1869

1869 – Die Juden auf dem Weg zur vollen rechtlichen Gleichstellung im Königreich Preußen 

Preußisches „Gesetz betreffend die Eide der Juden“ vom 15. März 1869  

Quelle: Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten 1869, No. 25, S. 484-486. (Abb. aus dem Exemplar des Stadt- und Vestischen Archivs Recklinghausen, Signatur: J 90 (St.A.)), Verfasser: Dr. Matthias Kordes, Leiter des Stadt- und Vestischen Archivs Recklinghausen.

Mit dem Gesetz vom 15. März 1869 löste sich auch das Königreich Preußen endgültig von einer jahrhundertealten antijüdischen Tradition, nach welcher Juden, die sich in einem Rechtsstreit mit einem Christen befanden, vor Gericht besondere, zumal diskriminierende Eidesformeln aufgezwungen wurden. Diese beinhalteten komplizierte, mit ausladenden Selbstverfluchungssätzen ausgestattete Texte, die dazu dienten, Juden als eingeschränkt eidfähige, rechtlich minderbemittelte und mit wenig Ehre und Glaubwürdigkeit versehene Religionsgemeinschaft darzustellen, deren Eidesleitung man unterstellte, vor Gott und Gericht nur schwache Beweiskraft entwickeln zu können.

Da in der älteren europäischen Rechtskultur Eide und Eidesformeln eine besondere symbolisch-rituelle Bedeutung besaßen – sie waren ja eine formalisierte Wahrheitsversicherung unter Anrufung Gottes als Rächer des Eidbruchs und der Unwahrheit – missbrauchte man bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts den Judeneid (das sog. Iuramentum Iudaeorum / „Eid more judaico“, dieses ist nicht zu verwechseln mit dem zeremoniellen Eid, den Juden nach eigenem Recht innerhalb ihrer Gemeinde in der Synagoge leisten konnten) für demütigende Zeremonien vor Gericht. Auf dieser Grundlage wurden die Juden im Mittelalter an einigen Orten beispielsweise gezwungen, mit einer Dornenkrone bzw. einem spitzen „Judenhut“ auf dem Kopf oder sogar auf einer Schweinshaut stehend ihren Eid zu leisten.

Seit Mitte des 16. Jahrhunderts gab es zwischen den Rechtsordnungen protestantischer und katholischer Territorien des Reiches ohnehin konfessionelle Unterschiede in den Eidesformeln. Daraus entwickelten bürgerliche und liberale Kräfte im 19. Jahrhundert den Reformgedanken, die verschiedenen gerichtlichen Eidesformeln zu vereinheitlichen und der genuin religiösen Sphäre zumindest teilweise zu entziehen; einschlägige Petitionen der Synagogengemeinden in Berlin und Magdeburg aus den 1850er-Jahren unterstützten diesen Prozess, indem sie auch für die Juden eine vereinfachte und modernisierte Eidesformel forderten.

Die besonders demütigenden Aspekte des alten Judeneides waren nach 1800 schon verschwunden. Das preußische Gesetz vom 15. März 1869, mitunterzeichnet vom amtierenden Ministerpräsidenten Otto von Bismarck, trägt diesen Neuerungen in großem Umfang Rechnung. Die moderne, bewusst allgemein gehaltene Formel zu Beginn: „Ich schwöre bei Gott dem Allmächtigen und Allwissenden“ bzw. am Ende: „So wahr mir Gott helfe“ zeigte sich nun frei von diskriminierenden Elementen. Vorbild dafür war übrigens die ‚neutralisierte‘ Eidesformel, die schon ab 1831 in der preußische Armee Geltung hatte. Zusammengenommen wurden diese Formulierungen bald zu Schrittmachern einer Rechtsvereinheitlichung in ganz Deutschland. Nur noch im Detail gab es für einige Jahre Unterschiede: Das Zeigen der drei Finger des Schwörenden, die bei Christen ja die Anrufung der Dreifaltigkeit Gottes in Szene setzten soll, wurde bei Juden durch das Heben der rechten Hand (bzw. das Auflegen der rechten Hand auf die Brust ersetzt), dieser Gebrauch wurde ab 1877 in das Prozessrecht des Kaiserreiches übernommen.

Am Recklinghäuser Marktplatz gab es von 1815 bis 1877 ein Stadt- und Landgericht (ab 1877: Königliches Amtsgericht Recklinghausen), genauer gesagt eine zweistufige Gerichtsbarkeit, vor dem hauptsächlich Zivilprozesse ausgetragen, Nachlass- und Erbangelegenheiten geregelt, Testamente hinterlegt und Grundstückssachen verhandelt wurden. Auch Geburten, Heiraten und Sterbefälle von Juden wurden bis zur Einführung der Standesämter 1874 dort amtlich registriert. Als Rechtsgrundlagen dienten am Ende der 1860er-Jahre das sog. Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794, das 1815/16 auch in der Provinz Westfalen eingeführt wurde, sowie das Allgemeine Deutsche Handelsgesetzbuch (ADHGB) von 1861. Beide großen Kodifikationen galten natürlich ausnahmslos für Christen und Juden; das preußische Gesetz von 1869 bescherte den Juden eine lange angestrebte Rechtsangleichung.

 

Weiterführende Links:

1869, 3. Juli: Bundesgesetz über die rechtliche Gleichstellung der Juden in den Staaten des Norddeutschen Bundes

Quelle: Bundesgesetzblatt 1869, Nr. 28, S. 292., Verfasser: Dr. Matthias Kordes, Leiter des Stadt- und Vestischen Archivs Recklinghausen.

„Wir, Wilhelm, von Gottes Gnaden König von Preußen, verordnen hiermit im Namen des Norddeutschen Bundes, nach erfolgter Zustimmung des Bundesrathes und des Reichstages, was folgt:

Einziger Artikel.

Alle noch bestehenden, aus der Verschiedenheit des religiösen Bekenntnisses hergeleiteten Beschränkungen der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte werden hierdurch aufgehoben. Insbesondere soll die Befähigung zur Theilnahme an der Gemeinde- und Landesvertretung und zur Bekleidung öffentlicher Ämter vom religiösen Bekenntniß unabhängig sein.“

Hintergrund: Der im April 1867 unter politischer und militärischer Führung des Königreiches Preußen gegründete Norddeutsche Bund war ein Bundesstaat, der die deutschen Staaten, Fürstentümer, freien Hansestädte und Territorien nördlich des Mains unter einem föderalen Dach vereinigte. Der Präsident des Bundes war der König von Preußen, der amtierende Bundeskanzler hieß Otto von Bismarck, der zugleich auch preußischer Ministerpräsident war. Der Norddeutsche Bund hatte ein eigenes Parlament, das sich Reichstag nannte und knapp 300 Abgeordnete hatte. Dieses Parlament, das bundesweite Gesetzgebungskompetenz hatte, tagte in Berlin im sog. Herrenhaus des Preußischen Landtages.

In seiner nur knapp vier Jahre währenden Existenz, die etwa einer Legislaturperiode entsprach, verabschiedete der Reichstag über 80 Einzelgesetze, die mit liberalen Stimmenmehrheiten auf vielfache Weise reformerische Ziele verfolgten. Einen Katalog von Menschen- und Bürgerrechten gab es in der Verfassung des Norddeutschen Bundes vom Juni 1867 zwar nicht, besonders bekannt wurde indes das vom liberalen Rostocker Juristen Dr. Moritz Wiggers konzipierte Bundesgesetz vom 3. Juli 1869, das in allen Gliedstaaten des Norddeutschen Bundes die bürgerlichen Rechte für „vom religiösen Bekenntnis“ unabhängig erklärte. Wenige Jahre zuvor gab es ähnliche Regelungen über die Rechtsstellung der Juden bereits im Großherzogtum Baden (1862), in Frankfurt am Main (1864) und in Österreich-Ungarn (1867).

Damit fielen – jedenfalls formal – letzte rechtliche Schranken, die das Leben der Juden in den Staaten des Norddeutschen Bundes noch bestimmten. Der im 18. Jahrhundert einsetzende Prozess der Gleichstellung und Emanzipation der deutschen Juden hatte damit weitestgehend seine Ziele erreicht; ihre volle Teilhabe am wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, politischen, staatlichen und kulturellen Leben in den größten Teilen Deutschlands schien damit möglich.

Der Norddeutsche Bund hatte keine Verwaltungsexekutive, d.h. keine übergreifend tätigen Bundesbehörden oder -ämter; die Ausführung und Befolgung der Bundesgesetze von 1867 bis Anfang 1871 oblag daher den einzelnen Gliedstaaten, in denen die in Berlin verabschiedeten Bundesgesetze unmittelbare Gesetzeskraft erlangen sollten. Der Text des Gesetzes vom 3. Juli 1869, mit dem die Emanzipationsgesetzgebung in Deutschland im Wesentlichen zum Abschluss kam, taucht daher in der Preußischen Gesetz-Sammlung von 1869 (oder später) nicht auf, auch in den zeitgenössischen Archivakten der Stadt Recklinghausen finden sich keine Spuren dieses wichtigen Gesetzes.

Nichtsdestoweniger kamen auf diese Weise die Juden in Preußen, in der Preußischen Provinz Westfalen und damit auch im Kreis Recklinghausen ohne Verzögerung, soll heißen: ohne nachgelagertes preußisches Landesgesetzgebungsverfahren in den Genuss des Gleichstellungsgesetzes von 1869. Seinem Inhalt nach wurde es unverändert in die Rechtsordnung des Deutschen Reiches von 1871 übernommen. Und verbunden mit der Industrialisierung, der Urbanisierung und dem Aufschwung des Bergbaus in der Emscher-Lippe-Region ab 1870 konnte auch die ungehinderte Entwicklung der Juden in Stadt und Kreis Recklinghausen weiter Fahrt aufnehmen.

 

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