1847, Juli 23 – Das Preußisches Gesetz über die Verhältnisse der Juden schreibt die Gründung von Synagogengemeinden vor
Quelle: Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten 1847, No. 30, S. 263-278. (Abb. aus dem Exemplar des Stadt- und Vestischen Archivs Recklinghausen, Signatur: J 90 (St.A.)), Verfasser: Dr. Matthias Kordes, Leiter des Stadt- und Vestischen Archivs Recklinghausen.
Das umfangreiche Gesetz, das 73 Paragraphen einschließlich einiger Sonderregelungen für die Provinz Posen enthält, löst das Königliche Judenedikt von 1812 ab (siehe dort), mit dem die rechtliche Emanzipation der Juden on Preußen begann. Im Ersten Abschnitt regelt es detailreich das bürgerliche und wirtschaftliche Leben der preußischen Juden. Gewährt wird die Zulassung und Zugänglichkeit zu den meisten akademischen Studiengängen und Berufen – eine wichtige Ausnahme bilden nur die juristischen Berufe – und die Gewerbe- und Niederlassungsfreiheit. Erneut wird den Juden eingeschärft, erbliche Familiennamen zu tragen; hinzu kommt die Anweisung, Geschäfts- und Verwaltungsschriftgut nur mehr in deutscher Sprache und in lateinischer Schrift zu verfassen – Zuwiderhandlungen sollen mit der einer Geldstrafe geahndet werden.
Neu und wegweisend für das Rechtsleben, den Rechtsalltag und das Zusammenleben von Juden und Christen in Preußen ist die Bestimmung, nach welcher jüdische Zeugenaussagen und Zeugenbeweise in ihrer Glaubwürdigkeit allen anderen Beweismitteln gleichgestellt werden sollen. Preußische Gerichten obliegt die neue Aufgabe, Zivilstandsregister für die jüdische Bevölkerung einrichten, in denen Geburten, Eheschließungen und Todesfälle dokumentiert werden – eine Errungenschaft moderner Lokalverwaltung, die erst 1874/75 auf die gesamte deutsche Bevölkerung ausdehnt wird.
Ein wichtiger Zweiter Abschnitt widmet sich den „Kultus- und Unterrichtsgelegenheiten der Juden“, damit den Grundlagen, Bedingungen und Ausformungen innerjüdischer Gemeindeverfassung. Dieses Organisationstatut sieht verpflichtend vor, dass die Juden nach Maßgabe der Orts- und Bevölkerungsverhältnisse und mit Genehmigung der Bezirksregierungen lokale oder regionale Synagogengemeinden („Judenschaften“) gründen und jeder Jude/jede Jüdin in Preußen einer solchen Gemeinde angehören soll. Diese Synagogengemeinden erhalten in Bezug auf ihr Budgetrecht und ihre Vermögensverhältnisse die Rechtsqualität juristischer Personen, werden in diesem Punkt den Kirchen gleichgestellt. Grundstücksgeschäfte und Aufnahme von Krediten obliegen der Genehmigung durch die preußische Landesverwaltung.
Das Gesetz regelt auch die zahlenmäßige Zusammensetzung der Gemeindevertretung (bestehend aus einem ehrenamtlichen Vorstand und maximal 21 Repräsentanten, die die Synagogengemeinde gegenüber der nicht-jüdischen Öffentlichkeit, vor allem gegenüber staatlichen bzw. kommunalen Stellen verkörpern), die Wahl der Funktionsträger und die Funktionsweise ihrer Organe. Die Synagogengemeinden konnten sich eigene Statuten geben, welche vom Oberpräsidenten der preußischen Provinzen zu genehmigen waren. Die Königliche Bezirksregierung (für Recklinghausen: der Regierungspräsident in Münster) führt Aufsicht über die einzelnen Synagogengemeinden und hat die Befugnis einzugreifen, sofern einzelne Bestimmungen des Gesetzes oder die Vorgaben für die Organe und Amtsinhaber nicht beachtet werden.
Das Gesetz sieht ferner vor, dass jüdische Kinder ausnahmslos allgemeiner preußischer Schulpflicht unterliegen und in die örtlichen Elementarschulen einzuschulen sind, die Ausübung jüdischen Religionsunterrichtes jedoch in der Verantwortlichkeit der Synagogengemeinden liegt. Überdies räumt das Gesetz die Möglichkeit ein, unter Aufsicht der preußischen Provinzialschulverwaltung rein jüdische Elementarschulen einzurichten, in denen ausschließlich in deutscher Sprache zu unterrichten sei.
Dieses Gesetz, insbesondere die Bestimmungen des Zweiten Teils, blieb bis ins 20. Jahrhundert Grundlage für die äußere Verfassung der Synagogengemeinde Recklinghausen. Das Jahr 1847 markiert auch die Phase beschleunigter Modernisierung, Assimilierung, Integration und Emanzipation des preußischen Judentums und eine zeitweilige Zurückdrängung antisemitischer Tendenzen, die von der Jahrhundertmitte bis in Bismarckzeit reicht. Im Gefolge dieses Gesetzes wird 1853 die Synagogengemeinde Recklinghausen gegründet. Zu ihr gehörten auch die Juden in Datteln, Ahsen, Waltrop, Flaesheim, Henrichenburg, Herten und Horneburg. Alle rechtlichen und geschäftlichen Kontakte der Synagogengemeinde Recklinghausen mit kommunalen oder regionalen Verwaltungsinstanzen vollzogen sich bis zu Beginn der NS-Zeit auf Grundlage des Gesetzes von 1847.
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