2025

Ein großes und ein kleines Wunder ist geschehen

Jedes Mal, wenn das Purim-Fest kommt, lesen wir der Tradition entsprechend die Esther-Rolle, sind fröhlich, singen, tanzen und trinken Wein. Wir feiern die wundersame Rettung unseres Volkes vor über 2.000 Jahren und den Tod derer, die sich vorgenommen hatten, die Juden zu vernichten. Außerdem verkleiden wir uns mit Karnevalskostümen. Es gibt einige Gründe dafür, dass man das macht. Einer der am weitesten verbreitete Grund ist, dass wir die Idee von Esther wieder aufgreifen, die ihre  jüdische Identität vor dem König verborgen hatte und dies für die Rettung der Juden nutzte. Der andere Grund: Wir erfreuen uns an Wundern, welche der Allmchtige uns durch die Verkettung verschiedener Ereignisse schenkt.
Wir alle brauchen Wunder. Wobei die Erwachsenen sie manchmal dringender brauchen als Kinder. Denn die Freude an Purim selbst ist auch ein Wunder, auf ihre Art eine Demonstration der Lebenskraft des jüdischen Volkes. Und diese Demonstration geschieht über so viele Jahre vor den Augen der Erben Hamans, all derer, die seine düsteren Taten gerne fortsetzen würden.
Purim ist das Fest der versteckten Wunder. Und wenn man genau hinschaut, sind sie in der Nähe, sie sind nicht schwer zu erkennen.
So geschahen auch in der Gemeinde des Bezirks Recklinghausen außer der traditionellen Lesung der Megilat Esther, dem Lärm der Rasseln, des Purimspiels, der Freude und eines feierlichen Festmahls viele erstaunliche Wunder. Urteilt selbst: Ist es nicht ein Wunder, wenn in die Gemeinde zum Fest gleich drei oder manchmal auch vier Generationen einer Familie kommen? Wenn die jungen Großeltern, manchmal aber auch die Urgroßeltern, ihre Enkel und Urenkel zum Fest in die Gemeinde mitbringen und alle  zusammen das Fest feiern. Von einem solchen Wunder konnten die jüdischen Einwanderer, die vor etwa 30 Jahren nach Deutschland kamen, nur träumen! Und das ist nicht nur eine Familie, sondern mehrere. Wie viele Familien – so viele Wunder! Und das ist  noch nicht alles. In der vergangenen Ausgabe wurde bereits über den „Schatz“ berichtet, der auf dem Gelände der Gemeinde während Bauarbeiten gefunden wurde. Es ist eine Schachtel mit Träumen und Wünschen der Kinder der Jugendgruppe „Agada“, die sie  im Jahr 2016 vergraben haben. Wir hatten uns vorgenommen, diese Kinder zu finden und zu erfahren, wie es ihnen inzwischen ergangen ist. Doch das musste man gar nicht machen. Zum Purimfest kam ganz spontan in die Gemeinde einer der Besitzer des Schatzes. David Blaiwas, der schon viele Jahre nicht mehr in Recklinghausen lebt (wie auch die Mehrheit jener jungen Leute), freute sich sehr über den Schatz und hat es zuerst sogar nicht geglaubt, dass er gefunden wurde. David erzählte, dass die früheren  Kinder von „Agada“ all diese Jahre in Kontakt geblieben sind. Sie sind befreundet wie früher, treffen sich oft, erinnern sich an ihre Botschaften aus ihrer Kindheit an ihr „erwachsenes“ Ich und würden sie sehr gerne finden. Doch sie hatten vergessen, wo sie die  Schachtel vergraben hatten. Für sie ist dieser Fund ein wahres Wunder. So viele, wenn auch kleine, Wunder brachte das Purimfest allein in unsere Gemeinde! Während Antisemitismus sich immer weiter verbreitet, erinnert Purim an die Bedeutung des Zusammenhalts und gegenseitiger Hilfe. Es ist ein Fest, das lehrt, die Hoffnung nicht zu verlieren und sich am Leben zu erfreuen, ungeachtet aller Herausforderungen. Purim bringt jedem Juden Freude und Fröhlichkeit, die Erfüllung der unglaublichsten  Wunder und Träume.
Irina Barsukowa, Jüdische Gemeinde Kreis Recklinghausen Foto: Alexander Libkin

Recklinghausen gedachte des Gemeindegründers Rolf Abrahamsohn an dessen 100. Geburtstag

Gemeindechef Dr. Mark Gutkin erinnerte an Rolf Abrahamsohn, den Gründer der Jüdischen Kultusgemeinde Kreis Recklinghausen

Man hätte eine Stecknadel fallen hören können, als der Vorsitzende der Jüdischen Kultusgemeinde Kreis Recklinghausen, Mark Gutkin, zu Beginn der Gedenkfeier zum 100. Geburtstag von Rolf Abrahamsohn seine Rede immer wieder unterbrach, um den 2021 verstorbenen Vorsitzenden der Gemeinde selbst zu Wort kommen zu lassen. So zeigte ein Video Abrahamsohn, wie er auf dem jüdischen Friedhof Recklinghausen von dem sprach, was er selbst sein Schicksal nannte.

Abrahamsohn berichtete darin, wie er mit anderen Juden aus dem Kreis Recklinghausen in ein Ghetto im lettischen Riga deportiert wurde, wie die Nazis seine Mutter erschossen und wie er von Freunden davon abgehalten werden konnte, mit ihr in den Tod zu gehen, weil sein Vater und sein Bruder ihn brauchen würden. Doch die waren, was Abrahamsohn nicht wusste, zu diesem Zeitpunkt bereits in Auschwitz ermordet worden.
Durch sieben Konzentrations- und Arbeitslager zwangen ihn die Deutschen, bis Abrahamsohn am 8. Mai 1945 in Theresienstadt halb verhungert von der Roten Armee befreit wurde. Er kehrte nach Recklinghausen zurück und baute in der Nähe, in seiner Geburtsstadt Marl, das Geschäft seines Vaters wieder auf.

Abrahamsohn überlebte sieben Konzentrations- und Arbeitslager

»Ich wollte nicht mehr in Deutschland leben, aber die Briten ließen mich nicht nach Palästina, und in die USA konnte ich auch nicht einreisen«, erzählt er in dem Video. In der noch jungen Bundesrepublik erlebte Abrahamsohn dann, wie das einstige NSDAP-Mitglied, der Marler Amtsbürgermeister Friedrich Wilhelm Willeke, der die Enteignung des väterlichen Geschäfts durchgesetzt hatte, seine politische Karriere fortsetzen konnte. »Sie haben ihn einfach wiedergewählt«, erinnerte sich Abrahamsohn. Willeke baute nach 1945 die CDU mit auf und war von 1953 bis zu seinem Tod im Jahr 1965 Bundestagsabgeordneter.

Abrahamsohn blieb aber und baute die Jüdische Gemeinde Bochum-Recklinghausen auf, deren Vorsitzender er von 1978 bis 1992 war. Aus ihr gingen 1999 die beiden heutigen Gemeinden Recklinghausen und Bochum-Herne-Hattingen hervor. Er erzählte in Schulen von seinem Schicksal. Dazu hatte ihm ein Rabbiner geraten, der ihm einmal gesagt hatte: »Wenn du von allen Leuten nur einen Jugendlichen überzeugen kannst, dass Juden nicht schlechter sind als die anderen, dann hast du viel erreicht.«

Der Vorsitzende war aktiv für ein anderes Deutschland.

Recklinghausens Landrat Bodo Klimpel (CDU) dachte auf der Gedenkfeier laut darüber nach, was Abrahamsohn wohl über das heutige Deutschland denken würde: »Was würde er empfinden, wenn er die Bilder von Menschen gesehen hätte, die in Berlin nach den Terroranschlägen vom 7. Oktober gejubelt und gefeiert haben?«

»Wie würde er darüber sprechen«, fuhr Klimpel fort, »dass eine in Teilen rechtsextreme Partei als zweitstärkste Fraktion in unseren Bundestag einzieht?« Klimpel sagte, er schäme sich für eine Entwicklung in Deutschland, die dazu führt, dass Juden nicht mehr sicher sind. Der Landrat lobte Abrahamsohns unermüdliche Arbeit für Versöhnung. »Sein Kampf muss jetzt unser Kampf sein.«

Abraham Lehrer, der Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, erinnerte an die Jugend Abrahamsohns in Marl vor der NS-Zeit. Er sei in einer Umgebung aufgewachsen, in der sein Judentum keine Trennlinie zu anderen Kindern darstellte. »In seiner Kindheit«, so Lehrer, »hatte er viele nichtjüdische Freundinnen und Freunde, ohne dass seine jüdische Herkunft eine Rolle spielte. Doch mit dem Aufstieg der NSDAP und der Ernennung Adolf Hitlers 1933 zum Reichskanzler fanden nicht nur diese Freundschaften ein jähes Ende.«

Obwohl seine Feinde ihn vernichten wollten, habe er sich in sein Leben zurückgekämpft.

Am Vortag hätten drei aus Österreich kommende Syrer an dem Gedenkort für die Geiseln vor dem Jüdischen Museum in München randaliert. Als die Sicherheitskräfte eingriffen, habe einer von ihnen ein Messer gezückt. Zu einer Messerstecherei sei es nicht gekommen, sagte Lehrer, aber er könne nicht verstehen, dass alle drei mittlerweile schon wieder auf freiem Fuß seien. »Ich bin dankbar, dass Rolf Abrahamsohn die Entwicklungen nicht mehr miterleben musste.«

Recklinghausens Polizeipräsidentin Friederike Zurhausen, Trägerin der 2018 vom Kreis gestifteten Rolf-Abrahamsohn-Medaille, erinnerte sich an die vielen Begegnungen, die sie mit dem früheren Gemeindevorsitzenden hatte. Sie sei stolz gewesen, als Abrahamsohn sie 2020 sogar zu sich nach Hause eingeladen hatte. Dort erhielt er von Nordrhein-Westfalens damaligem Ministerpräsidenten Armin Laschet den Landesverdienstorden.

Oft sprach Abrahamsohn mit Jugendlichen über seine Geschichte

Zurhausen zitierte daraufhin aus dem Lied »Mensch« von Herbert Grönemeyer die Zeilen: »Und der Mensch heißt Mensch, weil er irrt und weil er kämpft. Und weil er hofft und liebt, weil er mitfühlt und vergibt.« Abrahamsohn habe sich in sein Leben zurückgekämpft, obwohl seine Feinde ihn vernichten wollten.

Zum Abschluss der Gedenkveranstaltung kam Abrahamsohns Sohn André zu Wort. »Dass Sie meines Vaters über seinen Tod hinaus gedenken, hätte ihn sehr gefreut und berührt.« Oft habe sein Vater mit Jugendlichen über seine Geschichte gesprochen, die Zeitzeugen hätten Großes geleistet. Seine Botschaft: Ihnen sei, wie seinem Vater, wichtig gewesen, dass sich die Unmenschlichkeit nicht wiederholt.

Quelle: Jüdische Allgemeine von Stefan Laurin, Foto: Stefan Laurin

Wohin gehen wir denn?

 

Am 9. März 2025 war der 100. Geburtstag von Rolf Abrahamsohn. Dieser Mensch hat die Schrecken des Holocaust überlebt, hat sieben Konzentrations- und Arbeitslager, Diskriminierung, Gewalt und Folter, Vertreibung und den Tod von Verwandten  überstanden. Doch ungeachtet all der Strapazen hat Herr Abrahamsohn nicht nur in sich die Kraft gefunden, um weiterzuleben, sondern auch alles getan, damit sich dies niemals mehr wiederholt.
Rolf Abrahamsohn war eines von vier Kindern des Besitzers eines Geschäfts für Bekleidung und Schuhe in der Stadt Marl. Sein Vater Arthur kämpfte an den Fronten des Ersten Weltkriegs für Deutschland, was im Weiteren weder ihn noch seine Familie gerettet  hat. Im Jahr 1938 wurde die Familie Abrahamsohn nach dem November-Pogrom aus Marl vertrieben und ihr Haus wurde enteignet. Hier breitete sich das Hauptquartier der örtlichen Abteilung der NSDAP aus.
Die Familie musste in das „jüdische Haus“ in Recklinghausen umziehen. Hierher brachte man die jüdischen Familien des Bezirks für ein „kompaktes Wohnen“. Der Vater und sein ältester Sohn wurden festgenommen und mussten nach der Befreiung aus dem  Gefängnis nach Belgien fliehen.
Weil das Geld für die Flucht nur für zwei reichte, blieben die anderen Familienmitglieder in Deutschland. Im Alter von 14 Jahren musste Rolf Abrahamsohn erstmals Zwangsarbeit in die Firma Ruhrgas in Gelsenkirchen leisten. Die Verfolgung der Juden und die Beschränkung ihrer Rechte wurden immer stärker. Im Jahr 1940 stirbt der jüngere Bruder Rolfs an Diphtherie. Er wurde auf dem jüdischen Friedhof Recklinghausens bestattet. Es war die einzige Grabstätte, die Herr Abrahamsohn besuchen konnte, die übrigen Familienmitglieder wurden in Gemeinschaftsgräbern verschiedener Konzentrationslager beerdigt.
Im Januar 1942 wurden Mutter und Sohn gemeinsam mit anderen Juden in das Ghetto von Riga deportiert. Die Mutter wurde zur Überarbeitung alter Heizkörper eingeteilt. Die Arbeiten wurden ohne jegliche Schutzmittel mit bloßen Händen durchgeführt. Schon bald erlitt sie wegen der Einwirkung von Batteriesäure starke Verbrennungen, wurde arbeitsunfähig und man erschoss sie. Aus der Erzählung Herrn Abrahamsohns am 6. November 2017: „Als ich davon erfuhr, wollte ich mich in den Elektrozaun des  Lagers stürzen. Doch meine Freunde hielten mich davon ab. Sie sagten, dass ich leben muss, denn mein Vater suchte mich.“
Rolf Abrahamsohn (geboren 9. März 1925 in Marl; gestorben am 23. Dezember 2021 in Marl)

Ein Gespräch über die Vergangenheit und die Zukunft

v.l.n.r.: Abraham Lehrer, Vorsitzender der Synagogen-Gemeinde Köln und Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland; Dr. Mark Gutkin, Vorsitzender der Jüdischen Kultusgemeinde Kreis Recklinghausen; Friederike Zurhausen, Polizeipräsidentin des Polizeipräsidiums Recklinghausen; Bodo Klimpel, Landrat des Kreises Recklinghausen; Christoph Tesche, Bürgermeister der Stadt Recklinghausen; André Abrahamsohn, der Sohn von Rolf Abrahamsohn mit Ehefrau

Den Gedenkabend zu Ehren des 100. Geburtstags des ehemaligen Vorsitzenden der Gemeinde Bochum-Herne-Recklinghausen, Herrn Rolf Abrahamsohn, kann man zweifellos als eines der wichtigsten Ereignisse des Gemeindelebens unseres Bezirks bezeichnen. Von 1978 bis 1992 war er Vorsitzender der Gemeinde.
Auf die Bitte von Herrn André Abrahamsohn hin fand der Gedenkabend für seinen Vater im Gebetssaal unserer Gemeinde statt, anstatt irgendeines anderen städtischen Raumes für offizielle Veranstaltungen. Er ist im Dezember 2021 von uns gegangen, hat aber eine unauslöschliche Spur in den Herzen derer hinterlassen, die ihn kannten und die er mit seiner Beteiligung an verschiedenen wohltätigen Projekten unterstützte. Er war ein Mensch mit einem starken Geist, den das schwere Schicksal nicht gebrochen hat; er überstand sieben  Konzentrations- und Arbeitslager und hat während der Nazi-Herrschaft alle seine Verwandten verloren.
Rolf Abrahamsohn widmete sein ganzes Leben dem Ziel, dass die Menschen die Schrecken des vergangenen Krieges und die Tragödie des Holocaust nicht vergessen, damit sich dies  niemals mehr wiederholt. Im Saal waren außer Gemeindemitgliedern Ehrengäste anwesend, die gekommen waren, um ihre Achtung auszusprechen und sein Andenken zu ehren.
Nach einer kurzen Begrüßung gab der Vorsitzende der Gemeinde Herr Gutkin den VersammelVersammelten eine Gelegenheit Herrn Rolf Abrahamsohn zu treffen. Über hundert  Menschen hielten den Atem an, als der Jubilar selbst von zwei Bildschirmen zu sprechen begann. Er erzählte dem Publikum die Geschichte seines Lebens und wandte sich an die Anwesenden, vor allem an die Jugendlichen, mit der Bitte, sein Lebenswerk fortzusetzen. Dies geschah unerwartet und gab der ganzen Veranstaltung eine aufrichtig herzliche Atmosphäre, ohne irgendeine Förmlichkeit und Pathos.
Zu der so emotionalen Kulisse des Abends trug auch die Musik bei. Die Ansprachen der Redner wechselten sich mit Auftritten der Musikgruppe der Gemeinde, musikalischen Aufführungen in der großartigen Interpretation von Misha Nodelman (Geige) und Mark Mefsut (Cello). Auf sehr bewegende Weise erklang die Melodie des Liedes „Mensch“ von  Herbert Grönemeyer, welche eine junge Polizistin auf der Flöte spielte.
Der Vorsitzende der Bezirksverwaltung, Herr Bodo Klimpel, stellte laut die Frage zum heutigen Deutschland: „Wie würde sich Herr Abrahamsohn fühlen, wenn er die auf den Straßen  deutscher Städte jubelnden Menschenmengen sehen könnte, die den Angriff der Terroristen am 7. Oktober 2023 feiern? Wie würde er auf die sich häufenden Fälle von Angriffen auf  Juden reagieren? Was hätte er über die rechtsextreme Partei gesagt, die es als zweitstärkste Fraktion in den Bundestag geschafft hat?“ Und er unterstrich, dass er sich für diese  Entwicklung der Ereignisse schämt.
Der Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland Abraham  Lehrer nannte den Jubilar einen „unermüdlichen Brückenbauer zwischen den Generationen“. Er sagte, dass er  nicht nur Zeuge der Shoah war, sondern auch eine warnende Stimme vor deren Wiederholung. Herr Lehrer unterstrich, dass dieser Mensch nach dem Krieg aktiv für ein anderes, neues  Deutschland agierte. Ebenso merkte er an, dass es für ihn nicht schwer war, Aufklärungsarbeit vor Jugendlichen zu betreiben. Doch die Auftritte vor Erwachsenen, unter deren sich  Leute mit nationalsozialistischen Anschauungen befinden konnten, kosteten viel moralische und physische Kraft.
Der Vizepräsident führte eine Verbindung zur heutigen Zeit an. Er erinnerte daran, was vor kurzem am Denkmal für die Geiseln vor dem Jüdischen Museum in München geschehen ist. Drei syrische Touristen aus Österreich zettelten dort Unruhen an. Als sich  die Sicherheitskräfte einmischten, zückte einer der Randalierer ein Messer. Und auch wenn es keine Stichwunden gab, ist es unverständlich, warum diese „Touristen“ nicht festgenommen wurden. „Ich bin dankbar, dass Rolf Abrahamsohn diese Ereignisse nicht mehr miterleben musste“, erklang es zum Schluss.

Die Polizeipräsidentin Friederike Zurhausen, die von dem Bezirk im Jahr 2024 mit der Rolf-Abrahamsohn-Medaille geehrt wurde, erinnerte sich sehr herzlich an ihre eigenen zahlreichen Treffen mit diesem ungewöhnlichen Menschen. Daran, dass sie stolz und  geschmeichelt war über seine Einladung im Jahr 2020 ihn zu Hause zu besuchen, zu der Zeremonie, während der er mit dem Verdienstorden des Landes Nordrhein-Westfalen geehrt wurde. „Er war ein Mensch mit einem großartigen Sinn für Humor. Er war ein Vorbild und Inspirationsquelle, er konnte in der persönlichen Unterhaltung Menschen für sich einnehmen und den Gesprächspartner motivieren“, teilte Frau Polizeipräsidentin ihre Erinnerungen. Und sie zitierte die Zeilen aus dem Lied „Mensch“ von Herbert Grönemeyer: „Und der Mensch heißt Mensch, weil er irrt und weil er kämpft, und weil er hofft und liebt, weil er mitfühlt und vergibt“

Wie alle, die aufgetreten sind, merkte Frau Zurhausen an, dass der Jubilar sich die Realitäten der heutigen Zeit nicht hätte vorstellen können, und noch weniger hätte er sie annehmen können. Als roter Faden zog sich durch alle Reden der Gedanke, dass das Werk seines Lebens zu unserem gemeinsamen Werk werden muss. Am Ende des feierlichen Teils des Abends trat André Abrahamsohn auf. Er sagte, dass die Erinnerungen der Redner an seinen Vater ihn sehr bewegt haben. Auch freute ihn die Tatsache, dass  die Menschen Rolf Abrahamsohn nicht vergessen. Der Abend zu Ehren des 100. Geburtstags seines Vaters hätte bestimmt auch dem Jubilar gefallen. Und noch einmal erinnerte er an die Botschaft – das wichtigste Testament seines Vaters an die folgenden  Generationen: „Am wichtigsten ist es, dass die Unmenschlichkeit sich niemals wiederholt!“
Zum Abschluss möchte ich persönlich dem Vorsitzenden der Gemeinde Mark Gutkin danken, den Mitarbeitern der Gemeinde, sowie auch allen Beteiligten für den großartig organisierten und durchgeführten Abend.

Irina Barsukowa, Jüdische Gemeinde Kreis Recklinghausen Foto: Ramiel Tkachenko/J.E.W.

Wohin gehen wir denn?

Der 27. Januar ist der internationale Gedenktag der Opfer des Holocaust. Im November des Jahres 2005 hat ihn die UN Vollversammlung als Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch die russischen Trup pen festgelegt. Für Recklinghausen ist dies auch der Gedenk tag für die 250 jüdischen Bürger der Stadt, die am 21.01.1942 in das Ghetto von Riga deportiert wurden. Sie wurden fast alle getötet. Überlebt haben nur 16 Personen.
Wir haben bereits das dritte Jahr, in dem in der Stadt der „Koffer Marsch“ stattfindet. Menschen mit Koffern und Plakaten mit den Aufschriften „Niemals mehr“ und „we remember“ gehen durch die Straßen des Stadtzentrums, wie die jüdischen Todeskandidaten sie 83 Jahre zuvor entlanggingen. Beendet wird dieser Zug in der Synagoge, wo ein gemein sames Gebet  zum Gedenken gesprochen wird. Leute nehmen an dem Marsch nicht nur teil, um sich an die Vergangenheit zu erinnern, sondern auch, um sich der Gegenwart bewusst zu werden und  über die Zukunft nachzudenken. Nur zusammen können wir alle die Slogans auf den Plakaten verwirklichen. Vertreter verschiedener Konfessionen, sozialer Gruppen und Altersgruppen kommen, um sich gemeinsam gegen das furchtbare Wachstum des Antisemitismus zu wehren, der sich in aller Welt verbreitet. Leider ist er in den letzten
drei Jahren nicht nur nicht weniger geworden, sondern auch noch weitergewachsen. Es ist sehr schwer, sich die Daten statistischer Erhebungen zu dieser Frage anzusehen, die in der  Weltpresse publiziert wer den. Es ist noch schwieriger, zu versuchen, die grausame, ungeheuerliche Ungerechtigkeit zu verstehen, die um uns herum passiert.
Am 24. Januar dieses Jahres haben in Berlin die Anhörungen vor Gericht in der höchsten Instanz begonnen, in der Sache eines Lehrers an einem der Berliner Gymnasien, der nach der  Entscheidung des Gerichts in Berufung.
Einige Tage nach der blutigen Oktober Tragödie in Israel hat ein 14 Jährigen Schüler eine Palästina Flagge auf dem Schulhof des Ernst Abbe Gymnasiums schwenkte. Der 62 Jährigen  Lehrer soll den Schüler ermahnt und versucht haben, ihm die Flagge wegzu nehmen. Ein anderer 15 jähriger Schüler, der in der Nähe stand, hat dem Lehrer laut Polizeiangaben daraufhin einen Kopfstoß gegeben, woraufhin ihn der Lehrer geohrfeigt haben soll. Wie der Lehrer schilderte, wurde Schüler mit ausgestrecktem Bein ihn in den Bauch getreten. „Der Junge ist Kampfsportler“, so der Lehrer. In Videos, die auf Instagram und X kursieren, ist zu sehen, wie der Lehrer den Schüler ohrfeigt und dann von ihm getreten wird und umfällt. Die Anklage warf dem Lehrer vor, dem inzwischen 15 Jährigen mit der flachen Hand ins Gesicht geschlagen zu haben. Der Lehrer sprach im Prozess von  einem reflexartigen Schlag nach einem Angriff des Schülers. Ursprünglich sollte der Lehrer für Sport und Geografie eine Geldstrafe von 3000 Euro zahlen. Gegen einen entsprechenden Strafbefehl des Amtsgerichts Tiergarten hatte er jedoch Einspruch eingelegt.
Die Staatsanwaltschaft sagt, dass dem Geschehen seien Provokationen vorausgegangen. Der Lehrer sei selbst verletzt worden und arbeite seitdem nicht mehr. Zudem sei er der Bedrohung durch Schüler ausgesetzt. Der Lehrer wies den Vorwurf eines ab sichtlichen Schlags vor Gericht zurück.
Der 62 Jährige war wegen Körperverletzung im Amt angeklagt. Er soll eine Geldauflage von 800 Euro zahlen, dann ist der Fall endgültig erledigt. Offenbar sollte der Lehrer sich nicht gegen die Schläge wehren sollen, sondern „Güte und wie man sich nicht gegen das Böse wehrt“ unterrichten.
Es ist sehr symbolisch, dass die Anhörungen am Vortag des Internationalen Gedenktags der Holocaust Opfer begannen. Denn der Lehrer trat praktisch an seinem Ort gegen die Wiederholung einer solchen Tragödie ein.
Es ist erfreulich, dass sich unter den Teilnehmern unseres „Koffer Marsches“ Vertreter von Lehran stalten der Stadt befanden. Sie erzählten von ihrer Teilnahme an Projekten, welche den Opfern der Nazi – Diktatur gewidmet waren, von der Arbeit mit historischen Dokumenten aus dieser Zeit. Wir möchten hoffen, dass dieses Wissen und diese Erfahrung junger Leute dafür sorgen werden, dass die Katastrophe sich nicht wiederholt.
Gerade die Demons trationen von Jugendlichen und Studenten mit palästinensischen Flaggen in den Händen, die um die ganze Welt gingen, haben die HAMAS in ihren Handlungen bestätigt. Jede solcher Aktionen ist die Verunglimpfung der Erinnerung ihrer Opfer. Junge Leute machen sich keine Gedanken darüber, dass sie Terror unterstützen, dass sie unter bestimmten Umständen selbst Opfer von Terror werden können. Es kommt ihnen nicht einmal in den Sinn, nachzuzählen, wie viele von den vielen Terroranschlägen, die in verschiedenen Ländern in den vergangenen Jahrzehnten verübt wurden, durch Juden ausgeführt wurden, die sie lautstark beschuldigen – und wie viele durch die „frommen Krieger Allahs“. Die Auftritte derer, die HAMAS nicht von der  Bevölkerung Palästinas unterscheiden, haben die Qualen der Geiseln der HAMAS verlängert und viele von ihnen umgebracht. Selbst jetzt, wo der Austausch gegen palästinensische Gefangene stattfindet, unter denen eine Mehrzahl von Mördern ist, die  Terroranschläge verübt haben, hat die „progressive Öffentlichkeit“ die „Häftlinge“ der israelischen Gefängnisse zu politischen Gefangenen erklärt.
Sicherlich ist das aktuelle Aufkommen des Antisemitismus auch eine Folge des verlorenen, gut vorbereiteten Informationskrieges gegen unser Volk. Der Antisemitismus wurde mit dem Holocaust nicht ab geschlossen, er schwelte Jahrzehnte lang nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und jetzt droht diese Glut, zu einem weltweiten Flächenbrand zu werden. Man sollte nicht vergessen, dass die Massenvertreibung von Juden in Deutschland dem Beginn des Krieges voranging.
Man darf die Augen vor diesem traurigen Fakt nicht verschließen. Kann denn jeder von uns irgend wie dagegen kämpfen? Ich denke, ja. Für den Anfang kann man wenigstens an Veranstaltungen gegen den Antisemitismus teilnehmen, an jenem „Koffer Marsch“, einen symbolischen Koffer in der Hand tragend. Damit man, G tt bewahre, nicht irgendwann wirklich die Koffer packen muss. Insbesondere weil es dann keinen Ort mehr geben wird, an den man fliehen kann.

Quelle:Irina Barsukowa,Jüdische Gemeinde Kreis Recklinghausen, Foto: Alexander Libkin

Eine Reise in die Niederlande

Am 26. Januar hat die jüdische Gemeinde der Stadt Recklinghausen eine Familienreise nach Holland angeboten und organisiert, deren Ziel der Besuch der Eisskulpturen-Ausstellung war. Da das Anschauen der Eiskompositionen nicht mehr als eine Stunde  dauern würde, hatte man vorgeschlagen, auch eine der Städte Hollands – Deventer – zu besuchen.

Alle Teilnehmer, die Erwachsenen und die Kinder trafen sich am Bahnhof und warteten auf den Bus. Das war bereits der Beginn eines angenehmen Zeitvertreibs. All die bekannten Gesichter, das Lächeln, die freudigen Rufe, einander zu grüßen, waren laut und  fröhlich. Sofort entwickelten sich Gespräche zu den unterschiedlichsten Themen und es gab eine Menge Fragen. Und nun kam endlich der Bus an. Die Leute setzten sich auf ihre Plätze und es ging los …
Einer der Organisatoren dieser Reise informierte uns über einige Punkte, die den Besuch der Ausstellung betrafen. Ich möchte anmerken, dass alle Reisen, von denen es in unserer Gemeinde reichlich gab, immer aufmerksam und gründlich durchdacht und  organisiert sind. Und das Wichtigste ist die warme, ruhige, freundschaftliche Atmosphäre, die sowohl während der Busfahrt als auch während der Exkursionen herrschte.
Wir kamen eineinhalb Stunden später bei der Ausstellung der Eisskulpturen an. Die Schlange bewegte sich ruhig, regelmäßig, die Tür öffnete sich und … wir sahen vor uns eine erstaunliche, nie gesehene Schönheit. Vor uns entfaltete sich eine zauberhafte Eis-Welt. Was haben wir bei der Ausstellung nicht alles gesehen?! Märchenfiguren, Vertreter von Flora und Fauna, ganze Szenen aus Werken, die aus Schnee und Eis vollbracht worden waren. Und die großartige Beleuchtung,
die bei der Wahrnehmung dieses Wunders eine nicht unbedeutende Rolle spielt, eine verzaubernde Musik, die uns begleitete – es war ein wahrhaftes Märchen!
Man nimmt es wahr wie etwas Unreales. Man kann es sich nicht vorstellen, dass es möglich ist, mit menschlichen Händen aus einem solchen Material, all das zu erschaffen und zum  Leben zu erwecken. Jedes Element der Komposition, sei es eine kleine Feder, eine Schuppe, ein Blütenblatt, scheint echt zu sein. Jede Figur ist ein filigranes Meisterwerk, das es würdig  ist, es sich genauer anzuschauen und ihm die Aufmerksamkeit zu widmen. Wir waren wirklich in einem Eis-Märchen, das uns eine Menge von Emotionen und Eindrücken geschenkt hat. Wir tauchten in die Welt der Kindheit ein, wurden zu Kindern, die bei  jedem Schritt wegen dieser Großartigkeit „oooh“ und „aaah“ machten. Wir haben einen unvergesslichen Eindruck von der Ausstellung bekommen.
Der nächste Punkt unserer Reise war die Stadt Deventer, die etwa 50 Minuten Fahrtzeit von der Ausstellung entfernt ist. Im Raum mit den Eisfiguren war es ziemlich kalt, 4 Grad. Für uns, die wir echten Frost nicht mehr gewohnt sind, ist das stressig. Alle waren leicht erfroren und aßen mit Vergnügen einen Happen im warmen Bus und ruhten sich aus. Und eine Stunde später kamen wir in der Stadt Deventer an, die am Fluss IJssel liegt, eine ehemalige Hansestadt. Es ist ein gemütliches altes Städtchen, eine der fünf ältesten Städte der Niederlande. Während des Zweiten Weltkrieges hat die Stadt sehr unter den Bombardements gelitten, zum Teil, weil die Kommunikationswege über der IJssel zerstört worden waren. Auch das historische Stadtzentrum hat gelitten, blieb aber  zum Glück trotzdem reich an Atmosphäre. Die Kirche von Lebuin in Deventer ist sehr schön.
Jedes Jahr seit über 30 Jahren findet in der Stadt das Dickens-Festival statt. Über 950 Figuren der berühmten Bücher des englischen Autors werden lebendig. Jedes Jahr kommen über 100.000 Besucher zum Festival in den engen Straßen von Bergkwartier. Das Dickens-Festival ist zu einem Ereignis geworden, das national und international berühmt ist, und hat geholfen, Deventer auf der Karte als Ort der Ereignisse zu platzieren. De Brink ist der größte und schönste Platz, auf dem wir ebenfalls spazieren gegangen  sind. Sogar in dieser Jahreszeit herrscht hier eine gemütliche Atmosphäre. Eine Menge kleiner Cafés und Restaurants macht Lust darauf, sie zu besuchen, doch leider hatten wir nicht genug Zeit. Man wollte noch etwas sehen und spazieren gehen.
In dieser kleinen Stadt gibt es auch eine Synagoge – eine kleine, doch sehr schön und gemütlich. Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass es sich lohnt, dieses wunderschöne Städtchen noch einmal zu besuchen. Im Großen und Ganzen ist die Reise in die Niederlande gelungen. Wir sind in eine Welt des Wunderschönen eingetaucht. Nach solchen Veranstaltungen tankt man für einige Zeit positive Energie. Wir sind unserer Gemeinde und den Organisatoren der Reise dankbar. Wir sind bereit, auch weiterhin zu  reisen und bisher ungesehene Orte und Ausstellungen zu besuchen. Macht Vorschläge, wir sind bereit!!!

Helena Blayvas, Foto: Archiv Jüdische Gemeinde Kreis Recklinghausen