1815, 26. September: Abschrift des Bescheides des preußischen Landrates des Essenschen Kreises, Johann Georg Stemmer, an drei in Castrop wohnende Juden: Johann (Jonas) Cosmann, Israel Vogelsang und Joseph May betr. die Erlaubnis, unter Auflage eines amtlichen Leumundszeugnisses ihren Wohnsitz nach Recklinghausen zu verlegen und sich dort dauerhaft niederzulassen.
Quelle: Stadt-und Vestisches Archiv Recklinghausen, Bestand II, Nr:105: Acta specialia betreffend die Niederlaßung der Juden, Verfasser: Dr. Matthias Kordes, Leiter des Stadt- und Vestischen Archivs Recklinghausen.
d[en] 26. Sept[em]b[e]r 1815.
exped[itum]
Den Juden Johann Cosmann, Israel Vogelsang und Joseph May in Castrop wird hierdurch eröffnet, daß die hohe Landesdirection zu Dortmund auf die, an dieselbe eingereichte Vorstellung [am linken Blattrand eingefügt: unterm 13. d[es] M[onats] folgendes] resolvirt hat:
Die Supplicanten sollen sich vorab noch ausweisen, daß sie sich mit Genehmigung der Obrigkeit hier im Lande etabliert und sich redlich geführt haben; ist dies geschehen, dann kann denselben die Verlagerung des Domicils nach Recklinghausen nicht verweigert werden. Sobald wie daher ein Attest über die beyden in obiger Resolution enthaltenen Punkte vorgelegt wird, kann das Etablissement[1] gleich erfolgen.
Nach Zusammenbruch der napoleonischen Herrschaft über Westfalen im Herbst 1813 wurde Mitte November 1813 übergangsweise ein „Generalgouvernement zwischen Weser und Rhein“ eingerichtet, das bis zum Erreichen endgültiger staats- und völkerrechtlicher Regelungen die Territorien im Westen Deutschlands administrativ zusammenfassen sollte. Im Zuge dessen wurde das vormals kurkölnische Vest Recklinghausen (bzw. Herzogtum Arenberg-Recklinghausen) vorläufig dem „preußischen Landrat des Essenschen Kreises“, Johann Georg Stemmer, unterstellt. In Abstimmung mit einer übergeordneten, ebenfalls provisorisch eingerichteten Regierungsbehörde, die sich „Landesdirektion Dortmund“ nannte und unter Leitung von Gisbert von Romberg stand, gab besagter Landrat mit einer Verfügung vom 26. September 1815 dem Antrag von drei namentlich benannten Castroper Juden statt, sich legal in Recklinghausen ansiedeln zu wollen.
Bei den im August 1815 in Essen und Dortmund aktenkundig gewordenen Antragstellern handelt es sich um:
- Israel Vogelsang, gebürtig aus Erwitte, patentierter Stoffhändler, wohnhaft in Castrop.
- Jonas Cosmann, gebürtig aus Dorstfeld, Viehhändler, Schwager des Joseph Levi aus Castrop, wohnhaft in Castrop.
- Joseph May, gebürtig aus Elsoff (Westerwald), Bediensteter des Levi Joseph, Castrop.
Hintergrund: Im märkischen Castrop lebten – anders als in Recklinghausen – bereits im späten 18. Jahrhundert einige Juden, die – gemäß dem vom Preußenkönig Friedrich II. am 17. April 1750 publizierten „Revidierten General-Privilegium und Reglement vor die Judenschaft im Königreich Preußen […]“ – zumindest einen Duldungsstatus hatten, bestimmten Berufen nachgehen konnten, jedoch nicht ohne Weiteres heiraten durften. Aber durch ein Dekret vom 22. Juli 1808 hatte man den Juden in der vormalig preußischen
[1] Niederlassung, Ansiedlung, fester Wohnsitz.
Grafschaft Mark, die im Januar 1808 an das Großherzogtum Berg abgetreten worden war, die allmähliche Gleichstellung mit der christlichen Bevölkerung in Aussicht gestellt und die Zahlung von Sondersteuern abgeschafft. Durch eine liberalisierte Politik des – politisch von Kaiser Napoleon abhängigen bzw. regierten – Großherzogtums Berg wuchs, auch verursacht durch weiteren Zuzug, zwischen 1808 und 1813 die Zahl der Castroper Juden an.
Freizügigkeit nebst dem Recht, sich ohne Weiteres an einem Ort seiner Wahl niederzulassen, gab es für die Juden im „Generalgouvernement zwischen Weser und Rhein“, das ja u.a. auch die ehemalige Grafschaft Mark und das Vest Recklinghausen einbezog, ab Herbst 1813 noch nicht. Der Verwaltungsakt besagter regionaler Übergangsadministration in Essen bzw. Dortmund vom 26. September 1815 hatte indes zur Folge, dass sich erstmals seit Ende des 17. Jahrhunderts Juden wieder in der Stadt Recklinghausen ansiedeln konnten. Mit Ankunft der drei Juden aus Castrop, denen der dortige Bürgermeister Adolph Biggeleben am 6. November 1815 in Mengede ein gemeinsames, an den Recklinghäuser Bürgermeister Joseph Wulff adressiertes Führungszeugnis ausgestellt hatte, beginnt die neuzeitliche Geschichte der Juden in Recklinghausen.
Jonas Cosmann, gebürtig aus Dorstfeld, wo sich nach der Vertreibung der Juden aus der benachbarten Reichsstadt Dortmund im Jahre 1596 vergleichsweise viele jüdische Familien angesiedelt hatten, wurde mit seinem Weggang aus Castrop zum Gründungsvater einer bedeutenden Recklinghäuser Familien- und Kaufmannstradition, die Mitte des 20. Jahrhunderts durch die Verbrechen der NS-Herrschaft ihr gewaltsames Ende fand. Jonas Cosmann starb 1823, wurde als erster Todesfall auf dem neu eingerichteten Jüdischen Friedhof am Börster Weg beerdigt und hinterließ seine Frau Anne Marie Sophie Jacob sowie drei Söhne mit Namen Isaak Jonas, Jonas und David. Siehe auch unter 1816 und 1823.
Literatur:
Georg Möllers: Die Cosmanns: Der vergebliche Patriotismus einer liberalbürgerlichen jüdischen Familie aus Recklinghausen, in: Vestischer Kalender 2014, S. 167-180.
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