1872, 21. März: Gerichtliche Dokumentation und Beglaubigung einer jüdischen Eheschließung in Recklinghausen nebst amtlicher Mitteilung an den Recklinghäuser Bürgermeister Friedrich Hagemann
Quelle: Stadt- und Vestisches Archiv Recklinghausen, Bestand II, Nr. 104: Acta gen[eralia] u[nd] spec[ialia]: Die von Geburten und Trauungen jüdischer Glaubens-Genossen zum Hebammen-Unterstützungs-Fond zu entrichtenden Abgaben, Bl. 36 r, 37 r, Verfasser: Dr. Matthias Kordes, Leiter des Stadt- und Vestischen Archivs Recklinghausen.
Daß in dem bei dem unterzeichneten Gerichte geführten Register für die Heirathsfälle der Juden folgende wörtlich lautende Vermerke:
„1872
laut Verhandlung vom 21ten des Monats haben der Kaufmann David Cosmann junior von hier und Dina Loewenstein von Werl beide zur Gemeinschaft der Juden gehörig, erklärt, daß sie sich als ehelich verbunden betrachten wollen: Eingetragen Recklinghausen, den drei und zwanzigsten März Achtzehnhundert zwei und siebenzig.
Königliche Kreisgerichts Deputation
Aulike Fack
Kr[eis] G[erichts] Rath Protokollführer“
[…]
eingetragen stehen, wird hierdurch amtlich bescheinigt.
Recklinghausen den 21. Januar 1873
Königliche Kreisgerichts Deputation.
Siegelstempel
Unterschrift [Ernesti]
An Herrn Bürgermeister Hagemann
hier
Vor Einführung des Standesamtswesens erst in Preußen, dann im ganzen Kaiserreich (1874/75) wurden in Westfalen die drei Personenstandsdaten (Geburt, Heirat, Tod) nicht bei einer staatlichen Stelle, sondern traditionell durch die örtlichen Kirchengemeinden – natürlich streng nach den beiden christlichen Konfessionen getrennt – in den sog. Pfarrmatrikeln bzw. Kirchenbüchern erfasst, wobei dort genau genommen nicht die Geburt, sondern die Taufe eines Neugeborenen verzeichnet wurde.
Für die Juden als religiöse, noch keineswegs gleichberechtigte Minderheit galt vor 1874/75 in Preußen in vielen Bereichen des bürgerlichen Lebens noch immer ein staatliches Sonderrecht. Dieses wurde im „Gesetz über die Verhältnisse der Juden“ vom 23. Juli 1847, das ja auch die Bildung von Synagogengemeinden vorsah, zuletzt umfassend und genau geregelt. Es sah in den Paragrafen 8–20 vor, dass Geburten, Heiraten und Todesfälle von Mitgliedern der Synagogengemeinden durch kurzfristiges, persönliches Erscheinen des/der Betroffenen bzw. eines Angehörigen bei den örtlichen Stadt- bzw. Kreisgerichten anzuzeigen, ebendort zu beglaubigen und dafür in ein spezielles Register einzutragen sind. Dabei fielen Verwaltungsgebühren an, schuldhaftes Versäumnis wurde mit Geld- und Haftstrafen sanktioniert. Wohnten die Brautleute in verschiedenen Städten bzw. Gerichtsbezirken, so war zwischen den beiden eine freie Ortswahl der Eheschließung möglich, woraufhin eine entsprechende Meldung an die jeweils andere, der Person nach zuständige Gerichtsbehörde und an den betreffenden Bürgermeister in seiner Eigenschaft als Ortspolizeibehörde zu erfolgen hatte.
Ein Kreisgericht, gelegen unmittelbar am Markt, gab es in Recklinghausen von 1849 bis 1851, danach bestand es bis 1879 in organisatorisch reduzierter Form als dreiköpfige Kreisgerichtskommission bzw. -deputation, d.h. als Außen- und Nebenstelle des Kreisgerichtes Dorsten weiter, die von 1858 bis 1879 unter Vorsitz des Gerichtsrates Heinrich Aulike stand, wohnhaft Heilige-Geist-Straße 16. Sie trat als erste Instanz einer zweistufigen Gerichtsbarkeit unter dem Appellationsgericht Münster auf und war zuständig für Grundbuchangelegenheiten, Schuldensachen, Gemeinheitsteilungen, Vormundschaftsangelegenheiten, seit 1847 auch für den Personenstand der Juden und seit 1849 für die rechtssichernde Deponierung von Testamenten und Letztwilligen Verfügungen.
Das seit dem 23. März 1872 ehelich verbundene Paar David Cosmann jun. und Dina geb. Löwenstein, wohnhaft Markt 11, Recklinghausen, bekam am 13. Dezember 1874 eine Tochter. Deren Geburt wurde aber nicht mehr, wie im Gesetz von 1847 noch vorgesehen, in einem speziellen Judenregister bei der Kreisgerichtsdeputation dokumentiert, sondern in die gerade erst in Preußen eingeführten neuartigen Standesamtsregister eingetragen. Diese sollten ausnahmslos alle Einwohner erfassen und wurden damit auch zu einem behördlichen Instrument der Judenemanzipation in Deutschland. Die Ehefrau des David Cosmann jun., Dina geb. Löwenstein (geb. am 1. Juni 1845 in Werl), überlebte die Geburt ihrer Tochter jedoch nicht und verstarb noch am selben Tag. Der Witwer, Angehöriger der bedeutenden Recklinghäuser Kaufmannsfamilie Cosmann, heiratete 1878 erneut, und zwar Kunigunde geb. Neukirchen.
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