1913

1913, 6. April: Schreiben des Hermann von Chappuis, Unterstaatssekretär im Preußischen „Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten“, an das Königliche Provinzialschulkollegium in Münster betreffend die Befreiung jüdischer Schüler von Prüfungen, die auf einem Samstag/Sabbat liegen nebst Berücksichtigung der Sabbatruhe bei der Terminierung von Prüfungen. Maschinenschriftliche Abschrift, gerichtet an die Städtischen Oberrealschule Recklinghausen (später: Hittorf-Gymnasium, mit Eingangsstempel).

Quelle: Archiv des Hittorf-Gymnasiums, ohne Signatur, Verfasser: Dr. Matthias Kordes, Leiter des Stadt- und Vestischen Archivs Recklinghausen.

Hintergrund: Bereits 1859 beginnt bei der preußischen Schulverwaltung eine Entwicklung, die eine weitestgehende Berücksichtigung jüdische Feiertage im regulären Unterrichtsbetrieb von Volksschulen und höheren Schulen anstrebt und eine entsprechende Unterrichtsbefreiung für jüdische Schüler vorsieht, die christlichen Schulen besuchen. Im Einzelnen wurde in diversen Erlassen und Entscheiden von 1859, 1868, 1884,1894 und 1902 geregelt, das mittels Genehmigung der Schulaufsichtsbehörden jüdische Kinder auf Antrag ihrer Eltern am Sabbat und an Feiertagen vom Schulbesuch zu beurlauben sind, dass aber eine solche Beurlaubung auf den Samstag zu beschränken sind und nicht schon Freitagnachmittag beginnen soll. Ebenso wurde verfügt, dass die Teilnahme am Gottesdienst nicht als Vorbedingung für eine solche Beurlaubung anzusehen sei. Hingewiesen wird mehrmals auch darauf, dass die jeweilige Schule keine Verantwortung für entstehende Lern- und Unterrichtsversäumnisse übernimmt.

Am 6. Mai 1859 hieß es erstmals von Seiten des Preußischen Ministeriums für Unterrichtsangelegenheiten: „Die Annahme, daß es für jüdische Eltern, die ihre Söhne in christliche Schulen schicken, zu den bürgerlichen Pflichten gehöre, dieselben auch sonnabends am Unterrichte teilnehmen zu lassen, und daß deshalb eine Dispensation der Juden für diesen Tag nicht zu gestatten sei, kann als zutreffend nicht angesehen werden. Die Schulverwaltung kann den Ansprüchen solcher Eltern, welche aus religiösen Motiven ihre Söhne am Sonnabend ganz oder für die Stunden des Gottesdienstes vom Schulbesuch entbunden zu sehen wünschen, die gebührende Berücksichtigung nicht versagen.

Demgemäß bestimme ich, daß in den Fällen, wo die Eltern selbst darum nachsuchen, jüdischen Schülern die gedachte Dispensation erteilt werde, wobei erstere darauf hinzuweisen sind, daß die Schule keinerlei Verantwortung für die aus derartigen Schulversäumnissen bei den betreffenden Schülern entstehenden Folgen übernimmt“. (Quelle: Schulverordnungen für den Regierungsbezirk Münster enthaltend Gesetze, gerichtliche Entscheidungen, Erlasse und Verfügungen, bearb. von Dr. Franz Körnig, Arnsberg 1913, S. 974).

Die preußische Schulverwaltung nähert sich dabei einer umfänglichen staatlichen Anerkennung des jüdischen Religionsgesetzes, nach welchen es auch bezüglich des pflichtgemäßen Schulbesuches keine Ausnahmen („Dispensationen“) vom Schreibverbot am Sabbat und von der allgemeinen Sabbatruhe geben kann.

Das Schreiben des Unterstaatssekretärs Hermann von Chappuis vom 6. April 1913 erweitert auf Betreiben des Vorstandes des Allgemeinen Rabbiner-Verbandes in Deutschland die Regularien dahingehend, dass nach Möglichkeit Termine für Prüfungen generell nicht auf einen Samstag bzw. einen Jüdischen Feiertag zu legen oder aber Nachholtermine anzuberaumen sind, zu denen speziell jüdische Schüler – ohne Nachteile befürchten zu müssen und ohne in Widerspruch zu religiösen Vorschriften zu geraten – entsprechende Prüfungen ablegen können.

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