Der Jüdische Friedhof am Nordcharweg in Recklinghausen
Quelle: Stadt- und Vestisches Archiv Recklinghausen, Verfasser: Dr. Matthias Kordes, Leiter des Stadt- und Vestischen Archivs Recklinghausen.
Anfang 1816 genehmigte die Stadt Recklinghausen den Zuzug erster jüdischer Familien aus dem Umland; es waren diejenigen der Metzgermeister Jonas Cosmann und Joseph May, denen bald danach Aaron Marcus und Samuel Bendix sowie die Kaufleute Levi und Moses Klein folgten. 1823 kaufte Samuel Bendix als Vorsteher der jüdischen Gemeinde von der Stadt ein 577 qm großes Grundstück am Börster Weg zwecks Anlage eines Jüdischen Friedhofes. Anlass dafür war die schwere Erkrankung des Jonas Cosmann (1765–1823), der drei Tage nach Abschluss des Kaufvertrages starb und als erster dort begraben wurde. Damals lag dieser Friedhof nördlich des alten Siedlungsgebietes der Stadt Recklinghausen, die immer noch von ihren spätmittelalterlichen Mauern umgeben war. Bestandteil des Kaufvertrages war auf Drängen der Bezirksregierung in Münster auch das Recht auf Rückkauf und Rückfall des Geländes zugunsten der Stadt Recklinghausen.
Nach achtzig Jahren war dieser Friedhof, ehemals auf freiem Feld gelegen, vollständig belegt und zudem von immer mehr Wohnhäusern der ab 1900 auch nach Norden expandierenden Stadt umgeben. So musste sich die Synagogengemeinde, die ebenfalls stark angewachsen war, zur Anlage eines neuen, größeren Friedhofes entschließen, und zwar wiederum außerhalb des bebauten Stadtgebietes. Nach Verhandlungen mit dem Magistrat und der Königlichen Regierung in Münster wurde im Frühjahr 1904 ein – unweit der preußischen Landstraße von Recklinghausen nach Haltern gelegenes – Gelände an der Grenze zur Bauerschaft Speckhorn förmlich genehmigt und für geeignet befunden, das in der Größe von rd. 2000 qm von einem ortsansässigen Landwirt angekauft und 1926 durch Zukauf von 5100 qm erheblich erweitert wurde. Auch ein Bodengutachten wurde dafür angefertigt. Die Jüdische Gemeinde nahm für dieses Grundstücksgeschäft einen Kredit auf.
Der neue Friedhof am Nordcharweg wurde in kurzer Zeit hergerichtet und am 7. September 1905 durch Rabbiner Dr. Moses Marx (1876–1924) seiner Bestimmung übergeben. Ein Jahr nach Eröffnung der Recklinghäuser Synagoge an der Limperstraße hatte die Jüdische Gemeinde nun einen zeitgemäßen, mit ausreichend Platz versehenen neuen Begräbnisplatz. Er wurde von Juni 1906 bis August 1941 zur Bestattung jüdischer Gemeindemitglieder aus Recklinghausen und den Nachbarorten genutzt. Bald nach dem Ersten Weltkrieg errichtete die Synagogengemeinde dort auch ein Kriegerdenkmal für 15 gefallene Soldaten aus ihren Reihen. Drei Jahre nach Kriegsende wurde das Monument am 13. November 1921 durch den Bezirksrabbiner Dr. Josef Weiß feierlich eingeweiht, die Inschrift lautet: „Zur Erinnerung an die 1914-1918 fürs Vaterland gefallenen Gemeindemitglieder.“ Das Mahnmal, das bis heute mit Davidstern und Eisernem Kreuz patriotisch-symbolträchtig geschmückt ist, war das erste öffentliche Objekt, das in Recklinghausen an Gefallene des Großen Krieges erinnert.
Der alte Friedhof am Börster Weg, der im Dezember 1904 sein letztes Begräbnis erlebte, blieb zunächst unverändert bestehen und wurde 1928 von Kaufmann Otto Cosmann, dem Nachfahren des Metzgers Jonas Cosmann, ein letztes Mal instandgesetzt. Doch Anfang der 1930er-Jahre, als bereits erste gewalttätige Übergriffe örtlicher Antisemiten zu beobachten waren, wurden 19 verbliebene Grabsteine nebst noch erhaltenen Gebeinen auf den südwestlichen Teil des neuen Friedhofes überführt, wo sie bis heute zu finden sind. Im Jahre 1937 wurde schließlich das Grundstück des alten Friedhofs von der nationalsozialistischen Stadtverwaltung eingezogen und in einen Spielplatz umgewandelt.
Während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft wurde der Jüdische Friedhof am Nordcharweg mehrmals geschändet und nach der Pogromnacht im November 1938 weitgehend verwüstet. Nicht wenige Grabsteine wurden umgestoßen oder in Stücke geschlagen. Spuren davon sieht man noch heute an vielen Grabmälern, deren Inschriften zerstört sind. Das Denkmal für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs überdauerte die NS-Jahre indes unbeschädigt.
107 Begräbnisse hatte es bis Ende 1941 am Nordcharweg gegeben, 80 hebräische Grabinschriften sind bis zu diesem Jahr dokumentiert. Nach dem Zweiten Weltkrieg stellte die kleine Gemeinde heimgekehrter Überlebender ihren Friedhof wieder her. Viele Grabsteine wurden durch die Angehörigen – vielfach von solchen, die nach 1945 ins Ausland emigriert waren – restauriert und wiederaufgerichtet. So wird der Jüdische Friedhof am Nordcharweg seit Juli 1952 wieder regelmäßig für Bestattungen genutzt. Rechts vom Eingang steht das Grabmal des Mannes, dem diese Leistung zu verdanken ist, des Gemeindevorstehers Ludwig de Vries, der 1958 hier begraben wurde. Als Holocaust-Überlebender zurückgekehrt, hatte er mit seiner Ehefrau, Martha geb. Markus, und seiner Mitarbeiterin und Nachfolgerin in der Gemeindeleitung, Minna Aron, die neue Synagogengemeinde aus kleinen Anfängen wiederaufgebaut. Aus Mitteln seines Privatvermögens errichtete er 1948 das Ehrenmal für die 215 aus Recklinghausen stammenden Mordopfer des Holocaust, an dem die Jüdische Kultusgemeinde jedes Jahr am ersten Novembersonntag ein feierliches Totengedenken abhält.