Koffermarsch
Gegen Antisemitismus und Extremismus
Der 27. Januar gilt als internationaler Holocaust-Gedenktag. Es ist jener Tag, an welchem das von den Nazis errichtete Konzentra-tionslager Auschwitz von sowjetischen Truppen befreit wurde.
UN-Generalsekretär Kofi Annan nannte dieses Datum „eine wichtige Mahnung an die univer-selle Lektion des Holocaust – ein solcher Horror darf nie wieder zugelassen werden. Es obliegt uns als Nachfolgegene-ration die Erinnerung wie eine Fackel wachzuhalten und unser eigenes Leben in ihrem Licht zu führen.“
„Die Erinnerung ist das einzige Mittel, welches die Menschen dazu bringt, über ihre Zukunft nach-zudenken“. Ich weiß nicht mehr, wo ich das gelesen habe und ich weiß auch nicht, welcher Autor diese Worte niedergeschrieben hat. Es war aber genau dieser Satz, der mir in den Sinn kam, als ich, wie viele andere, am 26. Januar dieses Jahres an dem Gedenk-marsch teilnahm. Der internationale Holocaust-Gedenktag hat für die Einwohner unserer Stadt und für die Mitglieder der jüdischen Gemeinde eine besondere Bedeutung. Just an diesem Tag im Jahre 1942 wurden 250 Juden in das Rigaer Ghetto deportiert. Nur 16 von ihnen über-lebten. Bereits zum zweiten Mal wird dieser Marsch auf Initiative von Vertretern der evangelischen und katholischen Konfessionen in der Stadt organisiert. In diesem Jahr wurde dieser Streifzug auf Anregung des dortigen Bürgermeisters Christoph Tesche in einem erweiterten Format durchgeführt. Neben Superintendentin Saskia Karpenstein und Propst Karl Kemper, nahm auch Herr Erginç Ergün stellvertretend für die muslimische
Glaubensgemeinschaft an der Veranstaltung teil. Auf den Stufen des Rathauses stehend erklärte Bürgermeister Tesche, dass der Marsch dazu diene, das Gedenken an die Opfer zu bewahren und das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte, noch einmal in Erinnerung zu rufen. Er zeigte sich auch besorgt über die aktuellen Geschehnisse im Land und zitierte Armin Laschet, der noch im Jahr 2018 sagte: „Die Juden haben die Koffer noch nicht gepackt, aber sie haben sie schon mal vom Dachboden geholt.“
Etwa 600 Menschen versammelten sich auf dem Platz vor dem Rathaus, um „Nein“ zu Antisemitismus und Extremismus zu sagen. Menschen trugen Koffer und präsentierten Schilder mit der Aufschrift „We remember“ und zogen schließlich durch die Straßen der Innenstadt hin zur Synagoge. Dort im Gebetssaal, wo die Namen von zweihundertfünfzig seinerzeit deportierten Gemeindemitgliedern auf den Säulen eingraviert wurden, fand ein gemeinsames interreligiöses Gebet statt.
Vor dem Gebet richtete der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde, Herr Mark Gutkin, ein Wort an die Zuhörer. Er dankte den Vertretern der christlichen Kirchen für die Initiative, die Aktion „We remember“ in einem solchen Format durchführen zu können und verband damit die Hoffnung, dass diese Veranstaltung ein weiterer wichtiger Schritt bei der Entwicklung des historischen Gedenkens sein wird – für Vergangenheitsbewältigung und für die Zukunft gleichermaßen. Angeregt wurde auch, einen Gedenkkomplex „Memory Station“ als Erinnerung an die Deportation jüdischer Mitbürger im Bereich des ehemaligen Konzentrationslagers aufzustellen. Dazu Gutkin: „Wir hoffen, dass dieses Projekt so bald wie möglich verwirklicht wird. Zumal all diese Aktivitäten gerade jetzt, in einer schwierigen Zeit für die jüdische Gemeinschaft, sehr wichtig sind.“ Gleichzeitig zitierte er Innenministerin Nancy Faeser mit folgenden Worten: „Seit Gründung der Bundesrepublik stand das jüdische
Leben in unserem Land keiner so großen Bedrohung gegenüber, wie jetzt.“ Alle in Deutschland lebenden jüdischen Menschen sind dementsprechend besorgt ob einer unheilvollen Zukunft. Etwas optimistischer klangen da schon die Worte von Kantor Isaac Tourgman, als er auf das vom Bürgermeister erwähnte Laschet-Zitat erwiderte: „Wir packen unsere Koffer noch nicht.“
Hoffen und glauben wir, dass es nicht erforderlich sein wird.
Denn, wie Igor Guberman es zutreffend ausdrückte:
Wo Lügen und Selbstlügen gelten –
Gedächtnis verlässt den Verstand,
Geschichte umkreist große Welten
Blut – Schlamm – und im Dunkeln verschwand.
Irina Barsukowa, Jüdische Gemeinde Kreis Recklinghausen
Foto: Ralf Wiethaup, Vadim Abonosimov