1874

1874, 15. Dezember: Erste standesamtliche Beurkundung der Geburt eines jüdischen Kindes in Recklinghausen

Quelle: Stadt.- und Vestisches Archiv Recklinghausen: Bestand Standesamt, Geburts-Hauptregister, Jahrgang 1874, Verfasser: Dr. Matthias Kordes, Leiter des Stadt- und Vestischen Archivs Recklinghausen.

Nr. 46

Stadt Recklinghausen am 15. December 1874

Vor dem unterzeichneten Standesbeamten erschien heute, der Person nach bekannt der Metzger Bendix Bendix, wohnhaft zu hierselbst breite Straße No. 39, jüdischer Religion, und zeigte an, daß von der Ehefrau Kaufmanns David Cosmann Dina geborene Löwenstein jüdischer Religion wohnhaft hierselbst Markt No. 11 zu hierselbst in ihrer Wohnung No. 11 am dreizehnten ten December des Jahres tausend acht hundert siebenzig und vier Vormittags um fünfeinhalb Uhr ein Kind weiblichen Geschlechts geboren worden sei, welches den Namen Dina erhalten habe.

Vorgelesen genehmigt und unterschrieben

[Unterschrift] B[endix] Bendix

Der Standesbeamte

[Unterschrift] Hagemann

 

Das Preußische „Gesetz über die Beurkundung des Personenstandes und die Form der Eheschließung“ vom 9. März 1874 ordnete an, dass ab 1. Oktober desselben Jahres in ganz Preußen Standesamtsregister eingeführt werden, so natürlich auch in Recklinghausen: Das Gesetz schrieb vor, dass sämtliche Geburten, Heiraten und Todesfälle ausschließlich durch die vom Staat bestellten Standesbeamten beurkundet werden dürfen, und zwar „mittels Eintragung in die dazu bestimmten Register“. Das galt für alle Einwohner Preußens gleichermaßen, ein Unterschied zwischen Angehörigen verschiedener Religionen, Konfessionen oder Volkszugehörigkeiten wurde dabei nicht gemacht. Die Feststellung der Religionszughörigkeit erhielt – zunächst nur bis 1919 – eine kurze Erwähnung, bei den Juden hieß es entweder „jüdisch“ oder „mosaisch“.

Die einzelnen personenbezogenen Niederschriften erfolgten handschriftlich auf ein vorgedrucktes Formularblatt, das spätestens am Ende eines Jahrganges zusammen mit übrigen Eintragungen zu einem Registerband zusammengebunden wurde. Einen speziell dafür eingesetzten Standesbeamten gab es für diesen unverzichtbaren Rechts- und Verwaltungsvorgang, der 1875 gesetzlich auch für das gesamte Deutsche Reich vorgeschrieben wurde, noch nicht, die behördliche Beurkundung

und Registrierung wurde vielmehr durch den amtierenden Bürgermeister selbst, hier: von Friedrich Hagemann (Amtszeit 1853–1890), vollzogen.

Das älteste Recklinghäuser Geburtenregister von 1874 umfasst von Anfang Oktober bis Ende Dezember 57 Einträge – Recklinghausen hatte damals nur etwa 5.700 Einwohner. Unter der laufenden Nummer 46 wird für Sonntag, den 13. Dezember 1874 die Geburt der Dina Cosmann verzeichnet, womit erstmals die Geburt einer Person jüdischen Glaubens in Recklinghausen nach den für das Königreich Preußen neu geltenden standesamtlichen Regelungen erfasst worden ist.

Die Tatsache, dass nicht David Cosmann junior, der Vater des neugeborenen Kindes, im Rathaus diese Geburt mündlich bekannt gab und die entsprechende Beurkundung vornehmen ließ, sondern der jüdische Metzger Benedikt Bendix Bendix, Breite Straße, Haus Nr. 39, hat vermutlich mit einem tragischen Ereignis zu tun: Die 29 Jahre alte Mutter des neugeborenen Kindes, Dina Cosmann geb. Löwenstein (geboren am 1. Juni 1845 in Werl, Tochter des Kaufmanns Levy Löwenstein und der Jeanette Kohlberg), die am 21. Juni 1872 David Cosmann jun. geheiratet hatte, überlebte die Geburt ihres Kindes nur um wenige Stunden. Im – ebenfalls im Oktober 1874 angelegten – ältesten Sterberegister des Standesamtes Recklinghausen findet sich daher zum selben Tagesdatum unter der laufenden Nummer 51 ein entsprechender Todesfall-Eintrag.

 

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