1914

Der Patriotismus deutscher Juden im Ersten Weltkrieg

Von Dr. Matthias Kordes, Leiter des Stadt- und Vestischen Archivs Recklinghausen

Gedenkstein für gefallenen Jüdische Soldaten des Ersten Weltkriegs auf dem jüdischen Friedhof am Nordcharweg, Recklinghausen

August 1914: Begeisterung für einen gerechten Krieg

Der Erste Weltkrieg war in besonderer Weise ein jüdischer Krieg: In den Armeen aller Großmächte kämpften zehntausende, ja hunderttausende Juden, die – genauso wie die nicht-jüdischen Kriegs-teilnehmer – in hoher Zahl für ihre jeweiligen Länder ihr Leben verloren.[1] In Frankreich waren ca. 36.000 jüdische Soldaten im Einsatz, in Großbritannien ca. 40.000, in den deutschen Armeen zählte man im Laufe des Krieges 96.000, in der US-Army dienten ab 1917 250.000 Soldaten jüdischen Glaubens, in der zaristischen Armee waren es sogar 650.000.

Diese Tatsachen sind das Ergebnis einer grundlegenden Verbesserung und Modernisierung der jüdischen Verhältnisse im 19. Jahrhundert. Auch in Preußen gab es seit der napoleonischen Zeit einen stetigen Fortschritt der jüdischen Emanzipation, Integration und Assimilierung, die seit dem Edikt vom 11. März 1812 von vielen deutschen Ländern rezipiert wurde und übrigens auch das Militärwesen und die Wehrpflicht der Juden betraf. Hundert Jahre nach der napoleonischen Ära, am Vorabend des Ersten Weltkrieges, waren in Deutschland Ausgrenzung, Unterdrückung und Verfolgung der Juden praktisch kein Thema mehr. Zahlreiche Juden arbeiteten als erfolgreiche Juristen, Mediziner, Beamte, Professoren, Wissenschaftler[2], Kaufleute und Unternehmer. Obwohl nach 1871 der Antisemitismus in national-konservativen Kreisen spürbar anwuchs und jüdischen Soldaten die Offizierslaufbahn größtenteils verwehrt blieb, setzte sich der gesellschaftliche und wirtschaftliche Aufstieg des deutschen Judentums bis 1914 ungehindert fort.

Als der Große Krieg ausbrach, befürworteten alle wichtigen jüdischen Institutionen und Vereine diesen Konflikt. Nicht anders als es die französischen Juden[3] sahen auch die Juden in Deutschland das Kaiserreich, das sie als ihre Heimat betrachteten, in einem gerechten und unverschuldeten Kampf. Auch zahlreiche jüdische Intellektuelle schlossen sich dieser Haltung an. Am 1. August 1914 trat bekanntlich das Deutsche Reich gegen Russland, das begonnen hatte Ostpreußen anzugreifen, in den Krieg ein. Vom selben Tag datiert der berühmte Aufruf des „Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“[4]. Er trägt folgenden Wortlaut: „An die deutschen Juden! In schicksalsschwerer Stunde ruft das Vaterland seine Söhne unter die Fahnen. Dass jeder deutsche Jude zu den Opfern an Gut und Blut bereit ist, die die Pflicht verlangt, ist selbstverständlich. Glaubensgenossen! Wir rufen Euch auf, über das Maß der Pflicht hinaus Eure Kräfte dem Vaterland zu widmen! Eilt freiwillig zu den Fahnen!

Dieses lautstarke nationale Engagement propagierte das liberale Judentum ebenso wie das orthodoxe Judentum und die deutschen Zionisten. Insgesamt meldeten sich etwa 10.000 deutsche Juden als Kriegsfreiwillige. Dass von der wichtigsten jüdischen Organisation in Deutschland schon am 1. August 1914, also noch bevor zwischen Deutschland und Frankreich Kriegszustand herrschte, ein Appell an die Kriegsbegeisterung erging, war kein Zufall: Als Hauptfeind sah man nämlich in den jüdischen Vereinen und Verbänden nicht die Westalliierten (Frankreich und Großbritannien) an, sondern Russland. Der Zar galt als Erzfeind der Juden in Europa. In seinem Reich erkannte man das Zentrum eines repressiven und gewalttätigen Antisemitismus, das den 5,5 Millionen Juden, die dort lebten, nur eine kümmerliche, marginale Existenz ermöglichte – ganz im Gegenteil zu den Lebensumständen der ca. 550.000 Juden in Deutschland, die größtenteils der gebildeten und wohlhabenden bürgerlichen Mittelschicht angehörten.

Die repressiven Verhältnisse im zaristischen Russland wurden als „Moskowitertum“ bezeichnet – unter den liberalen Juden ein Synonym für Rückständigkeit und antisemitische Unterdrückung. Der Grund dafür lag in den blutigen Pogromen in Südrussland und der Ukraine zwischen 1903 und 1905. Neben den Ausschreitungen in Chisinau und in der Gegend von Dnipopetrowsk sind vor allem die antijüdischen Exzesse in Odessa zu nennen, wo seit 1821 immer wieder organisierte Gewalt gegen die ghettoisierten Juden ausgeübt wurde und zuletzt 1905 besonders brutale Aus-schreitungen stattgefunden hatten.

Das Deutsche Reich galt indes als ein Staat, in dem die Assimilierung des jüdischen Lebens und die Koexistenz mit der christlichen Bevölkerungsmehrheit besonders friedlich und fortschrittlich verliefen. Umso widersprüchlicher war es für viele deutsche Juden, dass die Republik Frankreich, das Mutterland der Menschen- und Bürgerrechte auf dem europäischen Kontinent, in welchem die Große Revolution von 1789 auch die Gleichberechtigung und Emanzipation der Juden in Europa eingeleitet hatte, sich im August 1914 als enger militärischer Verbündeter des rückständigen und autokratischen Zarenreiches erwies.[5]

Durch Ausrufung des sog. „Burgfriedens“ durch Kaiser Wilhelm II. am 1. August 1914[6] – sollten alle innenpolitischen und gesellschaftlichen Widersprüche, Spannungen und Konflikte zugunsten nationaler Einheit und Geschlossenheit überwunden werden. Davon versprach man sich auf jüdischer Seite auch das Ende des Antisemitismus. Die deutschen Juden bekannten sich daher besonders nachdrücklich dazu, nichts anderes als ein Teil der deutschen Nation zu sein. Besonders optimistische Vertreter des deutschen Judentums äußerten die Hoffnung, dass man am Ende dieser Entwicklung die Juden als einen Volksstamm wie die Bayern, Westfalen, Sachsen, Schwaben oder Schlesier betrachten würde.

Ludwig Frank: Ein deutscher Politiker und Kriegsfreiwilliger

Der Große Krieg schien endlich die Gelegenheit dafür zu bieten, diese Haltung und diese Eigenschaft beweisen zu können. Zugleich glaubte man, mit einem siegreichen und gerechten Krieg gegen Russland zur Rettung und Befreiung der osteuropäischen Juden beitragen zu können. Von dem Hass und der feindseligen Propaganda, die den Deutschen von Seiten der Franzosen und Briten ab Herbst 1914 entgegengebracht wurde, fühlten sich daher auch die deutschen Juden unmittelbar betroffen.[7]

Ein besonders symbolträchtiges Schicksal verkörpert der Rechtsanwalt Dr. Ludwig Frank aus Mannheim.[8] Er entstammte einer Kaufmannsfamilie aus Lahr in Baden; zu seinen Vorfahren gehörten Händler und Rabbiner. Nachdem er zunächst Abgeordneter im badischen Landtag in Karlsruhe gewesen war, wurde er ab 1907 für die Sozialdemokratische Partei Deutschlands Mitglied des Reichstags in Berlin. Frank setzte sich bis zum Ersten Weltkrieg für die Rechte der Arbeiterschaft, die Förderung der Arbeiter-Jugend und für eine demokratische Reform des Wahlrechts im annektierten „Reichsland“ Elsass-Lothringen ein.

Noch bis wenige Tage vor Ausbruch des Krieges plädierte Frank auch für eine Verbesserung der politischen Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich. Als im Frühjahr 1913 der Reichstag über eine Vergrößerung des Budgets für die Armee debattierte, stimmte er zusammen mit der Sozialdemokratischen Partei gegen eine solche Verstärkung des deutschen Heeres. Ferner nahm Frank als erklärter Gegner des Militarismus und Imperialismus an den internationalen Parlamentarier-Konferenzen 1913 und 1914 in Bern und in Basel teil. Aus diesen Kontakten erwuchs eine persönliche Freundschaft zu Paul Henri d’Estournelles de Constant, dem Anführer der französischen Delegation in Bern und Friedensnobelpreisträger von 1909, ebenso zu Jean Jaurès.

Dennoch gehörte Frank zu insgesamt fünf von knapp 400 Reichstagsabgeordneten, die sich bei Ausbruch des Krieges freiwillig zum Kriegsdienst meldeten. Unzweifelhaft wollte er damit beweisen, dass es weder den Sozialdemokraten noch den deutschen Juden an Patriotismus mangelte. Vor dem Abmarsch an die Front in Lothringen schrieb Frank Ende August 1914 an seine Frau: „Ich habe den sehnlichen Wunsch, den Krieg zu überleben und dann am inneren Ausbau des Reiches mitzuarbeiten. Aber jetzt ist für mich der einzig mögliche Platz in Reih’ und Glied und ich gehe wie alle anderen freudig und siegessicher.“[9]

Frank diente im 2. Badischen Grenadier-Regiment Nr. 110 und fiel bereits am 3. September 1914 im Alter von 40 Jahren westlich der Vogesen bei Nossoncourt in der Nähe von Baccarat. Nicht nur deutschen Zeitungen berichteten über den „Heldentod“ dieses Politikers, auch L’Humanité, damals das Zentralorgan der französischen Sozialisten, druckte am 13. September 1914 eine kurze, aber wohlwollende Notiz über den Tod dieses herausragenden deutsch-jüdischen Sozialdemokraten ab. Sein Grab ist bis heute nicht bekannt. Man darf vermuten, dass Frank als Überlebender des Großen Krieges eine bedeutende politische Karriere in der Weimarer Republik gemacht hätte. Seine Biografie personifiziert in tragischer Weise die deutsch-jüdische Symbiose zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Herbst 1916: Die „Judenzählung“

Die Entwicklung bis 1916 beinhaltete eine steigende Zahl von jüdischen Soldaten in den deutschen Armeen, einen schnell wachsenden Anteil jüdischer Offiziere[10], allerdings auch die unveränderten antisemitische Ressentiments konservativer Kreise an der „Heimatfront“.[11] Als besonderer Erfolg des Engagements der deutschen Juden galt zunächst die Tatsache, dass bis 1918 ca. 30 sogenannte Feldrabbiner eingestellt wurden, obwohl das deutsche Militär, anders als die Armee Österreich-Ungarns, eine solche jüdische Militärseelsorge zunächst gar nicht vorgesehen hatten. Seit Sommer 1915 leistete das preußische Kriegsministerium, das in bestimmten Angelegenheiten für das ganze Deutsche Reich zuständig war, sogar finanzielle Unter-stützung, obwohl diese Militär-Rabbiner ihre Gehälter von den jüdischen Vereinen und Verbänden erhielten.[12]

Die Rabbiner meldeten sich freiwillig für diesen Dienst und waren, nicht anders als die Militärgeistlichen der christlichen Konfessionen, zuständig für die Soldaten im unmittelbaren Front-einsatz. Sie sorgten für Gottesdienste, für koschere Nahrung, sie kümmerten sich um Verwundete und Gefangene. Ebenso organisierten sie Begräbnisse in Frontnähe und benachrichtigten die Angehörigen. In den besetzten Gebieten an der Ostfront waren sie sogar für die jüdische Zivil-bevölkerung zuständig.

Eine schwerwiegende Zäsur ereignete sich jedoch etwa in der Mitte des Kriegsverlaufs, im Herbst 1916. Der Krieg hatte bis dahin seinen vorläufigen Höhepunkt erreicht: Die Schlacht von Verdun tobte ohne Aussicht auf Erfolg schon seit dem 21. Februar, die alliierte Großoffensive an der Somme setzte die deutschen Truppen seit dem 1. Juli massiv unter Druck. Einen Monat zuvor fand zwischen der deutschen und der britischen Flotte am Skagerrak die größte Seeschlacht des Ersten Weltkrieges statt. Ferner brachte seit dem 4. Juni 1916 die sogenannte Brussilow-Offensive die deutschen und österreichischen Streitkräfte im Südwesten der Ukraine in schwere Bedrängnis, zugleich entlastete sie die Franzosen in Verdun.[13] In diesem Zweifrontenkrieg stießen die militärischen und wirtschaftlichen Kapazitäten Deutschlands damit an ihre Grenzen. Die Aus-sichten auf einen Sieg schwanden rapide und die Verluste stiegen immer weiter. Zugleich verschlechterte sich die Ernährungssituation kontinuierlich, die Spannungen und die Unzufrieden-heit in der Bevölkerung wuchsen.[14]

Der „Burgfrieden“ vom August 1914 war damit endgültig verloren. Nationalistische und rechts extreme Kreise, vor allem der sogenannte“ Alldeutsche Verband, suchten von da an einen Sündenbock für die wachsenden Probleme und für die drohende Niederlage. Angestoßen durch diffamierende Berichte in der Presse, ebenso durch Äußerungen des einflussreichen Antisemiten, Journalisten und Reichstagsabgeordneten Ludwig Werner wurde in der deutschen Militär-verwaltung im Herbst 1916 ein ungewöhnlicher Zählvorgang in Gang gesetzt. Durch diesen wollte man die Zahl der kriegsteilnehmenden deutschen Juden ermitteln, und zwar an der Front, in der Etappe und im rückwärtigen Besatzungsgebiet.

Die vom preußischen Kriegsminister Adolf Wild von Hohenborn organisierte „Judenzählung“ vom 11. Oktober 1916 beinhaltete einen umfangreichen Fragebogen. Das Rundschreiben an alle Kommandanturen ging dabei ausdrücklich auf die Gerüchte, Anfeindungen und Vorwürfe ein, nach welchen die Juden angeblich Drückeberger, Feiglinge, Schmarotzer und somit eine unpatriotische und unzuverlässige Minderheit seien.[15] Auch Hitler äußerste sich in seinen 1923 verfassten Memoiren „Mein Kampf“ auf diese Weise, denn nach seiner Verwundung in der Somme-Schlacht verbrachte er für mehrere Monate Urlaub in der Heimat: Bei seinem Aufenthalt in Berlin und München habe er dabei zahlreiche Juden beobachtet, die ein angenehmes Leben außerhalb des Militärdienstes führten.[16]

Doch diese „Judenzählung“, die bis zum 1. Dezember 1916 abgeschlossen werden sollte, wurde nicht vollständig durchgeführt. Ihre provisorischen statistischen Ergebnisse wurden nie offiziell veröffentlicht, weil sie die antisemitischen Spekulationen der deutschen Militäradministration widerlegten. Auch hat sich das Kriegsministerium nie abschließend zu diesem Thema geäußert. Dennoch löste diese statistische Erhebung einen speziellen Kriegs-Antisemitismus aus, der noch lange nach 1918 eine fatale Wirkung zeigte. Ebenso löste sie bei vielen deutschen Juden ein Gefühl von Diskriminierung und Resignation aus. Die uneingeschränkte Zustimmung zum Deutschen Reich erwies sich für viele Juden als vergebliches Bemühen, das Bewusstsein einer besonderen, dauerhaften Nähe zwischen Deutschland und dem Judentum erwies sich im Laufe des Krieges als Täuschung.

Gedenken an die jüdischen Gefallenen in den 1920er-Jahren

Die deutschen Juden konnten den wachsenden Antisemitismus, der seit Herbst 1916 in Deut-schland wieder in die Öffentlichkeit getreten war, nicht mehr aufhalten, die militärische Niederlage vom November 1918 und die Radikalisierung des innenpolitische Klimas in Deutschland beschleunigten diese Entwicklung.[17] Die deutschen Juden nahmen aber das Heft selbst in die Hand, um diesen bedrohlichen Trend aufzuhalten Um jüdische Soldatenschicksale in Ehren zu halten, wurde im Februar 1919 in Berlin der „Reichsbund jüdischer Frontsoldaten“ gegründet.[18]

Initiator war Hauptmann Dr. Leo Löwenstein, ein Physiker aus Aachen. Dieser hatte für die deutsche Artillerie bereits 1913 ein Verfahren zur Messung des Schalls entwickelt, mit dem man feindliche Stellungen akustisch lokalisieren konnte.

Dieser „Reichsbund“, dem in den 1920er Jahren zwischen 30.000 und 50.000 Mitglieder angehörten, war mehr als ein reiner Veteranenverein, er stellte sich auch politischen Aufgaben. In Zusammenarbeit mit dem zivilen „Centralverein“ sollten nämlich den antisemitischen Agitatoren mit seriösen Forschungen über den Einsatz jüdischer Soldaten entgegengetreten werden. Als späte Reaktion auf die sog. Judenzählung entstand daher eine Militärstatistik, die von den wichtigsten jüdischen Verbänden selbst in Auftrag gegeben wurde. Ihre Ergebnisse, welche die anti-semitischen Vorwürfe von 1916 widerlegen sollten, wurden 1921 von Jakob Segall und Heinrich Silbergleit publiziert.[19] Sie sind bis heute Grundlage für die Geschichtsforschung zu diesem Thema. Ihr wichtigstes Resultat: Von den knapp 100.000 Juden, die als deutsche Soldaten an allen Fronten kämpften, starben etwa 12.000. Die Verhältnisse entsprechen durchaus den Gesamtzahlen und Proportionen in den deutschen Armeen. Ca. 78.000 standen in unmittelbarem Fronteinsatz, 18.000 jüdische Soldaten erhielten das Eiserne Kreuz, 2.000 waren Offiziere und 1.200 Militärärzte oder -beamte.[20]

Auf zahlreichen jüdischen Friedhöfen in Deutschland wurden ab 1920 Obelisken, Gedenksteine und Denkmäler für die Gefallenen aus den jüdischen Synagogen-Gemeinden errichtet.[21] Aus Recklinghausen, der Partnerstadt Douais, waren vermutlich nicht mehr als hundert jüdische Soldaten im Kriegseinsatz, aber 15 von ihnen starben, teilweise in vorderster Front auf den Schlachtfeldern an der Somme, am Chemin des Dames, im Bois de Pêtre bei Pont à Mousson und am Hartmannsweilerkopf. Einer von ihnen war sogar Kriegsfreiwilliger. Bereits im November 1921, sechs Jahre bevor die Stadt Recklinghausen eine allgemeine Gedenkstätte errichtete, konnte die jüdische Gemeinde in Recklinghausen ihr eigenes Kriegerdenkmal auf dem Jüdischen Friedhof im Norden der Stadt einweihen.

Die jüdischen Gemeinden und Vereine entwickelten ab 1920 epigrafische Ausdruckformen, die in der Geschichte der abendländischen Emblematik etwas Besonderes darstellen. Auf vielen Ehrenmalen tauchen der Davidstern und das Kreuzzeichen gemeinsam auf: Nicht um zum Ausdruck zu bringen, dass jüdische Soldaten zum Christentum konvertiert waren, sondern um den berühmten Militärorden des Eisernen Kreuzes darzustellen. Die preußischen Traditionen der Ehrenzeichen waren zu Beginn des 19. Jahrhundert nämlich noch viel stärker dem Kreuzzeichen verpflichtet als im napoleonischen Frankreich: Das Eiserne Kreuz war vom preußischen König Friedrich Wilhelm III. im März 1813 im Kampf gegen Napoleon gestiftet worden und sollte an Soldaten aller Dienstgrade verliehen werden. Diese Ordensstiftung wurde im Juli 1870 und im August 1914 erneuert. Nachdem es ab 1914 auch als taktisches Zeichen am Heck und auf den Flügeln von Kampfflugzeugen auftauchte, entwickelte sich dieses Kreuz im 20. Jahrhunderts bekanntlich zum allgemeinen Erkennungszeichen für das deutsche Militär. Diesem fühlten sich auch die jüdischen Veteranen von 1914-1918 eng verbunden.

Fazit

Der Patriotismus der deutschen Juden im frühen 20. Jahrhundert wurde von dem bedeutenden deutschen Historiker Golo Mann folgendermaßen beschrieben: Schließlich bestand das Gros des deutschen Judentums […] weder aus polnischen Kaftan-Juden, noch aus überintellektuellen, Frankreich verherrlichenden Literaten. Es war anpassungswillig, es war im späten 19. Jahrhundert, im frühen 20. Jahrhundert längst gründlich angepasst, dieses rheinische und schlesische und ostpreußische, dieses badische, schwäbische, bayerische Judentum. Es war deutsch in seinen Tugenden, deutsch in seinen Untugenden, es war patriotisch, es war überwiegend konservativ. Diese jüdischen Kaufleute, Ärzte, Gelehrte, diese jüdischen Kriegsfreiwilligen von 1914 – es gab gar nichts Deutscheres. Sie konnten darum auch einfach nicht begreifen, einfach nicht glauben, was ihnen seit 1933 geschah oder drohte. Das vor allem erklärt, warum so viele nicht bei Zeiten Deutschland verließen, sondern blieben, bis es zu spät war[22].

[1]              Vgl. hierzu Ulrike Heikaus: Krieg! Juden zwischen den Fronten 1914-1918, Ausstellungskatalog, hg, vom Jüdischen Museum München, München 2014.

[2]           Ein besonderes Beispiel ist der bedeutende Chemiker und Nobelpreisträger Fritz Haber (1868-1934). Zusammen mit Carl Bosch entwickelte er schon 1909/10 ein Verfahren, durch welches Ammoniak auf synthetischem Weg, d.h. aus dem Stickstoff in der Luft, hergestellt werden kann. War diese Erfindung zunächst hauptsächlich für die Produktion von Kunstdünger gedacht, verhinderte sie aber auch, dass das Deutsche Reich aus Mangel an Artillerie-Munition bereits im Oktober 1914 kapitulieren musste. Der synthetische Ammoniak ersetzte nämlich den Salpeter aus Chile. Dieser Rohstoff stand wegen der britischen Blockade für die Sprengstoffherstellung nicht mehr zur Verfügung. Im Herbst 1914 begannen Habers grundlegende Experimente mit Chlorgas, die im Frühjahr 1915 zum erstmaligen Einsatz von Giftgas an der Ypern-Front führten. Dietrich Stoltzenberg, Fritz Haber. Chemiker, Nobelpreisträger, Deutscher, Jude. Weinheim 1998; Margit Szöllösi-Janze, Fritz Haber (1868-1934). Eine Biografie. Munich, 1998.

[3]           https://www.deutschlandfunk.de/erster-weltkrieg-als-juedische-soldaten-fuer-deutschland.886.de.html?dram:article_id=289401; Philippe Efraim Landau, Juifs francais et allemands dans la Grande Guerre, in : Vingtième Siècle. Revue d’histoire No. 47, juillet-septembre 1995, S. 70-76; Philippe Efraim Landau, Les Juifs de France et la Grande Guerre. Un patriotisme républicain 1914-1941, Paris, 1999; https://www.spiegel.de/geschichte/juedische-soldaten-im-ersten-weltkrieg-a-975473.html; https://www.sueddeutsche.de/politik/juedische-soldaten-im-ersten-weltkrieg-undank-des-vaterlandes-1.2301076

[4]           Avraham Barkai, Wehr Dich! Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens 1893-1938, Munich, 2002.

[5]           Landau, Juifs français et allemands dans la Grande Guerre, op. cit., S. 73-74.

[6]           https://de.wikipedia.org/wiki/Burgfriedenspolitik;  Zur Überlieferung der Rede vgl. https://www.1000dokumente.de/index.html?c=dokument_de&dokument=0081_kwi. Der Kaiser sagte wörtlich: Geehrte Herren! In schicksals-schwerer Stunde habe ich die gewählten Vertreter des deutschen Volkes um mich versammelt. Fast ein halbes Jahrhundert lang konnten wir auf dem Wege des Friedens verharren. Versuche, Deutschland kriegerische Neigungen anzudichten und seine Stellung in der Welt einzuengen, haben unseres Volkes Geduld oft auf harte Proben gestellt. […] . Mit schwerem Herzen habe ich meine Armee gegen einen Nachbarn mobilisieren müssen, mit dem sie auf so vielen Schlachtfeldern gemeinsam gefochten hat. […] Auf Sie, geehrte Herren, blickt heute, um seine Fürsten und Führer geschart, das ganze deutsche Volk. Fassen Sie Ihre Entschlüsse einmütig und schnell. Das ist mein innigster Wunsch. Sie haben gelesen, m. H., was ich zu meinem Volke vom Balkon des Schlosses aus gesagt habe. Hier wiederhole ich: ich kenne keine Partei mehr, ich kenne nur Deutsche! Zum Zeichen dessen, daß sie fest entschlossen sind, ohne Parteiunterschied, ohne Stammes-unterschiede, ohne Konfessionsunterschied durchzuhalten mit mir durch dick und dünn, durch Not und Tod, fordere ich die Vorstände der Parteien auf, vorzutreten und mir das in die Hand zu geloben.

[7]           Leo Winz, Der Krieg als Lehrmeister, in: Ost und West. Illustrierte Monatsschrift für das Gesamte Judentum, XIV. Jahrgang, Heft 9-12, September–Dezember 1914, Sp. 625-640.

[8]           Zum Folgenden Karl Otto Watzinger, Ludwig Frank. Ein deutscher Politiker jüdischer Herkunft. Mit einer Edition Ludwig Frank im Spiegel neuer Quellen, bearbeitet von Michael Caroli, Jörg Schadt und Beate Zerfaß, Sigmaringen, 1995; Knut Bücker-Flürenbrock, Der vergessene „Flügelmann Frank“. Mit dem badischen Sozialdemokraten Ludwig Frank fiel 1914 ein wichtiger Repräsentant des gemäßigten Flügels seiner Partei, in: Junge Freiheit, Ausgabe vom 25. November 2011; Michael Berger, Eisernes Kreuz, Doppeladler Davidstern. Juden in deutschen und österreichisch-ungarischen Armeen. Der Militärdienst jüdischer Soldaten durch zwei Jahrhunderte, Berlin, 2010, S. 84-102; Günter Regneri, Denkmal: An wen erinnern wir uns. Oder warum nicht? Das Beispiel Ludwig Frank, in Archivmitteilungen. Archiv der Arbeiterjugend II/2014, S. 22-27.

[9]           Reichsbund jüdischer Frontsoldaten (Hg.), Kriegsbriefe gefallener deutscher Juden. Berlin, 1935, S. 41.

[10]           Die Offizierslaufbahn bis zum Rang eines Generals zu absolvieren, war den deutschen Juden weiterhin nicht möglich, anders als in den Streitkräften des British Empire. John Monash (1865–1931), ein australischer General mit jüdischer Abstammung aus Krotoszyn (Preußen, ab 1918: Polen), kommandierte am Ende des Krieges das australisches Armee-Corps. Unter seinem Befehl schlugen die Alliierten Ende April 1918 die deutschen Truppen aus Villers-Bretonneux zurück. Auch am erfolgreichen alliierten Großangriff bei Amiens am 8. August 1918 war er beteiligt. http://hamelfriends.free.fr/monash.htm; https://fr.wikipedia.org/wiki/John_Monash; Geoffrey Serle, John Monash. A Biography, Melbourne, 2002, S. 1-24 et 326-370; http://adb.anu.edu.au/biography/monash-sir-john-7618.

[11]           Egmond Zechlin, Die deutsche Politik und die Juden im Ersten Weltkrieg. Göttingen, 1969; Werner Angress, Das Deutsche Militär und die Juden im Ersten Weltkrieg, in Militärgeschichtliche Mitteilungen 19 (1976), S. 98-105. Helmut Berding, Histoire de l’antisemitisme en Allemagne, Paris, 1991, S. 154-175; David J. Fine, Jewish Integration in the German Army in the First World War. New York, 2012.

[12]           Michael Berger, „…liebt nächst Gott das Vaterland“. Jüdische Soldaten und ihre Rabbiner im Ersten Weltkrieg, in Der Schild 1 (2007), S. 11-13. Vgl. hierzu auch: https://www.deutschlandfunkkultur.de/hochdekoriert-dann-deportiert.984.de.html?dram:article_id=153473

[13]           https://de.wikipedia.org/wiki/Brussilow-Offensive

[14]           Diese strategische Krise wurde erst durch das sogenannte Hindenburg-Programm überwunden, mit dem ab September 1916 neue Ressourcen für die Rüstungswirtschaft mobilisiert werden konnten, ebenso durch eine ca. 70 km lange Frontbegradigung zwischen Arras und Soissons („Operation Alberich“), durch die ab Februar/März 1917 erhebliche militärische Kräfte freigesetzt wurden.

[15]           https://de.wikipedia.org/wiki/Judenzählung; Ulrich Sieg, Judenzählung, in Gerhard Hirschfeld / Gerd Krumeich / Irina Renz (Hg.), Enzyklopädie des Ersten Weltkriegs, Paderborn, 2004, S. 599-600; Michael Berger: Judenzählung und Zerfall des Burgfriedens, in Eisernes Kreuz, Doppeladler Davidstern, op. cit., S. 50-106. Jacob Rosenthal, Die Ehre des jüdischen Soldaten. Die Judenzählung im Ersten Weltkrieg und ihre Folgen. Frankfurt am Main / New York, 2007, S. 40-10. Vgl. hierzu auch: https://www.zeit.de/2016/42/antisemitismus-im-ersten-weltkrieg-deutsches-reich; https://www.deutschlandfunkkultur.de/erster-weltkrieg-stolz-und-vorurteil.1079.de.html?dram:article_id=294059 Zur aktuellen Forschung vgl. auch: https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-6001 und: https://www.kas.de/documents/252038/253252/7_dokument_dok_pdf_13476_1.pdf/d6ce037e-05ec-38d0-5648-cd20c95bbdb7?version=1.0&t=1539663530954

[16]           Hitler polemisierte in seinem Buch „Mein Kampf“ folgendermaßen gegen die Juden: Die Kanzleien waren mit Juden besetzt. Fast jeder Schreiber ein Jude und jeder Jude ein Schreiber. […] Die Spinne begann, dem Volke langsam das Blut aus den Poren zu saugen. […] So befand sich schon im Jahre 1916/17 fast die gesamte Produktion unter der Kontrolle des Finanzjudentums, zitiert nach Thomas Weber, Hitlers erster Krieg Der Gefreite Hitler im Weltkrieg. Mythos und Wahrheit. Berlin 2012, S. 231; Zum Antisemitismus im Ersten Weltkrieg im Allgemeinen vgl. auch: http://www.antisemitismus.net/geschichte/weltkrieg.htm.

[17]           https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-6001

[18]           Ulrich Dunker, Der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten 1919-1938. Geschichte eines jüdischen Abwehrvereins. Düsseldorf, 1977.

[19]           Jacob Segall, Die deutschen Juden als Soldaten im Kriege 1914/18, in http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/freimann/content/titleinfo/1917022. Zur archivischen Überlieferung vgl. https://zentralarchiv-juden.de/bestaende/verschiedenes/deutsche-juden-im-ersten-weltkrieg/verzeichnis/ Vgl. hierzu auch: https://juedische-geschichte-online.net/quelle/jgo:source-133

[20]           http://www.volksbund.de/informationen/deutsche-juedische-soldaten.html.

[21]           Tim Grady, The German Jewish Soldiers of the First World War in History and Memory. Liverpool, 2011, S. 55-122; https://www.welt.de/geschichte/article117672645/12-000-juedische-Soldaten-fielen-fuer-Kaiser-Wilhelm.html

[22]           Der Antisemitismus. Wurzeln, Wirkung und Überwindung, Frankfurt am Main, 1961, S. 15. Golo Mann (1909-1984 war der Sohn des berühmten Schriftstellers und Nobelpreisträgers Thomas Mann, dessen Ehefrau Katja jüdischer Abstammung war. Golo Mann emigrierte im November 1933 nach Frankreich und lehrte an der École normale supérieure de St. Cloud und an der Université Rennes, bevor er und seine Familie 1939 in die USA auswanderten. Seine Memoiren sind auch in fran-zösischer Sprache erschienen: Une jeunesse allemande, Paris, 1998.