1614

Bonn, 14. Februar 1614: „Des Ertzstiffts Cölln Jüden-Ordtnung“

Quelle: Stadt- und Vestisches Archiv Recklinghausen, Verfasser: Dr. Matthias Kordes, Leiter des Stadt- und Vestischen Archivs Recklinghausen.

Wie viele weltliche und geistliche deutsche Territorialfürsten seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts erließ auch der Kölner Erzbischof Ferdinand von Bayern (Pontifikat: 1612–1650), der dem katholischen Haus Wittelsbach entstammte, für seinen  Herrschafts- und Verwaltungsbereich links des Rheins und für das Vest Recklinghausen eine sog. Juden-Ordnung. Diese in Bonn verkündete Verordnung unterwarf den Aufenthalt, die Bewegungsfreiheit, das öffentliche Auftreten, das Wohnen, Leben,  Wirtschaften und Arbeiten von Juden und Jüdinnen in den kurkölnischen Territorien einem restriktiven Regelwerk.
Die Verordnung von 1614, welche zwei ältere Gesetzestexte von 1592 und 1599 ersetzt und inhaltlich deutlich erweitert, ist in einer in Köln 1772 erschienenen kurkölnischen Gesetzessammlung überliefert. Sie beginnt mit der Wiedergabe eines in lateinischer  Sprache formulierten Ediktes des byzantinischen Kaisers Leos I. (457–474), in welchem die Zinsnahme („usura“) von Gläubigern und Geldverleihern unter gewissen Umständen und bis zu einer bestimmten Höhe für zulässig erklärt wird. Eine sich daran  anschließende, ebenfalls lateinische Textpassage fasst mit diversen Literaturangaben die auf jüdische Geld- und Zinsgeschäfte bezogene Lehre des kanonischen Rechts knapp zusammen, woraus ersichtlich wird, dass sich der Kölner Erzbischof auf eine  langlebige römisch-kirchliche Rechts- und Gesetzestradition berufen will.
Zwei große Kapitel gliedern das Dokument; zentraler Bestandteil der Verordnung von 1614 sind im ersten Teil zunächst Bestimmungen über das „ius tolerandi etconducendi Judaeos“, also über das Recht, Juden in das eigene Territorium einreisen zu lassen und  aus ihrem Zuzug, ihrer Duldung resp. ihrem begrenzten Bleiberecht finanziellen und fiskalischen Nutzen zu ziehen (aber ebenso, sie gegebenenfalls wieder aus dem betreffenden Territorium zu verweisen).
Auf dieser Grundlage wird 1614 geregelt, dass sich die Juden in den erzstiftischen Landen bei jeder „Orths-Obrigkeit anmelden“ sollen, und zwar mit individuellen Angaben über ihre Niederlassung, ihr Vermögen, ihren Handel und Wandel und bei bestimmten  Zollstätten gegen Gebühr registrieren lassen müssen, um nicht Gefahr zu laufen, ihr vom Landesfürsten in limitierter Anzahl verbrieftes Aufenthaltsrecht, d.h. ihre „häußliche wohnung“ und ihr beschränktes Recht auf persönliche Mobilität plötzlich zu verlieren:  „Judengeleit“ (1614: „Glaidt der Juden“) hieß eine willkommene Einnahmequelle bzw. Zwangsabgabe, die zu Lasten reisenden Juden erhoben wurde, deren Einziehung zu den Hoheitsrechten des Landesherrn oder der unter einer Landesherrschaft  stehenden Stadt gehörte.
Das zweite Kapitel erlaubt den Juden in erster Linie Handwerk („handtierung“) und Geschäfte mit Gold- und Silberwerk sowie den Pferdehandel; weitere Bestimmungen beschäftigen sich damit, dass ihnen das Geldwechslergeschäft generell verboten ist, so dass sie nicht werthaltige, gute Münzsorten gegen andere, an „schroth und korn“ geringere Sorten eintauschen und „vermüntzen“ können. Bei hohen kirchlichen Feiertagen, in der Karwoche und bei kirchlichen Prozessionen sollen sich die Juden, die sich generell  „friedferig, still und unärgerlich“ zu verhalten haben, in ihre Wohnungen zurückziehen, ihre „Häuser und Läden verschließen“ und sich „auff der Straßen nicht finden lassen“. Eine Ausnahme wird nur in echten Notfällen („hohe Notdurfft“) und auch nur dann gemacht, wenn Pessah- und Osterfest kalendarisch zusammenfallen. Gemeinsames Wohnen mit Christen „unter einem Tach“ ist prinzipiell untersagt, ebenso eine Wohnstätte in unmittelbarere Nähe von Kirchen. Auf Jahr- und Wochenmärkten dürfen Juden  keinen Handel mit Vieh treiben, zu keinem christlichen Händler in Konkurrenz treten und nur für den Eigenbedarf schlachten.
Auch von Zinsgeschäften, die Juden unter der Voraussetzung, dass sie ihre Geschäftsbücher und Schuldverschreibungen (Obligationen) in deutscher Sprache und in lateinischer Schrift verfassen, erlaubt sein sollen, ist präzise die Rede: „Monatlich nicht uber  einen von hundert“ – also jährlich nicht mehr als zwölf – Prozent Zinsen durften für Kreditgeschäfte regulär erhoben werden. Das galt nicht mehr nur für pfandgesicherte, sondern auch für dinglich ungesicherte Darlehen. Untersagt war es jedoch, dass es ein Jude seine (Geld-) Forderung gegen einen Christen an einen anderen Christen abtritt.
Diese und weitere Bestimmungen der „Jüden-Ordtnung“, die 1700 von einer „Erneuerte Juden-Ordnung“ des Kölner Erzbischofs Joseph Clemens von Bayern (1688–1723) abgelöst wurde, entzogen den Juden, die im späten 16. Jahrhundert in Recklinghausen  vor allem eine Gemeinschaft um die seit Ende des 16. Jahrhundert nachweisbare Familie Heyman bildeten, nach 1614 die Grundlage für ein wirtschaftlich und rechtlich abgesichertes Leben im Vest Recklinghausen. Im späteren 17. und 18. Jahrhundert war  aher das kurkölnische Territorium zwischen Emscher und Lippe, auch ohne dass es zu gezielten und gewaltsam organisierten Vertreibungen kam, von Jüdinnen und Juden nicht mehr bewohnt.
Durchgreifende rechtliche Änderungen und ein nachhaltiger Neubeginn des jüdischen Lebens in der Region Recklinghausen erfolgten erst ab 1808 (siehe dort).

 

Quellen und Literatur: