichen Miteinanders unter Beteiligung der Jüdischen Kultusgemeinde. Ein besonderer Schwerpunkt gemeinsamer Aktivitäten liegen auch in der Vermittlung jüdischen Lebens für die jüngeren Generationen. Hier leistet insbesondere die Begegnung mit der Erlebnisgeneration wertvolle Hilfe. Diese Chance wird immer geringer. Hier gilt es neue Erlebnisformen zu entwickeln.
Hierzu sollen gemeinsam neue Formate besprochen werden. Einen besonderen Beitrag kann dabei auch die Israelstiftung leisten. Deren Aktivitäten und deren Unterstützung zu fördern, soll ebenfalls ein weiteres Arbeitsziel sein.

Jochen Welt

 

Spuren jüdischer Geschichte

Abschrift des Originalbriefs. Der Stil und die Grammatik des Briefes wurden wie im Original beibehalten.

Am 27. Janaur 2023 versammelten sich Menschen verschiedenster Konfessionen und Religionen, gemeinsam zu einem Koffermarsch durch Recklinghausen, um an die ermordeten Menschen zu erinnern, die dem nationalsozialistischen Rassenwahn zum Opfer fielen. An der Veranstaltung teilgenommen haben auch Leonie Staske und Satine Norkus, zwei Schülerinnen vom Hittorf-Gymnasium.

“Die Opfer des Holocaust können ihre Geschichten nicht mehr erzählen, deshalb ist es als Gesellschaft unsere Verantwortung, an ihre Schicksale zu erinnern, damit sich das was damals geschehen ist, sich nie wiederholt”, sagen die beiden. Aus dieser Überzeugung heraus entstand mit anderen Schüler*innen ein Projekt mit dem Titel „Spuren jüdischer Geschichte – eine Zeitreise durch Recklinghausen“. An verschiedenen Stationen sollen QR-Codes eingescannt werden können, um mit Augmented Reality mehr über jüdisches Leben in Recklinghausen zu erfahren.

Bevor so ein großes Projekt überhaupt erst auf die Beine gestellt werden konnte, war im Vorfeld tagelange Recherchearbeit von Nöten. Dabei stießen Leonie und Satine im Stadtarchiv auf einen Fund, der sie gleichermaßen erstaunte und anwiderte: Briefe von opportunistischen Recklinghäuser Bürgern, die schon vor der Wannseekonferenz von der anstehenden Deportation der Juden Wind bekamen und eine Anfrage ans Finanzamt schickten, ob sie die bald leerstehenden Wohnungen bekommen könnten.

Diese Briefe wollten die Schülerinnen am Holocast-Gedenktag in der jüdischen Synagoge vorlesen, um darauf aufmerksam zu machen, wie das Verbrechen der Nazis damals von weiten Teilen der Bevölkerung hingenommen, in diesem Fall sogar begrüßt wurde. „Natürlich ist man erst unglaublich aufgeregt, vor allem wegen der besonderen Bedeutung dieser Gedenkveranstaltung“, erklärt Satine im Nachhinein. Aber während der Rede herrschte dann eine stille, aufmerksame Stimmung im Publikum, ein Gemeinschaftsgefühl, das bereits auf dem Weg von der Christuskirche zur Synagoge spürbar war und welches die beiden noch gut in Erinnerung haben. Nach der Veranstaltung waren sie vor allem stolz, dass alles so gut funktioniert hat und dass die Anwesenden begeistert von ihrem Engagement gegen das Vergessen waren.

Vielen Zuhörern ist auch nach der Veranstaltung noch im Kopf geblieben, womit die beiden Hittorferinnen*ihren Beitrag abgeschlossen haben: „Diese Briefe sollen uns heute als Mahnung dienen, damit wir jetzt und in der Zukunft eine Gesellschaft schaffen, die sich durch Toleranz und Mitgefühl auszeichnet.“

 

Satine Norkus, Leonie Staske, Philipp van Sprang, Svenja Kiefer,

Schülerinnen und Schuler des Hittorf-Gymnasiums Recklinghausen

 

Recklinghausen, den 18.1.1942

An das Finanzamt Recklinghausen

Betreff: Wohnungs-Angelegenheit

Der Brief von Polizeiinspektor an den Herrn Vorstand des Finanzamtes Recklinghausen vom 13.12.41

 

Haben in Erfahrung gebracht daß die Juden in nächster Zeit von hier weg kommen, und daß hierdurch Wohnungen frei werden.

Wir haben zur Zeit nur zwei Zimmer wohnen also sehr beengt, und außerdem sind unsere Gas- und Lichtleitung mit den anderen Hausbewohnern zusammen. Und das ist vom Gas

und Elektrizitätswerk nicht gestattet. Der Hauseigentümer lässt aber wegen der zwei Zimmer dann keine neue Leitung durch das ganze Haus legen und zudem will er die Zimmer für sich in Anspruch nehmen. Wir sind deshalb genötigt eine anderer Wohnung zu suchen.

Und deshalb wollten wir am Finanzamt anfragen, ob vielleicht für uns eine Wohnung zu beschaffen wäre. Falls es möglich wäre, würden wir um Zuteilung einer 3 Zimmer- Wohnung, am liebsten abgeschlossen, bitten.

Bewerber ist 25 Jahre Straßenbahnschaffner mit Frau und Kind.

Bitten nun nochmals uns in dieser Angelegenheit berücksichtigen zu wollen und bitten um weitere Nachricht.

Frau Sebastian Bruckmoser

Hier

Ernst vom Rath Str.55

 

Holocaust-Gedenktag: Über 200 Teilnehmer beim Symbolmarsch zur Synagoge (27.01.2023)

RE-Westviertel. Ein Solidaritätsgang am Holocaust-Gedenktag erzielt eine erstaunliche Resonanz: über 200 Personen ziehen über die Limperstraße zur Synagoge – viele mit Koffern.

Das Datum war nicht zufällig gewählt – und die Geste auch nicht. Und es passte, dass sich am Freitag (27.1.) gut 200 Menschen an der Christuskirche eingefunden hatten, um mit einem Koffermarsch zur Synagoge neben dem Polizeipräsidium sowohl Gedenken zu praktizieren als auch Solidarität zu demonstrieren. Solidarität mit jenen jüdischen Recklinghäusern, die am 27. Januar 1942 in vergleichbarer Zahl nach Riga deportiert wurden. Und die auf jenen Gang, der für fast alle der letzte war, lediglich einen Koffer mitführen durften.

Dass der 27. Januar drei Jahre später auch der Tag war, an dem sowjetische Truppen das Konzentrationslager in Auschwitz befreit haben, ist eine eigenwillige historische Fügung. Seit 1996 dient dieses Datum in Deutschland als „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“. Auch deshalb wurde der Marsch von Mitgliedern der jüdischen, christlichen und muslimischen Religionsgemeinschaften inszeniert.

Und die Resonanz gab den Veranstaltern recht: Es war keine Bedingung, mit Koffer zu erscheinen, doch viele ergriffen die Gelegenheit, auf diese ungewöhnliche Weise Herz und Flagge zu zeigen. So unter anderem auch drei Schüler der Martin-Luther-King-Gesamtschule aus Marl: Nicole Hunker, Secil Kasukcu und Phillip Dublinowski hatten Trolleys dabei, die sie am 20. März auch nicht nur symbolisch brauchen. Mit der Schule fahren sie dann nach Auschwitz, um vor Ort dem Schicksal von einer Million ermordeter Juden nachzuspüren.

Der Gang in Recklinghausen war für das 15- bis 16- jährige Trio gleichsam Vorbereitung wie Ehrensache, wie es unisono bekannte: „Das, was damals passiert ist, war extrem grausam und sehr traurig. Und deshalb ist es sehr wichtig, dass wir signalisieren, dass so etwas nie wieder passiert.“

In ganz ähnlicher Weise äußerten sich im Anschluss auch die Sprecher bei der Gedenkfeier in der Synagoge. Begrüßt wurden alle Teilnehmer von Dr. Mark Gutkin, dem Vorsitzenden der Jüdischen Kultusgemeinde. Anschließend präsentierte Bürgermeister Christoph Tesche unter anderem ein bemerkenswertes Zitat von Armin Laschet, der noch als NRW-Ministerpräsident angesichts von zunehmendem Antisemitismus erklärt hatte, „dass die Mitbürger jüdischen Glaubens noch nicht auf gepackten Koffern säßen, aber diese bereits vom Dachboden geholt haben“.

Auch Saskia Karpenstein (evangelische Superintendentin), Karl-Hermann Kemper (katholischer Kreisdechant) und Erdinc Ergün (muslimischer Hodscha von der Gemeinde an der Dortmunder Straße) sowie eine Gruppe von Hittorf-Schülern fanden angemessene Worte. Beschlossen wurde die Feier, die von Chorgesang und Musik begleitet wurde, von Vorbeter Isaac Tourgman, der alle Anwesenden „Hevenu shalom alechem“ (Wir wollen Frieden für alle) singen ließ. Es könnte so einfach sein.

Quelle: Wiethaup (Recklinghäuser Zeitung), Fotos: Libkin

Ein freudiger Besuch zum Jahresbeginn

Die Kinderfreizeit der Jüdischen Kultusgemeinde Kreis Recklinghausen besichtigte gleich zu Beginn des neuen Jahres eines der schönsten Rathäuser Nordrhein-Westfalens. Dort wurden die Kinder von Christoph Tesche, dem Bürgermeister der Stadt Recklinghausen, persönlich begrüßt. Er postete ein Foto und den folgenden Text auf seiner Facebook-Seite:

Eine Ferienfreizeit für Kinder „ATID“ im Alter von acht bis 13 Jahren bietet die Jüdische Kultusgemeinde an. Dabei geht es auch darum, dass der Nachwuchs, der zu großen Teilen aus der Ukraine stammt und in der Regel seit rund einem halben Jahr in Recklinghausen ist, unsere noch kennenlernt. Auf dem Programm stand auch eine Führung durch das schönste Rathaus von NRW. Gerne habe ich die Kinder und ihre Betreuerinnen in meinem Büro empfangen und ein wenig über meinen Arbeitsalltag berichtet. Ich bedanke mich ganz herzlich für den Besuch.

Jüdischen Kultusgemeinde

Kreis Recklinghausen

Quelle: Facebook von Christoph Tesche – https://bit.ly/3CI1NmK

Koffermarsch

Gegen Antisemitismus und Extremismus

Der 27. Januar gilt als internationaler Holocaust-Gedenktag. Es ist jener Tag, an welchem das von den Nazis errichtete Konzentra-tionslager Auschwitz von sowjetischen Truppen befreit wurde.

UN-Generalsekretär Kofi Annan nannte dieses Datum „eine wichtige Mahnung an die univer-selle Lektion des Holocaust – ein solcher Horror darf nie wieder zugelassen werden. Es obliegt uns als Nachfolgegene-ration die Erinnerung wie eine Fackel wachzuhalten und unser eigenes Leben in ihrem Licht zu führen.“

„Die Erinnerung ist das einzige Mittel, welches die Menschen dazu bringt, über ihre Zukunft nach-zudenken“. Ich weiß nicht mehr, wo ich das gelesen habe und ich weiß auch nicht, welcher Autor diese Worte niedergeschrieben hat. Es war aber genau dieser Satz, der mir in den Sinn kam, als ich, wie viele andere, am 26. Januar dieses Jahres an dem Gedenk-marsch teilnahm. Der internationale Holocaust-Gedenktag hat für die Einwohner unserer Stadt und für die Mitglieder der jüdischen Gemeinde eine besondere Bedeutung. Just an diesem Tag im Jahre 1942 wurden 250 Juden in das Rigaer Ghetto deportiert. Nur 16 von ihnen über-lebten. Bereits zum zweiten Mal wird dieser Marsch auf Initiative von Vertretern der evangelischen und katholischen Konfessionen in der Stadt organisiert. In diesem Jahr wurde dieser Streifzug auf Anregung des dortigen Bürgermeisters Christoph Tesche in einem erweiterten Format durchgeführt. Neben Superintendentin Saskia Karpenstein und Propst Karl Kemper, nahm auch Herr Erginç Ergün stellvertretend für die muslimische

Glaubensgemeinschaft an der Veranstaltung teil. Auf den Stufen des Rathauses stehend erklärte Bürgermeister Tesche, dass der Marsch dazu diene, das Gedenken an die Opfer zu bewahren und das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte, noch einmal in Erinnerung zu rufen. Er zeigte sich auch besorgt über die aktuellen Geschehnisse im Land und zitierte Armin Laschet, der noch im Jahr 2018 sagte: „Die Juden haben die Koffer noch nicht gepackt, aber sie haben sie schon mal vom Dachboden geholt.“

Etwa 600 Menschen versammelten sich auf dem Platz vor dem Rathaus, um „Nein“ zu Antisemitismus und Extremismus zu sagen. Menschen trugen Koffer und präsentierten Schilder mit der Aufschrift „We remember“ und zogen schließlich durch die Straßen der Innenstadt hin zur Synagoge. Dort im Gebetssaal, wo die Namen von zweihundertfünfzig seinerzeit deportierten Gemeindemitgliedern auf den Säulen eingraviert wurden, fand ein gemeinsames interreligiöses Gebet statt.

Vor dem Gebet richtete der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde, Herr Mark Gutkin, ein Wort an die Zuhörer. Er dankte den Vertretern der christlichen Kirchen für die Initiative, die Aktion „We remember“ in einem solchen Format durchführen zu können und verband damit die Hoffnung, dass diese Veranstaltung ein weiterer wichtiger Schritt bei der Entwicklung des historischen Gedenkens sein wird – für Vergangenheitsbewältigung und für die Zukunft gleichermaßen. Angeregt wurde auch, einen Gedenkkomplex „Memory Station“ als Erinnerung an die Deportation jüdischer Mitbürger im Bereich des ehemaligen Konzentrationslagers aufzustellen. Dazu Gutkin: „Wir hoffen, dass dieses Projekt so bald wie möglich verwirklicht wird. Zumal all diese Aktivitäten gerade jetzt, in einer schwierigen Zeit für die jüdische Gemeinschaft, sehr wichtig sind.“ Gleichzeitig zitierte er Innenministerin Nancy Faeser mit folgenden Worten: „Seit Gründung der Bundesrepublik stand das jüdische

Leben in unserem Land keiner so großen Bedrohung gegenüber, wie jetzt.“ Alle in Deutschland lebenden jüdischen Menschen sind dementsprechend besorgt ob einer unheilvollen Zukunft. Etwas optimistischer klangen da schon die Worte von Kantor Isaac Tourgman, als er auf das vom Bürgermeister erwähnte Laschet-Zitat erwiderte: „Wir packen unsere Koffer noch nicht.“

Hoffen und glauben wir, dass es nicht erforderlich sein wird.

Denn, wie Igor Guberman es zutreffend ausdrückte:

Wo Lügen und Selbstlügen gelten –

Gedächtnis verlässt den Verstand,

Geschichte umkreist große Welten

Blut – Schlamm – und im Dunkeln verschwand.

Irina Barsukowa, Jüdische Gemeinde Kreis Recklinghausen

Foto: Ralf Wiethaup, Vadim Abonosimov

Antisemitismus-Beauftragter besucht Projekte im Wahlkreis von Frank Schwabe

Gegen Antisemitismus und Extremismus

Kantor Isaac Tourgman, Vera Klocke-Eickmann, Freundeskreis der Jüdischen Gemeinde, Jochen Welt, Vorsitzender des Freundeskreises der Jüdischen Gemeinde Kreis Recklinghausen, Dr. Felix Klein, Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus, Vorsitzender der Jüdische Kultusgemeinde Recklinghausen Dr. Mark Gutkin, Frank Schwabe, Beauftragter der Bundesregierung für Religions-und Weltanschauungsfreiheit.

Dr. Felix Klein, Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus, besuchte jetzt auf Einladung des heimischen Bundestagsabgeordneten Frank Schwabe (SPD) mehrere Orte in Recklinghausen und Waltrop.

Zunächst stand ein Besuch bei der Jüdischen Kultusgemeinde in Recklinghausen auf dem Programm. Dort trafen Schwabe und Klein den Vorsitzenden Dr. Mark Gutkin und Kantor Isaac Tourgman. Bei dem Austausch, an dem auch Jochen Welt und Vera Klocke-Eickmann für den Freundeskreis der Jüdischen Gemeinde teilnahmen, ging es um die Frage, wie insbesondere junge Menschen sensibilisiert werden können, um sich gegen Antisemitismus zu engagieren.

Frank Cerny, SPD Recklinghausen

Foto: Alexandr Libkin

«Am Nullpunkt» Präsentation und lebhafter Austausch

Putins Krieg gegen die Ukraine

Eugen Gorodetsky (von l.) und Natasha Vlaschenko (v. r.)

Am 25. Februar 2024 stellten Natasha Vlaschenko und Eugen Gorodetsky ihr Buch «Am Nullpunkt» in der Jüdischen Gemeinde Kreis Recklinghausen vor.

Diese Publikation ist ein belletristisches und journalistisches Werk – eine Mischung aus Prosa und Poesie, ein Gespräch in Briefen zwischen zwei Menschen während des Ukraine-Krieges. Zwei alte

Bekannte, die aktuell in verschiedenen Ländern leben, trafen sich in den ersten Tagen der großangelegten russischen Invasion in der Ukraine zufällig auf einer Internetplattform. Dort begann der Dialog. In siebzehn folgenden Briefen wurden wichtige Themen angesprochen: Zerstörung von Beziehungen während des Krieges, Ängste und Verzweiflung, Mitgefühl und Verrat, vermutlich unvermeidlich schwere Verluste sowie unsichere Zukunftsaussichten. Wie kann man es aushalten ohne sich selbst zu verlieren, ohne in eine Depression zu verfallen? Wie kann man das Selbstwertgefühl festigen und dabei noch andere unterstützen? Diese und weitere Fragen wurden von den Autoren und ihren Lesern lebhaft diskutiert. Es war eine besondere Begegnung und ein intensiver Gedankenaustausch, beides brauchen wir jetzt so dringend. Und: trotz der schwierigen Thematik fanden die Teilnehmer eine Kommunikationsebene mit einer unterhaltsamen, warmherzigen und durchaus freundlichen Gesprächsatmosphäre. Die Einnahmen dieses Abends wurden zugunsten zweier Projekte gespendet. Bedacht wurden: «Ungebrochen“ in Lviv und Klawdijewo-Bibliothek – eine Zweigstelle der öffentlichen Bibliothek Nemisheivska in der Siedlungsratsgemeinde Klawdijewo-Tarassowe, Bezirk Butscha, Gebiet Kiew.

Die Jüdische Gemeinde Kreis Recklinghausen bedankt sich bei der Zeitschrift Jüdisches Echo  estfalen für die werbende Unterstützung dieser Wohltätigkeitsveranstaltung mittels einer Bekanntmachung.

Irina Barsukowa, Jüdische Gemeinde Kreis Recklinghausen

Foto: Alexander Libkin

Den Opfern eine Stimme geben

Erinnerung lebendig gestalten, den Opfern eine Stimme geben, einander begegnen: Projektwoche am Gymnasium Petrinum anlässlich des Tages des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus und des Internationalen Tages des Gedenkens an die Opfer des Holocaust (27.01.2024). Teil 1

Mehr miteinander reden statt übereinander, einander bewusst begegnen, statt sich zu verschließen – diesen Impulsen gingen Schülergruppen verschiedener Projekte im Rahmen der Projekttage am Gymnasium Petrinum in Recklinghausen nach. Dazu waren sie unter anderem am Dienstag, 23. Januar, und am Mittwoch, 24. Januar 2024, zu Gast in der Synagoge der Jüdischen Kultusgemeinde am Polizeipräsidium.

Die Schülerinnen und Schüler wurden dort von Kantor Isaac Tourgmann herzlich begrüßt und bekamen lebendige Einblicke in das jüdische Leben. Sie lernten bestimmte Speisegesetze, besondere Feiertage und vor allem die Tora kennen. „Es geht in der  Synagoge nicht um Politik, wenn man sich hier trifft. Nein, es geht vielmehr darum, wie man friedlich miteinander lebt“, erläuterte Isaac Tourgmann den Fünft- bis Siebtklässlern, „und das ist doch etwas, was du und ich beide wollen: in Frieden zu leben.“
Andere schulische Projekte widmeten sich dem Gedenken an weitere Opfer des Nationalsozialismus, wie dem jüdischen Petriner Hugo Cohen (Abitur 1897), der sich laut §175 StGB durch seine Homosexualität strafbar gemacht habe, verfolgt und ermordet wurde. Zu seinem Schicksal und zu dem Homosexueller im Ruhrgebiet während der NS-Zeit referierten Dr. Frank Ahland und Manuel Izdepski in der Aula des Petrinum in einem öff entlichen Vortrag. Explizit stammte nämlich aus der Schülerschaft der  Wunsch, auch weitere Opfergruppen in den Blick zu nehmen und sich über die Forschungsarbeit auf diesem Gebiet zu informieren.
Gleichzeitig forcierten die Projekte für die Schülerinnen und Schüler aller Altersstufen einen vielfältigen Zugang zur Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus: In dem Projekt „Wo du gehst und stehst…“ entdeckten geraden die jüngsten Schülerinnen und Schüler die Menschen hinter den in Recklinghausen verlegten Stolpersteinen. Andere begaben sich auf die Spuren Anne Franks. Musikalisch thematisierte man „Lieder als Verführer“ und warf auch einen Blick auf die Musik der heutigen rechtsextremen  zene. Kunst und Literatur widmeten sich sogenannten „entarteten“ Werken und schufen eigene kleine Ausstellungen, welche die Abwertung durch die Nationalsozialisten nicht nur infrage, sondern in all ihrer verblendeten Ignoranz manifest bloßstellten. Philosophisch wurde der Würdebegriff als Schutzkonzept für alle Menschen betrachtet und nicht zuletzt ging es in einem Projekt um das Wesen einer Diktatur und den besonderen Wert des Rechtsstaates – gerade in der heutigen Zeit.
Eine der Projektgruppen befasste sich vertiefend mit den Schicksalen vier jüdischer Petriner: Günter Boldes (am Petrinum von April bis Dezember 1925), Oscar Cosmann und Jakob Faßbender (beide Abitur 1903) sowie Hans Aris (Abitur 1936). Zum Abschluss  er Projekttage wurden Gedenktafeln für diese ehemaligen Schüler enthüllt, die Opfer von Ausgrenzung, Verfolgung, erzwungener Flucht und Ermordung wurden. Künftig wird diese Erinnerungsstätte auf dem Schulgelände aus der Erprobungsstufe bemerkte: „Es war total gut, mal mit einer Person jüdischen Glaubens in Ruhe zu sprechen. Ich habe so viel Neues erfahren und habe neue Ideen für meine Präsentation bekommen.“ In Auseinandersetzung mit der Entrechtung, Verfolgung und gewalttätigen Verdrängung  der jüdischen Bevölkerung aus der Mitte der damaligen Gesellschaft waren für viele der jüngeren Schülerinnen und Schüler die Vorgänge der Ghettoisierung, durch welche die Nationalsozialisten in abgeriegelten Stadtvierteln bewusst die Verelendung der  üdischen Bevölkerung bis hin zum Tode unter qualvollen Bedingungen wie Hunger und Krankheiten forcierten, ungeheure Schilderungen. Weiterführend erkannten die Schülerinnen und Schüler, dass auch in ihrer Heimatstadt Recklinghausen, in direkter Nähe zu ihrer Schule, inmitten der Innenstadt, zwei der fünf sog. „Judenhäuser“ festgelegt und mehrere jüdische Familien auf engstem Raum dort eingesperrt wurden, ehe sie Ende 1942 in das KZ Riga deportiert und ermordet wurden.

Die Fortsetzung lesen Sie in der nächsten Ausgabe des J.E.W. Magazins.

Gesa Sebbel, Christopher Janus, Michael Rembiak, Schulgemeinschaft des Gymnasiums Petrinum
Foto: Archiv des Gymnasiums Petrinum

BFD-Seminar von der ZWST in der Jüdischen Gemeinde Recklinghausen

Vom 15. bis zum 18. April 2024 fanden in der Jüdischen Gemeinde Recklinghausen inspirierende und lehrreiche Seminare der ZWST e.V. für Bundesfreiwillige aus verschiedenen jüdischen Gemeinden in Nordrhein-Westfalen statt. Teilnehmer aus Essen, Köln, Dortmund, Bochum und natürlich Recklinghausen selbst versammelten sich, um nicht nur gemeinsam zu lernen, sondern auch neue Erfahrungen zu sammeln.

Eine besonders beeindruckende Erfahrung war der Einblick in die Arbeit der Polizei. Die Teilnehmer lernten nicht nur theoretisch, sondern besuchten auch das Polizeipräsidium Recklinghausen, wo sie aus erster Hand erlebten, wie die Polizeiarbeit funktioniert. Diese praktische Erfahrung erweiterte ihr Verständnis für die Rolle der Sicherheitskräfte in der Gesellschaft.

Rabbiner Michail Kogan aus Mönchengladbach bereicherte das Seminar mit seinem einzigartigen Vortrag über Pessach als einen Schlüssel zur jüdischen Identität. Dabei wurde deutlich, wie Tradition und Geschichte die Identität einer Gemeinschaft formen können. Psychologische Themen wie Migration, Verlust, Trauer und Trauma wurden ebenfalls behandelt. Vlad Zaslavskyi aus der Gemeinde Recklinghausen gab Einblicke in die psychologischen Dimensionen dieser Themen.

Ein weiterer Höhepunkt des Seminars war der Vortrag von Politologe Aleksander Friedmann aus Düsseldorf über das politische System in Deutschland sowie die aktuelle Situation in Israel und Europa. Diese Einblicke ermöglichten den Teilnehmern, politische Zusammenhänge besser zu verstehen und zu diskutieren.

Während eines Ausflugs mit Aleksandra Kireewa und Elvira Scherman durch die schönen Städte Recklinghausen und Herten hatten die Teilnehmer außerdem die Gelegenheit, das jüdische Erbe der Städte und deren Geschichte kennenzulernen.

Am letzten Tag sprach der Psychiater Aleksander Apel über das Thema Manipulation und wie man ihr widerstehen kann. Dieser Vortrag war nicht nur informativ, sondern auch praktisch relevant für die Teilnehmer, die sich bewusster über mögliche Manipulationsversuche wurden.

Abschließend wurden die Bundesfreiwilligen zu ihrer eigenen Tätigkeit befragt. Sie berichteten von ihren Erfahrungen und erklärten, wie sie sich durch das Seminar weiterentwickelt haben.

Wir möchten der Jüdischen Gemeinde Recklinghausen und ihrem Vorsitzenden Dr. Mark Gutkin herzlich dafür danken, dass sie uns die Möglichkeit gegeben haben, dieses Seminar in ihren Räumlichkeiten abzuhalten. Ihr herzlicher Empfang hat entscheidend zum Erfolg des Seminars beigetragen. Ebenso möchten wir uns bei der Sozialarbeiterin Jana Stachevski für ihre Unterstützung bei der Vorbereitung und Durchführung des Seminars bedanken.

Ilya Rivin, ZWST e.V.

Foto: Ilya Rivin