13 – 1700

Recklinghausen

Die Marktsiedlung Recklinghausen bekam um 1230 vom Kölner Erzbischof die Stadtrechte verliehen. Namentlich bekannt ist Gottschalk von Recklinghausen, der von Lochern aus seinen Geschäften nachging und in erster Linie als Geldverleiher tätig war. Er wurde während der Judenverfolgungen zur Zeit des Schwarzen Todes 1349–1350 getötet. Für ein organisiertes jüdisches Gemeindewesen im Mittelalter und früher Neuzeit ist bisher in den Quellen kein Nachweis zu finden.(Quelle: de.wikipedia.org/wiki/Jüdische_Gemeinde_Recklinghausen)

Bereits im 15./16. Jahrhundert gab es in Recklinghausen jüdisches Leben. Das spielte sich bis zum Jahre 1824 allerdings nicht als Gemeinde, sondern im privaten Rahmen ab. Zu Gottesdiensten und Religionsunterricht pflegten sich die Recklinghäser Juden regelmäßig im Haus der Familie Levy zu treffen.

 

 

 

 

 

Kupferstich von „Recklinshaussen“, Matthäus Merian: Topographia Westphaliae, 1647 (Abb. aus: wikipedia.org, gemeinfrei)

14. Jahrhundert – Fragment einer hebräischen Bibel (Pergamentblatt, beidseitig beschriftet) mit Randkommentaren, überliefert als sog. Kopert-Einband eines frühneuzeitlichen Ratsprotokollbuches der Stadt Recklinghausen

von Dr. Matthias Kordes, Leiter des Stadt- und Vestischen Archivs Recklinghausen

Quelle (Trägerband): Stadt- und Vestisches Archiv Recklinghausen, Bestand I, R 23: „Prothocollum aller gerichtlicher handell da vur Burgermeister und Rhätt der Stadt Recklinghausen, criminaliter oder civiliter, in Camera seindt verhandeltt und ergangen, Anno 1590 ann gefangen.“ (Papier, 119 Bl., fadengeheftet, mit losen Beilagen, Laufzeit 1590–1630);

Außen: Pergamentblatt (beidseitig beschriftet) einer hebräischen Bibel mit Randkommentaren, 14. Jahrhundert, überliefert als Einband eines frühneuzeitlichen Ratsprotokollbuches der Stadt Recklinghausen. Format des Fragments: Großfolio, Pergament, ca. 44 cm x 33 cm, auf sorgfältig angebrachter Liniierung dreispaltig beschrieben, aschkenazische Quadratschrift mit Punktierung (Vokalisationen).

Beschreibung

Das hebräische Bibelfragment aus Recklinghausen ist in sorgfältigem Layout nach Art einer sefer torah niedergeschrieben. Das Textstück wurde ursprünglich als Kodex, das heißt im traditionell Sinne als Buch, nicht aber in Rollenform überliefert. In heute stark abgegriffenen und gedunkeltem Zustand hat es sich als sog. Einband-Makulatur eines frühneuzeitlichen Aktenbandes erhalten. Demnach liegt hier der zerstückelte Rest eines biblischen Textkorpus (Tanach) vor, das vor rund vier Jahrhunderten in einem zeittypischen Recyclingverfahren für handwerkliche, genauer gesagt: für Zwecke der Schriftgutverwaltung wiederverwendet wurde. Das Fragment enthält den Text von Bemidbar (= Numeri / 4. Buch Mose) 23, 1–15, und erzählt den Anfang der Geschichte von der prophetischen Gestalt namens Bileam, der auf Befehl des Moabiterkönigs Balak die Israeliten verfluchen sollte, am Ende aber auf Geheiß Gottes das Volk Israel segnete. Diese – hier natürlich rein zufällig erhalten gebliebene – Textpassage liegt auch in aramäischer Übersetzung (Targum) vor und wurde mit erläuternde Randbemerkungen (Masora) in sehr kleiner, kursivierter Schrift versehen. Das Blatt stammte wohl aus einer sog. masoretischen Bibel, die von Schriftgelehrten für Schul- und Studierzwecke benutzt wurde.

Das zur Text- und Schriftanordnung des Aktenkonvolutes um 90 Grad nach links gedrehte Pergamentblatt weist eine sorgfältige Vertikal- und Horizontalliniierung drei schlanker und eleganter Textsäulen auf. Die hebräische Schrift kann paläographisch nur im Ungefähren datiert werden. Der Text präsentiert sich auf Vor- und Rückseite in drei Kolumnen à 30 Zeilen – an die liturgisch-repräsentativen Großformate spätmittelalterlicher Tora-Rollen (mit Maßen von bis zu 70 x 60 cm pro Blatt und zwischen 50 und 60 Zeilen pro Textspalte) reicht das Layout somit nicht heran.

Das vorliegende Bruchstück wurde als sog. Kopert verarbeitet (von mittellateinisch: coopertorium bzw. coopertum: Bedeckung, Einwicklung, (Schutz-) Hülle, konkret: Umschlag aus Leder oder Pergament). Dieser Befund weist auf eine zeittypische, schon seit dem 15. Jahrhundert vermehrt auftretende und einfach herzustellende Einfassung von Geschäfts- und Gebrauchsschriftgut hin. Akten, Rechnungs- und Amtsbücher kaufmännischer, juristischer oder administrativer Provenienzen wurden auf diese Art mit leichten, flexiblen, ohne stabilen Holzdeckel auskommenden Umschlägen aus Pergamentblättern eingefasst, seien sie nun beschrieben oder blanko, gleiches gilt für das Äußere von Studienliteratur und Schultexten. Ein besonderes Können von Buchbindern war für diese Art der Heftung kaum erforderlich; Stadt- und Gerichtsschreiber, Kanzlisten oder Registratoren konnten so etwas zur Not auch selbst bewerkstelligen. Diese Kopert-Einbände dienten vornehmlich flacher Lagerung von Schriftgut in Aktenfächern von Registraturen, nicht der senkrechten – mit dem Rücken zum Betrachter gewendeten – Aufstellung in (Bibliotheks-) Regalen nach Art eines gebundenen Buches.

Typisch ist jedenfalls, dass man hier ein ganzes Pergamentblatt im Großfolio-Format für die Heftung des – etwa halb so großen – Protokollbuches des Recklinghäuser Stadtgerichtes (Folio, ca. 32 x 20 cm) verwenden konnte. Dieses besteht übrigens aus zwei getrennt voneinander gehefteten Faszikeln, die Einträge des einen Konvolutes reichen von 1590 bis 1594, das zweite setzt erst 1622 ein und endet 1630. Der dermaßen zweigeteilte Papierblock, dem noch lose Beilagen hinzugefügt wurden, und das Pergamentblatt sind in zwei auseinanderliegenden Arbeitsvorgängen durch simple Fadenheftung miteinander verbunden worden. Die Innenseite des kräftigen, großen Blattes war im Übrigen mit zusätzlichem Papier verleimt, was der Stabilisierung des Aktenbandes offenbar zusätzliche Substanz verleihen sollte.

Einband-Makulatur

Für die Herstellung solcher Buch- und Aktenumschläge wurden Hilfsmittel aus einschlägigem, meist aus zweiter Hand stammendem Wertstoff gewonnen. Man griff auf ausgesonderte, für nicht mehr erhaltungswürdig erachtete Pergamenthandschriften zurückliegender Jahrhunderte zurück. Ihr ‚überschüssiges‘ Vorkommen im 16. Jahrhundert hat mit Konsequenzen des epochalen Medienwandels, d.h. mit dem Durchbruch des Buchdrucks im ersten Viertel des 16. Jahrhunderts zu tun, wodurch zahlreiche handgeschriebene, verschlissene, unter Umständen schwer lesbare Texte auf Pergament gegenüber moderneren, standardisierten und rationalisierten Druckausgaben auf Papier für obsolet gehalten wurden. Von jeglichen text- und buchimmanenten Wertigkeiten, ästhetischen Kategorien oder religiös-liturgischen Zweckbestimmungen entkleidet, wurden „außer Dienst gestellte“ christlich-kirchliche Bücher (darunter auch Bibeln, Breviere, Choralhandschriften, Missale und zentrale theologische Werke) oder auch jüdische Kodizes fachmännisch auseinandergeheftet und Blatt für Blatt neu auf verschiedene Formate zugeschnitten.

Qualitätsvolle Pergamentblätter – für Tora und Tanach wurde freilich nur bestes und koscheres Material verwendet – galten jedenfalls als langlebig, robust, strapazierfähig und vergleichsweise reißfest, sie konnten weitaus empfindlichere Papierkonvolute wirksam schützen. Demzufolge war das Ausmaß der Zerstörung mittelalterlicher Handschriften im 16. Jahrhundert – auch ohne Kriege, Pogrome und andere Katastrophen – immens. Die Resultate, sprich: die materiellen Relikte dieses rohen Umgangs mit Buchtexten christlicher (und jüdischer) Provenienz sind bezüglich der Bestände des 16. und 17. Jahrhunderts ein breit angelegter Befund europäischer Archive und Bibliotheken. Heute befinden sich diese Einband-Makulaturen entweder, wie etwa in Recklinghausen, unverändert am Trägerband, oder aber, meist im Zuge von Restaurierungsmaßnahmen, abgelöst in separaten Sammlungen.

Geniza

Hebräische Fragmente, die auf diese Weise tradiert wurden, nehmen dabei eine Sonderstellung ein. Sie liegt freilich darin begründet, dass jüdische Buchkultur und Glaubenspraxis eine solche pragmatische Sekundärverwendung von Bibelhandschriften nicht vorsehen, sondern eine dem sakralen Textinhalt angemessene und diskrete Ablage in der Synagoge vorschreiben. Für dieses „Versteck“, das in seinem textlichen Gehalt für die moderne Forschung ein besonderer Quellenfundus sein kann, wird traditionell die Bezeichnung Geniza verwendet. Eine derartige Deponierung in einem eigens dafür vorgesehenen Behältnis bzw. einer kleinen, verschlossenen (Abstell-) Kammer ist dabei jedoch nicht als Archivierung zu verstehen, sondern als eine physische Verwahrung, die achtlose Vernichtung und würdelose Entsorgung verbrauchter, abgenutzter und liturgisch nicht mehr verwendbarer Schriftrollen durch Unbefugte verhindern sollte. Der heutigen Forschung gelten solche Depots buchstäblich als Fundgruben für Quellen zur jüdischen Kultur, Literatur und Theologie. Das jüngst fertiggestellte Projekt „Geniza Germania“, das auch das vorliegende Blatt erfasst hat, katalogisiert und erschließt systematisch alle überlieferten hebräischen Handschriftenfragmente.

Zwischen einer Geniza und einer westfälischen Kanzlei um 1600 gibt es aber natürlich keine funktionalen oder personalen Verbindungen. Indem heute zahlreiche hebräische (und aramäische) Einband-Makulaturen nicht in den alten, örtlichen Depots, sondern verstreut in europäischen Archiven und Bibliotheken vorfindlich sind, stellt sich also die Frage nach dem speziellen Schicksal solcher Handschriften. Raub, Plünderung, Beschlagnahme oder Vandalismus sind dabei in Rechnung zu stellen; Zerlegung und Zerstückelung der Bücher können ohne Zweifel Evidenzen der Zerstörung jüdischer Gotteshäuser und Vertreibung ganzer Gemeinden sein – eine jüdische Gemeinde mit einer Bücherausstattung, die einschlägigen synagogalen Erfordernissen entsprochen hätte, hat es in Recklinghausen im späten 16. Jahrhundert jedenfalls nicht gegeben.

Neue Forschungen gehen indes davon aus, dass es insbesondere im 16. Jahrhundert auch andere Gründe und Wege gab, die erst zur Vernachlässigung und Außerachtlassung älterer Schriften, dann zur Bereitschaft führten, Veräußerung und Wiederverwendung handschriftlicher Texte und Bücher stillschweigend zu dulden. Immer höhere Druckauflagen gebundener Bücher und ein Anwachs aktenmäßiger Justiz- und Verwaltungsschriftlichkeit führten zu einer steigenden Nachfrage nach geeignetem Einbandmaterial. Verstärkt wurde der Pergamenthandel zu einem lukrativen Geschäft, das nicht nur lokale Bedürfnisse befriedigte.

Gutes, altes Pergament, ob beschriftet oder nicht, erwarb einen überregionalen Handels- und Marktwert, der womöglich auch jüdischen Buchbindern ein Handlungsfeld eröffnete Gutes, altes Pergament, ob beschriftet oder nicht, genoss einen überregionalen Handels- und Marktwert, der womöglich auch einzelnen jüdischen Kaufleuten und Buchhändlern ein Geschäftsmodell eröffnete, im Rahmen dessen sie – unbeschadet bestehender Schutzvorschriften – aus Geniza-Beständen gewonnene Makulatur an christliche Buchbinder, Pergamenthändler, Bibliothekare oder Kanzleibeamte veräußerten. Einen solchen oder ähnlichen Weg könnte auch das vorliegende Blatt genommen haben, bis es um 1600 in der Schreibstube des Recklinghäuser Rathauses als Umschlag eines städtischen Protokollbandes seinen endgültigen Überlieferungszustand erreichte.

Eine andere, rein hypothetisch bleibende Möglichkeit bestünde darin, dass das Blatt aus dem Besitz des Talmud-Gelehrten Gershon ben Meir Biberach (geboren am 1. August 1567 in Recklinghausen, gestorben am 25. September 1622 in Bernburg/Saale) stammt, der Ende des 16. Jahrhunderts in Recklinghausen lebte. Gershon wurde ab 1607 unter dem Namen Christian Gerson mit einer – bis ins 1722 in sieben Auflagen gedruckten – theologischen Widerlegung des Talmuds als protestantischer Konvertit, Judenmissionar und früher Hebraist publizistisch bekannt. Möglicherweise ließe er eine masoretische Bibel in Recklinghausen zurück, als er sich im Jahre 1600 nach Halberstadt und Bernburg aufmachte, wo er evangelisch getauft wurde und später als Pfarrer und Theologe wirkte.

Das vorliegende hebräische Bibelfragment ist jedenfalls das älteste schriftliche Zeugnis jüdischer Geschichte in Recklinghausen; seine besondere Überlieferungsgeschichte macht es zu einem singulären Dokument im Stadt- und Vestischen Archiv Recklinghausen.

 

Weiterführende Literatur (Auswahl):

Hüttenmeister, Nathanja, Möllers, Georg, Art. „Recklinghausen“, in: Historisches Handbuch der Jüdischen Gemeinschaften in Westfalen und Lippe: Die Ortschaften und Territorien im heutigen Regierungsbezirk Münster, hg. von Susanne Freund und Peter Johanek, Münster 2008, S. 574-595,

Hüttenmeister, Nathanja, Eine jüdische Familie im Spannungsverhältnis zwischen Judentum und Christentum, Der Konvertit Christian Gerson im Konflikt mit seiner jüdischen Verwandtschaft, in: Vestische Zeitschrift 99 (2002), S. 47–59.

Lehnardt, Andreas, Hebräische Handschriftenfragmente im Blick der judaistischen Forschung, in: Fragment und Makulatur. Überlieferungsstörungen und Forschungsbedarf bei Kulturgut in Archiven und Bibliotheken / herausgegeben von Hanns Peter Neuheuser und Wolfgang Schmitz. Wiesbaden 2015, S. 192-215.

Lehnardt, Andreas, Verborgene Schätze in Bucheinbänden. Hebräische und aramäische Handschriftenfragmente als Quelle jüdischer Kultur, in: Kirchliches Buch- und Bibliothekswesen: Jahrbuch 2007/08, S. 89-99.

Reimund Leicht, Verbrennen oder Verbergen? Über den Umgang mit heiligen und unheiligen Büchern im Judentum, in: Körte, Mona, Ortlieb, Cornelia (Hg.), Verbergen, Überschreiben, Zerreißen: Die Schicksale der Bücher, Berlin 2007, S. 123–141.

 

Weiterführende Links: