1918

In jungen Jahren an der „Spanischen Grippe“ gestorben: Einträge in die standesamtlichen Sterberegister vom 20. Oktober bzw. 7. November 1918 über den Tod von Siegmund und Else Rosenthal aus Recklinghausen

Quelle: Stadt- und Vestisches Archiv Recklinghausen, Bestand Standesamt I, Sterberegister, Jg. 1918, Nr. 735 und Nr. 847; „Recklinghäuser Zeitung“, Ausg. vom 21. Oktober 1918,  Verfasser: Dr. Matthias Kordes, Leiter des Stadt- und Vestischen Archivs Recklinghausen.

Else Rosenthal (geboren am 13. Januar 1898 in Waltrop) und Siegmund Rosenthal (geb. am 23. Januar 1901 ebendort) waren Geschwister und zwei von fünf Kindern des Ehepaares Albert Rosenthal und Lina, geb. Seligmann aus Werden. Die Familie Rosenthal stammte aus Waltrop und war dort im 19. Jahrhundert alteingesessen und weitverzweigt. Ihre Angehörigen lebten und arbeiteten dort hauptsächlich als Geschäftsleute und Metzger. Die Rosenthals zogen von Waltrop erst nach Herten, 1907 dann nach Recklinghausen, wo sie bis 1921 auf der Breite Straße 16, neben der „Alten Apotheke“ der Familie Strunk, lebten.

Der frühe Tod der Geschwister Rosenthal (er: mit 17 Jahren, sie im 20. Lebensjahr) war kein tragischer Zufall. Beide wurden typische Opfer der sog. Spanischen Grippe, der schlimmsten Pandemie der Neuzeit, die allein in Europa 2-3 Millionen Todesopfer forderte, weltweit waren es womöglich 30-50 Millionen Menschenleben. Das Virus tötete nicht vornehmlich alte, vorerkrankte Menschen oder Kleinkinder, deren Immunsystem noch nicht voll entwickelt war, sondern vor allem Jugendliche und jüngere Menschen im Alter von 15-35 Jahren, die bei schweren Verläufen einer Lungenentzündung erlagen, meist wenige Tage nach der Infektion.

Das Virus und die Krankheit kamen nicht aus Spanien. Aber von dort, vor allem aus Madrid, wurde im Mai 1918 erstmals über die Grippe berichtet, weil die Presse nicht von Kriegsbehörden kontrolliert oder zensiert wurde. So bürgerte sich damals der vermeintliche Herkunftsbegriff schnell ein. Erste Krankheitsfälle sind vielmehr in US-Militärcamps schon Anfang März 1918 dokumentiert worden von da an wanderte das Virus, das möglicherweise ursprünglich ein Vogelgrippe-Virus war, mit hunderttausenden US-Soldaten nach Westeuropa, wo die Amerikaner zusammen mit den Briten und Franzosen nach vier Jahren Kampf das Deutsche Reich endgültig besiegen sollten. In den Reihen der über den Atlantik nach Frankreich transportierten US-Truppen gab es im Frühling 1918 auch erste Grippe-Tote.

Eine erste Welle der Influenza erreichte Deutschland im Juni 1918, eingeschleppt durch sog. Fronturlauber, verwundete Soldaten in Lazaretten und Kriegsgefangene von der Westfront. Die erste Welle, die bis Mitte Juli reichte, war hochinfektiös, aber noch vergleichsweise wenig lebensbedrohlich, obwohl die Sterblichkeit in der Bevölkerung bereits ein leichten Anstieg zu verzeichnen hatte. Im August und September 1918 schien diese Sommergrippe, die hunderttausenden Soldaten in den Schützengräben bereits schwer zugesetzt hatte, überwunden, was ein fataler Trugschluss war. Zum Monatswechsel September/Oktober war die Spanische Grippe plötzlich wieder da; ein mutiertes, noch gefährlicher gewordenes Virus erreichte, wieder von Westen kommend, Deutschland.

Die etwa sechs Wochen der zweiten Welle, die von Anfang Oktober bis Mitte November reichten, waren in Deutschland, eingeleitet durch einen deutlichen Wetterwechsel, die schlimmsten. Die damalige Medizin war machtlos; durchgreifende Vorkehrungen gegen die weitere Ausbreitung der Pandemie wurden bis auf Schulschließungen nicht getroffen. Ab Freitag, dem 11. Oktober 1918, berichtete die Presse, darunter auch die Recklinghäuser Zeitung regelmäßig von der Influenza in Deutschland; ihre verheerende Wirkung ließ sich von nun an nicht mehr verschweigen. Die Lokalpresse in Recklinghausen vermeldete in besagter Tagesausgabe folgendes: Auch in hiesiger Gegend macht sich erneut die Grippe breit. In den Schulen und auf den Arbeitsplätzen fehlen zahlreiche Erkrankte an den gewohnten Plätzen. Da die Krankheit nicht selten bösartige Formen annimmt, so ist Vorsicht am Platze. In schweren Fällen versäume man nicht, rechtzeitig den Arzt aufzusuchen.

Agenturmeldungen gingen von da an aus Berlin, Potsdam, Swinemünde, Dresden, Chemnitz, Breslau. Leipzig, Stuttgart, Aachen, Mönchengladbach, Bielefeld, ja aus ganz Deutschland ein. Besonders verheerend muss die Grippe in Oberitalien (Mailand, Turin, Genua) gewütet haben. Zahlreiche inländische Nachrichten berichteten von erheblich eingeschränkten Eisen- und Straßenbahnverkehr sowie von Elektrizitäts-, Gas- und Wasserwerken, die ihren Betrieb nur noch notdürftig aufrechterhalten konnten. Die kritische Infrastruktur war in Deutschland, das den Krieg militärisch bereits verloren hatte, auf das Äußerste belastet.

Im Verlauf der Woche vom 14. bis 19. Oktober schlossen in Deutschland vielerorts die Schulen; für Recklinghausen ist diese Maßnahme laut Recklinghäuser Zeitung beginnend mit Montag, dem 21. Oktober, erfolgt und dauerte bis zum 18. November. Pressemeldungen über Hunderte erkrankter Kinder in den Großstädten machten ab Mitte Oktober die Runde; ein Bericht der Recklinghäuser Zeitung über die Grippe in Berlin spricht für sich: Berlin, 12. Oktober: Die Grippeerkrankungen sind in Groß-Berlin noch dauernd im Zunehmen begriffen. Von dem städtischen Medizinalamt verlautet, dass in einzelnen Schulen die Zahl der erkrankten Kinder so groß ist, dass im Anfang der nächsten Woche mit der Schließung einiger Schulen gerechnet werden muss. Die Krankenhäuser sind in Berlin fast überall überfüllt, so werden z.B. im Krankenhaus Westend nur noch Grippekranke angenommen, die bereits 41 Grad Fieber aufweisen (…).

De facto grassierte die Grippe zur gleichen Zeit auch in den Millionenstädten der USA, in ganz Europa, in Arabien, Indien, China und im südlichen Afrika, zuletzt erreichte sie auch Australien und Neuseeland. Über einige europäische Städte liegen verlässliche Opferzahlen vor: Allein zwischen dem 14. und dem 23. Oktober starben in Köln nach offiziellen Quellen 324 Personen. Die Jahressterblichkeit von 1918 lag in München nach neuesten Forschungen um ca. 2.200 Menschen höher als in den Jahren 1914-1917. 1918-1919 starben in der bayerischen Hauptstadt mutmaßlich 3.000 Personen an der Grippe, in Genf waren es im gleichen Zeitraum 1.155. Im holländischen Dordrecht, der späteren Partnerstadt Recklinghausens mit seinerzeit 55.000 Einwohnern, warf der städtische Verwaltungsbericht die gerundete Zahl von 300 Grippetoten aus. Zeitgenössische Darstellungen aus Düsseldorf berichteten davon, dass von Anfang Oktober bis zum 5. November 1918 757 an der Grippe und ihre Nachkrankheiten, Lungen- und Rippenfellentzündung (starben)“. In Dortmund waren es rund 650 Tote, in Essen knapp tausend.

Derart präzise Zahlen und Verlautbarungen liegen für Recklinghausen nicht vor, auch kann nicht auf Verwaltungsakten der drei Recklinghäuser Hospitäler (Prosper, Elisabeth, Knappschaft) oder auf solche der örtlichen Betriebskrankenkassen zurückgegriffen werden. Die verlässlichste Quelle für die Beantwortung der Frage nach den herbstlichen Opferzahlen in Recklinghausen sind die Sterberegister der Standesämter Recklinghausen und Recklinghausen-Süd. Man entnimmt der Zählung der Einträge, dass die Sommergrippe in der Tat noch die ,harmlosere’ Variante war, dass die Mortalität im Monat Oktober dagegen signifikant aus dem Rahmen des Üblichen fiel: Beginnend mit dem 9. Oktober starben statt etwa drei Menschen pro Tag zwischen fünf und zehn Personen täglich, ein hoher Anteil davon in jüngeren Jahren (15 bis 35 Jahre) und weiblichen Geschlechts: ein typisches Indiz dafür, dass die Spanische Grippe im Spiel war. Diese Zahlen blieben bis Anfang November bestehen und normalisierten sich erst wieder im Dezember.

Bezeichnend sind die zeitgleich (d.h. von der zweiten Oktober- bis zur zweiten Novemberwoche 1918) sprunghaft vermehrten Todesanzeigen, die in der Recklinghäuser Zeitung im Gedenken an die Verstorbenen von den Hinterbliebenen veröffentlicht wurden. Die Texte sprachen nahezu gleichlautend von „kurzer, schwerer Krankheit“, von „kurzem, schwerem Leiden“, von „kurzem, schwerem Krankenlager“, ein deutlicher Reflex auf die Tatsache, dass die Grippe im Herbst 1918 schon nach Ablauf weniger Tage ein tödliches Ende nehmen konnte. Auch für den 17-jährigen Siegmund Rosenthal, der im von Julius Isacsohn geführten Damen- und Herrenmoden-Geschäft „Gebrüder Alsberg“ auf der Breite Straße 6-8 arbeitete, erschienen am 21. Oktober 1918 zwei derartig formulierte Traueranzeigen.

Abgesehen von einem ersten Anstieg bereits im Juli 1918 fällt die Verdopplung der Todeszahlen im Oktober 1918 auf. Hinzukommt der stark vergrößerte Anteil jüngerer Personen. Vom 9. Oktober bis zum 11. November 1918, vier Wochen, in welchen die Grippe auch in Recklinghausen eine deutliche Übersterblichkeit hervorgerufen hat, werden knapp 90 Todesfälle von Frauen und Mädchen im Alter zwischen 15 und 40 Jahren standesamtlich registriert, dem stehen „nur“ knapp 50 gestorbene Männer im gleichen Lebensalter gegenüber: Ein Ungleichgewicht, das nicht allein durch die kriegsbedingte Abwesenheit vieler Männer im wehrfähigen Alter aufgefangen werden kann, das hingegen Anlass zu Vermutungen darüber gibt, die Spanische Grippe habe mehrheitlich weibliche Opfer gefordert. So lag die Gesamtzahl der Influenza-Opfer in Recklinghausen wohl zwischen 150 und 200 Toten allein in den Monaten Oktober und November 1918 – in ganz Deutschland starben 1918/19 vermutlich zwischen 250.000 und 300.000 Menschen an der Grippe.

Siegmund und Else Rosenthal fielen der Grippe genau auf dem Höhepunkt der tödlichen zweiten Welle zum Opfer, die weltweit die Leichenhallen und Friedhöfe füllte. Ihr Abflauen in der zweiten Novemberwoche 1918 fiel in der öffentlichen Wahrnehmung zusammen mit der Nachrichtenflut über das Ende des Krieges und des Kaiserreiches, die Revolution, die Arbeiter- und Soldatenräte, die Räumung besetzter Gebiete, das Zurückfluten der Fronttruppen und anderes mehr. Diese dramatische Zäsur sorgte dafür, dass die Grippe und ihre Opfer sehr rasch aus der Erinnerung wichen. Eine dritte Welle kam im Februar 1919, sie unterschied sich aber kaum mehr von einer saisonalen Grippe, die ohne deutlich vermehrte Sterbefälle auskam.

Ein weiteres Mitglied der damaligen Synagogengemeinde Recklinghausen starb an der Spanischen Grippe: der 18-Jährige Herbert Heumann, Sohn des Kaufmanns Isidor Heumann, wohnhaft Bochumer Straße 139, und zwar am 21. Oktober 1918. Alle drei fanden ihr Grab auf dem neuen Friedhof am Nordcharweg. Die Mutter der beiden Geschwister, Lina Rosenthal, starb bereits 1933 in Recklinghausen, Vater Albert und Bruder Paul Rosenthal wurden 1942 bzw. 1943 in Auschwitz ermordet.

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