1869, 3. Juli: Bundesgesetz über die rechtliche Gleichstellung der Juden in den Staaten des Norddeutschen Bundes
Quelle: Bundesgesetzblatt 1869, Nr. 28, S. 292., Verfasser: Dr. Matthias Kordes, Leiter des Stadt- und Vestischen Archivs Recklinghausen.
„Wir, Wilhelm, von Gottes Gnaden König von Preußen, verordnen hiermit im Namen des Norddeutschen Bundes, nach erfolgter Zustimmung des Bundesrathes und des Reichstages, was folgt:
Einziger Artikel.
Alle noch bestehenden, aus der Verschiedenheit des religiösen Bekenntnisses hergeleiteten Beschränkungen der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte werden hierdurch aufgehoben. Insbesondere soll die Befähigung zur Theilnahme an der Gemeinde- und Landesvertretung und zur Bekleidung öffentlicher Ämter vom religiösen Bekenntniß unabhängig sein.“
Hintergrund: Der im April 1867 unter politischer und militärischer Führung des Königreiches Preußen gegründete Norddeutsche Bund war ein Bundesstaat, der die deutschen Staaten, Fürstentümer, freien Hansestädte und Territorien nördlich des Mains unter einem föderalen Dach vereinigte. Der Präsident des Bundes war der König von Preußen, der amtierende Bundeskanzler hieß Otto von Bismarck, der zugleich auch preußischer Ministerpräsident war. Der Norddeutsche Bund hatte ein eigenes Parlament, das sich Reichstag nannte und knapp 300 Abgeordnete hatte. Dieses Parlament, das bundesweite Gesetzgebungskompetenz hatte, tagte in Berlin im sog. Herrenhaus des Preußischen Landtages.
In seiner nur knapp vier Jahre währenden Existenz, die etwa einer Legislaturperiode entsprach, verabschiedete der Reichstag über 80 Einzelgesetze, die mit liberalen Stimmenmehrheiten auf vielfache Weise reformerische Ziele verfolgten. Einen Katalog von Menschen- und Bürgerrechten gab es in der Verfassung des Norddeutschen Bundes vom Juni 1867 zwar nicht, besonders bekannt wurde indes das vom liberalen Rostocker Juristen Dr. Moritz Wiggers konzipierte Bundesgesetz vom 3. Juli 1869, das in allen Gliedstaaten des Norddeutschen Bundes die bürgerlichen Rechte für „vom religiösen Bekenntnis“ unabhängig erklärte. Wenige Jahre zuvor gab es ähnliche Regelungen über die Rechtsstellung der Juden bereits im Großherzogtum Baden (1862), in Frankfurt am Main (1864) und in Österreich-Ungarn (1867).
Damit fielen – jedenfalls formal – letzte rechtliche Schranken, die das Leben der Juden in den Staaten des Norddeutschen Bundes noch bestimmten. Der im 18. Jahrhundert einsetzende Prozess der Gleichstellung und Emanzipation der deutschen Juden hatte damit weitestgehend seine Ziele erreicht; ihre volle Teilhabe am wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, politischen, staatlichen und kulturellen Leben in den größten Teilen Deutschlands schien damit möglich.
Der Norddeutsche Bund hatte keine Verwaltungsexekutive, d.h. keine übergreifend tätigen Bundesbehörden oder -ämter; die Ausführung und Befolgung der Bundesgesetze von 1867 bis Anfang 1871 oblag daher den einzelnen Gliedstaaten, in denen die in Berlin verabschiedeten Bundesgesetze unmittelbare Gesetzeskraft erlangen sollten. Der Text des Gesetzes vom 3. Juli 1869, mit dem die Emanzipationsgesetzgebung in Deutschland im Wesentlichen zum Abschluss kam, taucht daher in der Preußischen Gesetz-Sammlung von 1869 (oder später) nicht auf, auch in den zeitgenössischen Archivakten der Stadt Recklinghausen finden sich keine Spuren dieses wichtigen Gesetzes.
Nichtsdestoweniger kamen auf diese Weise die Juden in Preußen, in der Preußischen Provinz Westfalen und damit auch im Kreis Recklinghausen ohne Verzögerung, soll heißen: ohne nachgelagertes preußisches Landesgesetzgebungsverfahren in den Genuss des Gleichstellungsgesetzes von 1869. Seinem Inhalt nach wurde es unverändert in die Rechtsordnung des Deutschen Reiches von 1871 übernommen. Und verbunden mit der Industrialisierung, der Urbanisierung und dem Aufschwung des Bergbaus in der Emscher-Lippe-Region ab 1870 konnte auch die ungehinderte Entwicklung der Juden in Stadt und Kreis Recklinghausen weiter Fahrt aufnehmen.
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