1827, 2. Juli: Halbjährliche namentliche Erfassung von Geburten jüdischer Kinder zwecks Erhebung von Beiträgen für den Hebammen-Unterstützungsfonds
Quelle: Stadt- und Vestisches Archiv Recklinghausen, Bestand II, Nr. 104: Acta generalia et specialia. Die von Geburten und Trauungen jüdischer Glaubens-Genossen zum Hebammen-Unterstützungs-Fond zu entrichtenden Gebühren, Bl. 4 r, Verfasser: Dr. Matthias Kordes, Leiter des Stadt- und Vestischen Archivs Recklinghausen.
Verzeichnis
der in der Bürgermeisterei Recklinghausen im Isten halben Jahr 1827 vorgekommenen jüdische Geburten, so wie den davon erhoben beyträgen zum Hebammen Unterstützungs Fonds
No. |
Tag der Geburt |
Namen der Zahlungspflichtigen |
Silbergroschen |
1 |
21. Februar 1827 |
Bernardina, Tochter des Sam[uel] Bendix |
2. |
2 |
17. May // |
Lena, Tochter der Levi Klein |
2 |
3 |
3. Juni // |
David, Sohn des Moses Klein |
2 |
|
|
Summa |
6 |
Vorstehende jüdische Eingesessenen hierselbst werden hierdurch aufgefordert, die nebenstehende Gebüren als Beytrag zum Hebammen-Unterstützungsfond sofort dem Polizeidiener Weisfeld bey Vermeidung der sofortigen Execution zu zahlen.
Recklinghausen, 2. July 1827
der Bürgermeister
Unterschrift J[osef] Wulff
am 3/7. dem Steuer Einnehmer Bracht vorstehendes Verzeichniß mit dem Betrag zu 6 schillingen eingesandt
pro II. Sem[ester] 27
I 9. Octob[er] 1827 L. Leser, Sohn des Isack Leser
der Steuereinnehmer Bracht, 2/1. 28 zugestellt.
Kommunen und Kreise in den preußischen Provinzen des frühen 19. Jahrhunderts unterhielten und beaufsichtigten Hebammen, die nach einem strengen Reglement eine Zulassung für ihren Beruf erhielten. Sie mussten einen moralisch und wirtschaftlich einwandfreien Lebenswandel nachweisen und geistig wie körperlich gesund und belastbar sein; in Recklinghausen wie anderswo bewarben sich meist verheiratete Frauen, die selbst Kinder hatten, und erhielten ihr Amt in einem förmlichen Bewerbungs- und Auswahlverfahren. Ihre Fachkompetenz, die sie durch Approbation nachzuweisen hatten, galt den Wöchnerinnen und der Pflege der Neugeborenen nebst deren Ernährung.
Bei einer Geburt fielen im preußischen Regierungsbezirk Münster mindestens 15 Silbergroschen an, die von den Eltern selbst an die Hebamme zu entrichten waren. Zu deren finanziellen Absicherung existierte in Preußen darüber hinaus auch ein sog. Hebammen-Unterstützungsfonds, aus dessen Finanzmitteln die Hebammen für ihre Tätigkeiten zusätzliche Entgelte und Entlohnungen erhielten. Dabei waren im Zuge aller Eheschließungen und Geburten in einem Hebammen-Bezirk Umlagen bzw. Abgaben der Brautleute bzw. Eltern an diesen Unterstützungsfonds zu entrichten; städtische Vollzugsbeamte hatten diese Gelder nach einer Hochzeit bzw. Geburt unverzüglich einzutreiben.
Da die Hebammen für sämtliche Gebärenden und Neugeborenen einer Stadt bzw. eines Landkreises zuständig waren, gab es keine Unterscheidung bezüglich der Religion, Konfession, Herkunft oder Nationalität der betreffenden Eltern, Mütter bzw. Kinder, so dass auch jüdische Familien von Anfang an ausnahmslos in dieses System eingebunden waren. Und weil in den 1820er-Jahren in Preußen noch keine Synagogengemeinden im rechtlich-administrativen Sinne bestanden, die entsprechende Daten bzw. Gebühren erheben konnten, waren es die Bürgermeister, die zu diesem Zweck die Geburten und Trauungen der Juden halbjährlich genau zu protokollieren hatten.
Die über Jahrzehnte gleichbleibenden Gebührensätze sahen bei Juden und Christen gleichermaßen vor, dass pro Geburt zwei, für jede Eheschließung vier Silbergroschen zu entrichten waren. Auf diese Weise werden städtische Akten über den Hebammen-Unterstützungsfonds nebst der Dokumentation jüdischer Zahlungspflichtiger zu einer frühen personen- und familiengeschichtlichen Quelle über die jüdischen Einwohner einer westfälischen Kommune im 19. Jahrhundert. Erst mit der Einführung der Standesamtsregister in Preußen bzw. im Deutschen Reich 1874/75 verschwindet dieser Verwaltungsbrauch endgültig.
Im frühen 19. Jahrhunderts war in Deutschland die allgemeine Sterblichkeit unter Kleinkindern noch immer sehr hoch: Etwa 20 Prozent der Kleinkinder erreichten in Mitteleuropa nicht ihr 5. Lebensjahr, die Säuglingssterblichkeit lag im Preußen der 1820er-Jahre, in denen es keine großen Epidemien bzw. Klima- oder Hungerkrisen gab, bei mindestens 10 Prozent; in den Städten, in denen besonders unhygienische Verhältnisse herrschten, waren diese demografischen Werte tendenziell schlechter als auf dem platten Land, im nördlichen Deutschland sah es neueren Forschungen zufolge etwas besser aus als in den südlichen Landesteilen. Diesen historischen Sachverhalt ermisst man daran, dass Lena Klein (s.o.) bereits 1831 im Alter von vier Jahren starb und David Klein (s.o.) sein Geburtsjahr 1827 nicht überlebte. Ihre Grabstätte fanden beide Kinder auf dem 1823 auf Betreiben des Samuel Bendix neu eingerichteten jüdischen Friedhof am Börster Weg.
Weiterführende Links: