1991 – 1997

Zuwanderung als Chance

Neue Mitglieder sichern die Zukunft der Gemeinde

Der Fall des „Eisernen Vorhangs“ und die politische Neuordnung Europas Ende der 1980er Jahre
ermöglichte jüdischen Familien und Einzelpersonen die Ausreise aus der ehemaligen Sowjetunion.
Diese Zuwanderung brachte auch der Recklinghäuser Gemeinde viele neue Mitglieder und damit
auch viele Herausforderungen. Die Mitgliederzahl wuchs von 75 (1991) auf 900 (1995) und bis auf
1250 (1997) an.
Die Mehrheit der neuen Mitglieder kam aus der früheren Sowjetunion. Die „alten“ Gemeindemitglieder
waren auf das Äußerste gefordert, um den Neuankommenden bei der Integration in die Gesellschaft
und in das Gemeindeleben zu helfen. Obwohl die Sowjetunion die Religionsausübung verboten
hatte und es keinen Religionsunterricht in den Schulen gab, konnten die meisten Einwanderer ihrem
Glauben und den jüdischen Traditionen treu bleiben. Die Zuwanderung führte zu einer Belebung des
Gemeindelebens und zur Sicherung der Zukunft.
Die Gemeinde blieb von antisemitischen Angriffen nicht verschont. In der Nacht vom 14. auf den
15. November 1992, dem Volkstrauertag, wurde der Friedhof am Nordcharweg durch Hakenkreuze
und Schmierereien auf vielen Grabsteinen geschändet. Bei allem Entsetzen konnte die Kultusgemeinde
eine Welle der Solidarität in der Stadt und im Umland registrieren. Politiker, Kirchengemeinden
und Parteien zeigten sich solidarisch und veranstalteten Gedenk- und Mahnveranstaltungen.
Die Reaktionen zeigten, dass die jüdische Gemeinschaft akzeptierter Teil der städtischen Gesellschaft
war und ist.
Das Wachstum führte schon bald zu Überlegungen, eine neue Synagoge zu errichten. Nach einer
längeren Planungsphase konnte schließlich in einem Festgottesdienst mit Landesrabbiner Dr. Henry
Brandt am 26. Januar 1997 die neue Synagoge unter großer Anteilnahme der Bevölkerung und der
Prominenz eingeweiht werden. Zusammen mit der im Juni 1997 der Gemeinde übergebenen alten
Schule und der Mikwe verfügt die Gemeinde über ein großzügiges Gemeindezentrum.

Foto: epd-bild / Fernkorn

Am 26. Januar 1997 konnte die neue Synagoge eingeweiht werden. In einer feierlichen Prozession wurden die Torarollen in die Synagoge getragen. Der damalige Landesrabbiner Henry G. Brandt leitete den Festakt, an dem zahlreiche Gäste teilnahmen, unter anderem der Ministerpräsident Johannes Rau und Paul Spiegel als Vorsit-zender des Zentralrats der Juden in Deutschland.

 

 

 

 

 

 

Recklinghäuser Zeitung vom17.11.1992 / Medienhaus Bauer

 

Die Schändung des Friedhofs in der Nacht zum Volkstrauertag 1993 führte in Recklinghausen zu einer breiten Welle der Solidarität mit der jüdischen Kultusgemeinde.

Die Recklinghäuser Zeitung berichte mehrmals über die Tat und die Solidaritätsveranstaltungen.

 

 

 

 

 

 

 

Die neue Synagoge 1997

Schon vor dem Zuzug der neuen Mitglieder aus den GUS-Staaten war es nicht für alle Menschen leicht, die kleine Synagoge im zweiten Stock des Gemeindehauses Am Polizeipräsidium 3, in Recklinghausen zu erreichen.

Das ehemalige Jugendheim der Gemeinde wurde in der Nazizeit nicht zerstört und nach der Shoa wurde hier der neue Betsaal eingerichtet.

Für ältere Leute bedeuteten die Treppen oft ein unüberwindbares Hindernis, um am Gottesdienst teilzunehmen, sie warteten dann in dem Festsaal im Erdgeschoss.

Schon seit 1988 machte man sich Gedanken, wie man den Zustand ändern könnte. Eine der angestrebten Möglichkeit war der Einbau eines Aufzuges. Pf. Sonnemann, damals Superintendent und Dechant Pf. Hüntering, beide leider schon verstorben, stellten für die christl. Kirchen eine größere Summe Geldes zur Verfügung, um die Gemeinde in ihren Umbauvorhaben zu unter-stützen.

Dieses Vorhaben zog sich dann über Jahre ohne konkretes Ergebnis, bis die Mitgliederzahl enorm angestiegen war und der Neubau in Angriff genommen wurde. Der Synagogenbau kostete ca. 3 Millionen Mark damals, Von den Kosten trug das Land NRW 1 Million. Der Fehlbetrag floss aus dem Konto „Synagogenbau Nordwestdeutschland“. Die Gelder der beiden Kirchen, die für den Umbau gedacht waren, flossen ein, Spenden der Gesellschaft für christl.-jüd. Zusammenarbeit und private Spenden. Ein gutes Zusammenwirken von allen.

Die Synagoge in Recklinghausen war die dritte Synagoge in Deutschland, die nach der Shoa gebaut wurde.

Der Plan für die Synagoge stammt von der Architekten-Gemeinschaft Hans Stumpfl aus Dorsten, Diplom-Ingenieur, und Nathan Schächter aus Münster. Nachdem der Robau nahezu fertig war, musste Hans Stumpfl leider krankheitsbedingt ausscheiden und Nathan Schächter führte den Bau samt Innenausstattung zu Ende.

Mit dem Neubau der Synagoge änderte sich auch das äußere Bild des Grundstücks: der größte Teil der ehemaligen Grünfläche, als Garten genutzt, war bebaut. So musste der Zugang zu Synagoge neu gestaltet, neue Parkplätze mussten angelegt werden. Heute fügt sich auch der Vorplatz zu einem harmonischen Ganzen zusammen. Am 27. Januar 1997 war es dann soweit. Landesrabbiner Dr. Henry Brandt weihte die Synagoge ein. Die Thorarollen wurden im feierlichen Umzug in die Synagoge gebracht und in den Aron HaKodesch, den Thoraschrank, der immer gegen Jerusalem ausgerichtet ist, gestellt. Johannes Rau, damals Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen, sagte unter anderem in seiner Festrede: „Wer ein Haus baut, der will bleiben.“

Rabbiner Brandt erinnerte daran, dass die Einweihung der Synagoge nicht nur ein Freudentag ist; „das Gedenken der Opfer der Shoa in der Nazizeit dürfe nie aufhören.“ Aber er sagte auch, dass es keine Abschottung der Gemeinde nach außen geben dürfe. „Das Haus steht allen offen und lädt zur Besinnung und Erinnerung ein.“

Weihbischof Voß aus Münster überbrachte die Grüße der Kirchen und der Gesellschaft für christl.-jüd. Zusammenarbeit und hoffte auf ein neues, tieferes Miteinander von Juden und Christen. Nathan Schächter, als Architekt, übergab symbolisch den Schlüssel des Hauses an Hanna Sperling, der Vorsitzenden des Landesverbandes.

Über 400 Personen, Gäste und Mitglieder der Gemeinde, nahmen an der Feier teil. Unter den geladenen Gästen war Paul Spiegel, der Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland, Kurt Neuwald s.A. Ehrenvorsitzender des Landesverbandes, natürlich Elio di Castro, Bürgermeister der Patenstadt Recklinghausen, Akko. Jochen Welt und Peter Borggraefe, die Reckling-häuser Stadtspitze, viele Bürgermeister des Kreises und aus anderen Städten. Es war eine bewegende, feierliche Stunde, die sehr wohl die Betroffenheit und Trauer bei den Gemeinde-mitgliedern spüren ließ, die oft ihre gesamte Familie in der Shoa verloren hatten. Und doch ist die Synagoge ein Zeichen des „Wieder“-Vertrauens. Nicht zum ersten Mal in der jüdischen Geschichte!

So steht nun der helle, freundliche Bau der Gemeinde zur Verfügung. Die Holzdecke als Baldachin konzipiert, der den Schutz des Allmächtigen symbolisiert, unter dem alle Menschen stehen. Ein Glasdach, das das Licht des Tagesablaufes einfallen lässt.

Über dem Thoraschrein die Worte in hebräisch: Aus Zion kommt die Lehre, aus Jerusalem das Wort. Darüber der Dekalog, die zehn Gebote, in zwei Tafeln, in Goldbuchstaben. Und über beiden brennt das „ewige Licht“. Vor dem Thoraschrein ein blauer Samtvorhang. Das Mittelstück stammt aus der kleinen Synagoge. Man hat durch die Übernahme verschiedener Teile aus der alten Synagoge, die sich ja im gleichen Gebäudekomplex befindet, die Verbindung zwischen alt und neu betont. Vor dem Podium des Aronschreines ist das schmiedeeiserne Gitter des alten Betsaales verwendet worden. An der rechten Seite sind die Glasfenster, bemalt und in Blei gefasst, wieder angebracht worden. Jetzt von rückwärts beleuchtet, bilden sie einen wunderbaren Kontrast zu der sonst weißen Wand.

Auch das Blau der Sesselbezüge ist der Farbton, den die eingesessenen Mitglieder aus der alten Synagoge kennen und der mit dem hellen Holz der Raumausstattung gut harmoniert.

Männer und Frauen begegnen sich beim Gottesdienst auf einer Ebene. Zwar sind sie getrennt, aber nehmen gemeinsam an der Liturgie teil.

In der Mitte der Synagoge steht die Bimah, ein größeres Podium, mit einem großen Tisch, auf dem die Thora zum Gottesdienst ausgerollt und gelesen wird.

Zur neuen Synagoge gehört der Festsaal; bei Bedarf können die Trennwände zwischen Synagoge und Festsaal geöffnet werden und es entsteht ein Raum, der ca. 400 Personen Platz bietet.

Über dem Saal befinden sich Büroräume, im Erdgeschoss liegt das Sozialbüro, zwei Küchen, Wirtschaftsräume und Sanitäranlagen. Durch den Neubau, der an das alte Gemeindegebäude angefügt ist, besteht die Möglichkeit, alle Flächen zu nutzen und es erscheint alles als ein einheitliches Gebäude. Auch die alte Synagoge, heute als Unterrichtsraum und Bücherei genutzt, ist wieder über die „Turmtreppe“ wie früher zu erreichen.

Diese Turmtreppe war es, die den Anstoß gab, zu überlegen, wie man besser zum Beten kommen könnte! Die Treppe und der Zuzug von vielen Menschen, Juden, die einen würdigen Raum zum Gebet wollten. Sie haben es gewagt, mit Hilfe von Vielen, in Recklinghausen eine nicht nur vorübergehende Heimat zu wählen.

Georg Möllers, dem die Aufarbeitung der jüdisch-deutschen Geschichte am Herzen liegt, schreibt: „Die Geschichte der vier Synagogen und ihrer Gemeinden war immer auch Gradmesser für das Miteinander verschiedener Religionen und Herkunftsländer. So kann der Neubau auch als ein Signal für das Vertrauen der jüdischen Gemeinde in Toleranz und Demokratie dieser Gesellschaft angesehen werden.“

Quellennachweis:Eigenes Archiv

Archiv der Gesellschaft für christl.-jüd. Zusammenarbeit

Kirche und Leben, Ausg. 02. Februar 1997

Kreisdekanat Recklinghausen

Möllers: Geschichte der Synagogen in Recklinghausen, Auszug

 

Jüdische Schule am Steintor 5

Quelle: Foto aus www.recklinghausen.de

Die heutige Anschrift „Am Steintor“ entspricht nicht den historischen Tatsachen, denn ursprünglich verlief da der Westerholter Weg.

Die jüd. Gemeinde der Jahrhundertwende war so gewachsen, dass man sich zu einem eigenen Schulbau entschloss. 1907 war es dann soweit. Rabbiner zu dieser Zeit war Dr. Moses Marx, der auch dafür sorgte, dass in dem Neubau eine Mikwe, ein rituelles Bad, eingerichtet wurde.

Mit der preußischen Schulreform 1908 wurde das Gebäude in die Obhut der Stadt übergeben, mit der Auflage, für den Unterhalt des Gebäudes zu sorgen, solange jüd. Kinder in Recklinghausen beheimatet sind.

Mit dem Beginn der Nazizeit war auch die Schule als jüd. Einrichtung ein Anstoß, den man auszurotten hatte.

Schon vor der Progromnacht des 09.11.1938 finden sich Beschwerden am 10.10.1938 von den Nachbarn des Grundstückes, die darüber klagen, dass das Grundstück verwildert, Gefahr des Abrutschens des Terrains besteht (wenige Zentimeter höher als die Straße!), kurz, es musste ein Grund ge-funden werden, den Juden die Nutzung der Schule zu verbieten, sie wurde endgültig enteignet. Die Nazis errichteten fortan ein Kinderheim.

Nach dem Holocaust war die Gemeinde zu klein, um sich um eine Schule zu kümmern. Inzwischen hatte die Stadt 1988 das Gebäude der Wohnungsbaugesellschaft verkauft.

Für Harold Lewin war es immer sicher, dass die „alte Schule“, wie sie genannt wird, wieder in den Besitz oder zur Nutzung der jüd. Gemeinde dienen sollte. Er setzte sich für Nachforschungen ein, unterstützt von Georg Möllers, engagiert seit Jahren in der Aufarbeitung der jüd. Geschichte in der Nazizeit in Recklinghausen und Rechtsanwälten. In zahllosen Verhandlungen wurde gerungen, eine Einigung zu erzielen. Als es aussichtslos erschien, das Ziel zu erreichen, wandte sich Harold Lewin an die Presse und die Resonanz bei den Bürgern war überwältigend. Die Zustimmung, der jüd. Gemeinde das Haus zur Nutzung zurückzugeben, war enorm.

Bei den Nachforschungen wurde ein Dokument der Übergabe von 1912 gefunden, unterzeichnet von dem damaligen Bürgermeister der Stadt Recklinghausen, zahlreichen Stadträten und der Unterschrift des damaligen amtierenden Rabbiners der Jüdischen Gemeinde Recklinghausen das besagt: Das Gebäude muss, solange es jüdische Kinder in Recklinghausen gibt, als jüdische Schule genutzt werden.

Die juristische Voraussetzung war gegeben: es waren wieder jüdische Kinder in Recklinghausen, die Anrecht auf jüd. Unterricht hatten.

Die Stadt und das Land haben ca. 800.000 DM in das Gebäude investiert, auch das rituelle Bad (Mikwe) im Keller wurde restauriert, mit neuer Regenwasserzufuhr versehen. Die beiden großen Räume, die als Klassenzimmer dienten, wurden nach historischen Vorlagen hergerichtet; im ersten und zweiten Stock sind Wohnungen für Mitglieder der jüd. Gemeinde vermietet.

Das Haus trägt den Namen : „Dr. Selig Auerbach“.

Es ist für viele Menschen offen: Sprachunterricht für die Zuwanderer aus den Ost-Staaten, die Kinder- und Jugendgruppe trifft sich, Seniorentreff, Hebräischkurs, Musikunterricht, Seminare für Judentum in russischer Sprache, private Feiern – all das findet in dem Haus statt.

Am 21. Juni 1997 wurde das Haus offiziell der jüd. Gemeinde übergeben. Sehr zur Freude der jüd. Gemeinde nahm die Tochter des letzten Rabbiners, Dr. S. Auerbach, daran teil. Dr. Aucherbach war leider kurz vor der Einweihung gestorben. Zusammen mit Bürgermeister Welt enthüllte Chana Auerbach die Bronzetafel am Eingang des Hauses.

Chana Auerbach, die aus New York angereist war, sagte: „Mein Vater war stolz darauf, dass diese Gemeinde, in der er einst eine Familie gründete, nun noch einmal vollständig ist.“

Jochen Welt, der damalige Bürgermeister der Stadt, sagte bei der Übergabe: „Das Haus ist ein Mahnmal für Schuld und Versöhnung einer ganzen Stadt.“

Quellennachweis: Werner Schneider „Jüdische Heimat im Vest“