1927, 17. Oktober: Karteikarte des Einwohnermeldeamtes Recklinghausen für den aus Hüls (Landgemeinde Recklinghausen) zugezogenen Moses (Max) Schaffer, geboren am 16. Juli 1893 in Porohy (Rajon Bohorodtschany, östliches Galizien, ehem. Österreich-Ungarn)
Quelle: Stadt- und Vestisches Archiv Recklinghausen, Bestand Altregistratur Einwohnermeldeamt, Verfasser: Dr. Matthias Kordes, Leiter des Stadt- und Vestischen Archivs Recklinghausen.
Ursprünglich hatte der 1893 geborene Moses Schaffer (Moshe Szaffer) die österreichische Staatsangehörigkeit, da das 1772 konstituierte sog. Kronland Galizien-Lodomerien zum cisleithanischen Reichsteil des Kaiser- und Königreiches Österreich-Ungarn gehörte; 1918, bei Neugründung des polnischen Staates, erwarb Moses Schaffer von Amts wegen die polnische Staatsbürgerschaft, die bei seinem Umzug nach Recklinghausen 1927 auch vom Einwohnermeldeamt Recklinghausen so dokumentiert wurde.
Sein Heimatort Porohy war ein kleines ostgalizisches Dorf am nördlichen Rand der Karpaten (heute in der westukrainischen Oblast Iwano-Frankiwsk, vormals Stanislawów, gelegen). Schaffer gründete mit der 1919 erfolgten Eheschließung mit Hudes genannt Hella geb. Odze-Tuch eine Familie, und zwar im 175 km entfernten Drohobycz, einer boomenden Mittelstadt von ca. 27.000 Einwohnern, die ab 1850 Verwaltungssitz der gleichnamigen österreichischen Bezirkshauptmannschaft und ab 1919 Kreisstadt in der neu eingerichteten polnischen Wojewodschaft Lwow (Lemberg; ukrainisch: Lwiw) war. Beginnend mit ca. 1850 war in Drohobytsch und Boryslaw eine schnell wachsende, moderne und für Österreich-Ungarn wirtschaftlich und strategisch bedeutende Petroleum- und Erdöl-Industrie entstanden (Jahresförderung 1910: 2,1 Millionen Tonnen), in der auch zahlreiche Juden Beschäftigung fanden, sei es als Unternehmer, als Kaufleute oder auch als Öl-Arbeiter an den Bohrtürmen.
Vor dem Ersten Weltkrieg machten die Juden mit ca. 10.000 Personen fast die Hälfte der Bevölkerung von Drohobytsch aus. Die Jüdische Gemeinde, die im späten 19. Jahrhundert durch Engagement in der Erdöl-Industrie zu Wohlstand gekommen und stark angewachsen war, unterhielt dort ein eigens Krankenhaus, ein Waisenhaus und eine große Synagoge. Im Ersten Weltkrieg wurde die Stadt jedoch in erheblichem Maße zerstört, in den Wirren des polnisch-sowjetischen Krieges verarmte sie nach 1919 weiter.
In Drohobytsch wurden in der Familie Schaffer von 1920 bis 1923 drei Kinder geboren: Cila (*17. Januar 1920), Salka (*18. Januar 1921) und Emanuel (*11. Februar 1923). Moses genannt Max Schaffer, der ebenfalls in der Erdöl-Branche tätig war, wanderte um 1926 ins nördliche Ruhrgebiet aus. Seine zeittypische Migrationsbiografie stimmt überein mit derjenigen zahlreicher anderer Juden aus Galizien, die nach dem Ersten Weltkrieg aus wirtschaftlichen Gründen und/oder wegen antisemitischer Erfahrungen ins deutschsprachige Mitteleuropa zogen. Zunächst wohnte Moses Schaffer in Hüls (heute ein Stadtteil Marls), ab Herbst 1927 dann in Recklinghausen, zunächst allein zur Untermiete auf dem Börster Weg bzw. auf dem Oerweg. Um 1928 ist ihm seine Familie nach Recklinghausen gefolgt, 1929 ist sie in einer Mietwohnung auf der Paulusstraße 26 nachgewiesen, wo Moses Schaffer als Handelsvertreter der Fa. Julius (Juda) Menschenfreund, der ebenfalls aus dem Porohy stammte, tätig war. Im August 1929 wurde in Recklinghausen noch eine dritte Tochter geboren: Rosa Schaffer.
Die Familie Schaffer verließ aus politischen Gründen schon im April 1933 Recklinghausen und ging nach Metz (Frankreich), später nach Saarbrücken, Mitte der 1930er-Jahre schließlich gemeinsam wieder zurück in ostpolnisch-galizische Drohobytsch, das ab Oktober 1939 unter sowjetische Besatzungsherschaft kam. Diese Entscheidung hatte ab Herbst 1941 katastrophale Folgen, da die Familie bald darauf ins Ghetto Stanislawów deportiert und später, ca. 1943, in einem der NS-Vernichtungslager ermordet wurde – bis auf einen: Emanuel Schaffer, dem es durch eine außergewöhnliche Flucht- und Migrationsbiografie gelang, den Holocaust zu überleben und über verschiedene Zwischenaufenthalte 1950 nach Israel auszuwandern. Dort begann er in den 1960er-Jahren eine professionelle Fußballer-Karriere, die ihn schließlich zum berühmtesten Fußballtrainer des Landes machte. Emanuel Schaffer, der in seinen späteren Jahren privat und offiziell mehrmals Recklinghausen besuchte, starb am 30. Dezember 2012 in Ramat haScharon, Israel.
Weiterführende Literatur und Links:
Lorenz Peiffer / Moshe Zimmerman: Emanuel Schaffer. Zwischen Fußball und Geschichtspolitik. Eine jüdische Trainerkarriere, Bielefeld 2021.