2024

Koffermarsch

Gegen Antisemitismus und Extremismus

Der 27. Januar gilt als internationaler Holocaust-Gedenktag. Es ist jener Tag, an welchem das von den Nazis errichtete Konzentra-tionslager Auschwitz von sowjetischen Truppen befreit wurde.

UN-Generalsekretär Kofi Annan nannte dieses Datum „eine wichtige Mahnung an die univer-selle Lektion des Holocaust – ein solcher Horror darf nie wieder zugelassen werden. Es obliegt uns als Nachfolgegene-ration die Erinnerung wie eine Fackel wachzuhalten und unser eigenes Leben in ihrem Licht zu führen.“

„Die Erinnerung ist das einzige Mittel, welches die Menschen dazu bringt, über ihre Zukunft nach-zudenken“. Ich weiß nicht mehr, wo ich das gelesen habe und ich weiß auch nicht, welcher Autor diese Worte niedergeschrieben hat. Es war aber genau dieser Satz, der mir in den Sinn kam, als ich, wie viele andere, am 26. Januar dieses Jahres an dem Gedenk-marsch teilnahm. Der internationale Holocaust-Gedenktag hat für die Einwohner unserer Stadt und für die Mitglieder der jüdischen Gemeinde eine besondere Bedeutung. Just an diesem Tag im Jahre 1942 wurden 250 Juden in das Rigaer Ghetto deportiert. Nur 16 von ihnen über-lebten. Bereits zum zweiten Mal wird dieser Marsch auf Initiative von Vertretern der evangelischen und katholischen Konfessionen in der Stadt organisiert. In diesem Jahr wurde dieser Streifzug auf Anregung des dortigen Bürgermeisters Christoph Tesche in einem erweiterten Format durchgeführt. Neben Superintendentin Saskia Karpenstein und Propst Karl Kemper, nahm auch Herr Erginç Ergün stellvertretend für die muslimische

Glaubensgemeinschaft an der Veranstaltung teil. Auf den Stufen des Rathauses stehend erklärte Bürgermeister Tesche, dass der Marsch dazu diene, das Gedenken an die Opfer zu bewahren und das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte, noch einmal in Erinnerung zu rufen. Er zeigte sich auch besorgt über die aktuellen Geschehnisse im Land und zitierte Armin Laschet, der noch im Jahr 2018 sagte: „Die Juden haben die Koffer noch nicht gepackt, aber sie haben sie schon mal vom Dachboden geholt.“

Etwa 600 Menschen versammelten sich auf dem Platz vor dem Rathaus, um „Nein“ zu Antisemitismus und Extremismus zu sagen. Menschen trugen Koffer und präsentierten Schilder mit der Aufschrift „We remember“ und zogen schließlich durch die Straßen der Innenstadt hin zur Synagoge. Dort im Gebetssaal, wo die Namen von zweihundertfünfzig seinerzeit deportierten Gemeindemitgliedern auf den Säulen eingraviert wurden, fand ein gemeinsames interreligiöses Gebet statt.

Vor dem Gebet richtete der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde, Herr Mark Gutkin, ein Wort an die Zuhörer. Er dankte den Vertretern der christlichen Kirchen für die Initiative, die Aktion „We remember“ in einem solchen Format durchführen zu können und verband damit die Hoffnung, dass diese Veranstaltung ein weiterer wichtiger Schritt bei der Entwicklung des historischen Gedenkens sein wird – für Vergangenheitsbewältigung und für die Zukunft gleichermaßen. Angeregt wurde auch, einen Gedenkkomplex „Memory Station“ als Erinnerung an die Deportation jüdischer Mitbürger im Bereich des ehemaligen Konzentrationslagers aufzustellen. Dazu Gutkin: „Wir hoffen, dass dieses Projekt so bald wie möglich verwirklicht wird. Zumal all diese Aktivitäten gerade jetzt, in einer schwierigen Zeit für die jüdische Gemeinschaft, sehr wichtig sind.“ Gleichzeitig zitierte er Innenministerin Nancy Faeser mit folgenden Worten: „Seit Gründung der Bundesrepublik stand das jüdische

Leben in unserem Land keiner so großen Bedrohung gegenüber, wie jetzt.“ Alle in Deutschland lebenden jüdischen Menschen sind dementsprechend besorgt ob einer unheilvollen Zukunft. Etwas optimistischer klangen da schon die Worte von Kantor Isaac Tourgman, als er auf das vom Bürgermeister erwähnte Laschet-Zitat erwiderte: „Wir packen unsere Koffer noch nicht.“

Hoffen und glauben wir, dass es nicht erforderlich sein wird.

Denn, wie Igor Guberman es zutreffend ausdrückte:

Wo Lügen und Selbstlügen gelten –

Gedächtnis verlässt den Verstand,

Geschichte umkreist große Welten

Blut – Schlamm – und im Dunkeln verschwand.

Irina Barsukowa, Jüdische Gemeinde Kreis Recklinghausen

Foto: Ralf Wiethaup, Vadim Abonosimov

Antisemitismus-Beauftragter besucht Projekte im Wahlkreis von Frank Schwabe

Gegen Antisemitismus und Extremismus

Kantor Isaac Tourgman, Vera Klocke-Eickmann, Freundeskreis der Jüdischen Gemeinde, Jochen Welt, Vorsitzender des Freundeskreises der Jüdischen Gemeinde Kreis Recklinghausen, Dr. Felix Klein, Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus, Vorsitzender der Jüdische Kultusgemeinde Recklinghausen Dr. Mark Gutkin, Frank Schwabe, Beauftragter der Bundesregierung für Religions-und Weltanschauungsfreiheit.

Dr. Felix Klein, Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus, besuchte jetzt auf Einladung des heimischen Bundestagsabgeordneten Frank Schwabe (SPD) mehrere Orte in Recklinghausen und Waltrop.

Zunächst stand ein Besuch bei der Jüdischen Kultusgemeinde in Recklinghausen auf dem Programm. Dort trafen Schwabe und Klein den Vorsitzenden Dr. Mark Gutkin und Kantor Isaac Tourgman. Bei dem Austausch, an dem auch Jochen Welt und Vera Klocke-Eickmann für den Freundeskreis der Jüdischen Gemeinde teilnahmen, ging es um die Frage, wie insbesondere junge Menschen sensibilisiert werden können, um sich gegen Antisemitismus zu engagieren.

Frank Cerny, SPD Recklinghausen

Foto: Alexandr Libkin

«Am Nullpunkt» Präsentation und lebhafter Austausch

Putins Krieg gegen die Ukraine

Eugen Gorodetsky (von l.) und Natasha Vlaschenko (v. r.)

Am 25. Februar 2024 stellten Natasha Vlaschenko und Eugen Gorodetsky ihr Buch «Am Nullpunkt» in der Jüdischen Gemeinde Kreis Recklinghausen vor.

Diese Publikation ist ein belletristisches und journalistisches Werk – eine Mischung aus Prosa und Poesie, ein Gespräch in Briefen zwischen zwei Menschen während des Ukraine-Krieges. Zwei alte

Bekannte, die aktuell in verschiedenen Ländern leben, trafen sich in den ersten Tagen der großangelegten russischen Invasion in der Ukraine zufällig auf einer Internetplattform. Dort begann der Dialog. In siebzehn folgenden Briefen wurden wichtige Themen angesprochen: Zerstörung von Beziehungen während des Krieges, Ängste und Verzweiflung, Mitgefühl und Verrat, vermutlich unvermeidlich schwere Verluste sowie unsichere Zukunftsaussichten. Wie kann man es aushalten ohne sich selbst zu verlieren, ohne in eine Depression zu verfallen? Wie kann man das Selbstwertgefühl festigen und dabei noch andere unterstützen? Diese und weitere Fragen wurden von den Autoren und ihren Lesern lebhaft diskutiert. Es war eine besondere Begegnung und ein intensiver Gedankenaustausch, beides brauchen wir jetzt so dringend. Und: trotz der schwierigen Thematik fanden die Teilnehmer eine Kommunikationsebene mit einer unterhaltsamen, warmherzigen und durchaus freundlichen Gesprächsatmosphäre. Die Einnahmen dieses Abends wurden zugunsten zweier Projekte gespendet. Bedacht wurden: «Ungebrochen“ in Lviv und Klawdijewo-Bibliothek – eine Zweigstelle der öffentlichen Bibliothek Nemisheivska in der Siedlungsratsgemeinde Klawdijewo-Tarassowe, Bezirk Butscha, Gebiet Kiew.

Die Jüdische Gemeinde Kreis Recklinghausen bedankt sich bei der Zeitschrift Jüdisches Echo  estfalen für die werbende Unterstützung dieser Wohltätigkeitsveranstaltung mittels einer Bekanntmachung.

Irina Barsukowa, Jüdische Gemeinde Kreis Recklinghausen

Foto: Alexander Libkin

Den Opfern eine Stimme geben

Erinnerung lebendig gestalten, den Opfern eine Stimme geben, einander begegnen: Projektwoche am Gymnasium Petrinum anlässlich des Tages des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus und des Internationalen Tages des Gedenkens an die Opfer des Holocaust (27.01.2024). Teil 1

Mehr miteinander reden statt übereinander, einander bewusst begegnen, statt sich zu verschließen – diesen Impulsen gingen Schülergruppen verschiedener Projekte im Rahmen der Projekttage am Gymnasium Petrinum in Recklinghausen nach. Dazu waren sie unter anderem am Dienstag, 23. Januar, und am Mittwoch, 24. Januar 2024, zu Gast in der Synagoge der Jüdischen Kultusgemeinde am Polizeipräsidium.

Die Schülerinnen und Schüler wurden dort von Kantor  Isaac Tourgmann herzlich begrüßt und bekamen lebendige Einblicke in das jüdische Leben. Sie lernten bestimmte Speisegesetze, besondere Feiertage und vor allem die Tora kennen. „Es geht in der  Synagoge nicht um Politik, wenn man sich hier triff t. Nein, es geht vielmehr darum, wie man friedlich miteinander lebt“, erläuterte Isaac Tourgmann den Fünft- bis Siebtklässlern, „und das ist doch etwas, was du und ich beide wollen: in Frieden zu leben.“
Andere schulische Projekte widmeten sich dem Gedenken an weitere Opfer des Nationalsozialismus, wie dem jüdischen Petriner Hugo Cohen (Abitur 1897), der sich laut §175 StGB durch seine Homosexualität strafbar gemacht habe, verfolgt und ermordet wurde. Zu seinem Schicksal und zu dem Homosexueller im Ruhrgebiet während der NS-Zeit referierten Dr. Frank Ahland und Manuel Izdepski in der Aula des Petrinum in einem öff entlichen Vortrag. Explizit stammte nämlich aus der Schülerschaft der  unsch, auch weitere Opfergruppen in den Blick zu nehmen und sich über die Forschungsarbeit auf diesem Gebiet zu informieren.
Gleichzeitig forcierten die Projekte für die Schülerinnen und Schüler aller Altersstufen einen vielfältigen Zugang zur Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus: In dem Projekt „Wo du gehst und stehst…“ entdeckten geraden die jüngsten Schülerinnen  und Schüler die Menschen hinter den in Recklinghausen verlegten Stolpersteinen. Andere begaben sich auf die Spuren Anne Franks. Musikalisch thematisierte man „Lieder als Verführer“ und warf auch einen Blick auf die Musik der heutigen rechtsextremen  Szene. Kunst und Literatur widmeten sich sogenannten „entarteten“ Werken und schufen eigene kleine Ausstellungen, welche die Abwertung durch die Nationalsozialisten nicht nur infrage, sondern in all ihrer verblendeten Ignoranz manifest bloßstellten. Philosophisch wurde der Würdebegriff als Schutzkonzept für alle Menschen betrachtet und nicht zuletzt ging es in einem Projekt um das Wesen einer Diktatur und den besonderen Wert des Rechtsstaates – gerade in der heutigen Zeit.
Eine der Projektgruppen befasste sich vertiefend mit denSchicksalen vier jüdischer Petriner: Günter Boldes (am Petrinum von April bis Dezember 1925), Oscar Cosmann und Jakob Faßbender (beide Abitur 1903) sowie Hans Aris (Abitur 1936). Zum Abschluss der Projekttage wurden Gedenktafeln für diese ehemaligen Schüler enthüllt, die Opfer von Ausgrenzung, Verfolgung, erzwungener Flucht und Ermordung wurden. Künftig wird diese Erinnerungsstätte auf dem Schulgelände weiteren Opfern aus der Petriner Schulgemeinschaft ein Andenken sein.
Als besonders gewinnbringende und nachhaltige Eindrücke schilderten viele Schülerinnen und Schüler die Begegnungen mit Expertinnen und Experten, welche die Projektgruppen unterstützten, sowie Mitbürgerinnen und Mitbürger jüdischen Glaubens, die  sich mit Schülerinnen und Schülern austauschten, um ihre mitunter bedrückenden Lebens- und Alltagserfahrungen mit ihnen zu teilen. Eine Schülerin aus der Erprobungsstufe bemerkte: „Es war total gut, mal mit einer Person jüdischen Glaubens in Ruhe zu  sprechen. Ich habe so viel Neues erfahren und habe neue Ideen für meine Präsentation bekommen.“
In Auseinandersetzung mit der Entrechtung, Verfolgung und gewalttätigen Verdrängung der jüdischen Bevölkerung aus der Mitte der damaligen Gesellschaft waren für viele der jüngeren Schülerinnen und Schüler die Vorgänge der Ghettoisierung, durch welche  die Nationalsozialisten in abgeriegelten Stadtvierteln bewusst die Verelendung der jüdischen Bevölkerung bis hin zum Tode unter qualvollen Bedingungen wie Hunger und Krankheiten forcierten, ungeheure Schilderungen. Weiterführend erkannten die  Schülerinnen und Schüler, dass auch in ihrer Heimatstadt Recklinghausen, in direkter Nähe zu ihrer Schule, inmitten der Innenstadt, zwei der fünf sog. „Judenhäuser“ festgelegt und mehrere jüdische Familien auf engstem Raum dort eingesperrt wurden, ehe  sie Ende 1942 in das KZ Riga deportiert und ermordet wurden.

Die Fortsetzung lesen Sie in der nächsten Ausgabe des J.E.W. Magazins.
Gesa Sebbel, Christopher Janus, Michael Rembiak, Schulgemeinschaft des Gymnasiums Petrinum.

Foto: Archiv des Gymnasiums Petrinum

BFD-Seminar von der ZWST in der Jüdischen Gemeinde Recklinghausen

Vom 15. bis zum 18. April 2024 fanden in der Jüdischen Gemeinde Recklinghausen inspirierende und lehrreiche Seminare der ZWST e.V. für Bundesfreiwillige aus verschiedenen jüdischen Gemeinden in Nordrhein-Westfalen statt. Teilnehmer aus Essen, Köln, Dortmund, Bochum und natürlich Recklinghausen selbst versammelten sich, um nicht nur gemeinsam zu lernen, sondern auch neue Erfahrungen zu sammeln.

Eine besonders beeindruckende Erfahrung war der Einblick in die Arbeit der Polizei. Die Teilnehmer lernten nicht nur theoretisch, sondern besuchten auch das Polizeipräsidium Recklinghausen, wo sie aus erster Hand erlebten, wie die Polizeiarbeit funktioniert. Diese praktische Erfahrung erweiterte ihr Verständnis für die Rolle der Sicherheitskräfte in der Gesellschaft.

Rabbiner Michail Kogan aus Mönchengladbach bereicherte das Seminar mit seinem einzigartigen Vortrag über Pessach als einen Schlüssel zur jüdischen Identität. Dabei wurde deutlich, wie Tradition und Geschichte die Identität einer Gemeinschaft formen können. Psychologische Themen wie Migration, Verlust, Trauer und Trauma wurden ebenfalls behandelt. Vlad Zaslavskyi aus der Gemeinde Recklinghausen gab Einblicke in die psychologischen Dimensionen dieser Themen.

Ein weiterer Höhepunkt des Seminars war der Vortrag von Politologe Aleksander Friedmann aus Düsseldorf über das politische System in Deutschland sowie die aktuelle Situation in Israel und Europa. Diese Einblicke ermöglichten den Teilnehmern, politische Zusammenhänge besser zu verstehen und zu diskutieren.

Während eines Ausflugs mit Aleksandra Kireewa und Elvira Scherman durch die schönen Städte Recklinghausen und Herten hatten die Teilnehmer außerdem die Gelegenheit, das jüdische Erbe der Städte und deren Geschichte kennenzulernen.

Am letzten Tag sprach der Psychiater Aleksander Apel über das Thema Manipulation und wie man ihr widerstehen kann. Dieser Vortrag war nicht nur informativ, sondern auch praktisch relevant für die Teilnehmer, die sich bewusster über mögliche Manipulationsversuche wurden.

Abschließend wurden die Bundesfreiwilligen zu ihrer eigenen Tätigkeit befragt. Sie berichteten von ihren Erfahrungen und erklärten, wie sie sich durch das Seminar weiterentwickelt haben.

Wir möchten der Jüdischen Gemeinde Recklinghausen und ihrem Vorsitzenden Dr. Mark Gutkin herzlich dafür danken, dass sie uns die Möglichkeit gegeben haben, dieses Seminar in ihren Räumlichkeiten abzuhalten. Ihr herzlicher Empfang hat entscheidend zum Erfolg des Seminars beigetragen. Ebenso möchten wir uns bei der Sozialarbeiterin Jana Stachevski für ihre Unterstützung bei der Vorbereitung und Durchführung des Seminars bedanken.

Ilya Rivin, ZWST e.V.