1919, 20. Januar: Antisemitismus bei den ersten demokratischen Wahlen in ganz Deutschland. Mitteilung der Deutschen Volkspartei (DVP), Ortsgruppe Recklinghausen, in der „Recklinghäuser Zeitung“ über Zurückweisung und Widerlegung anonym gedruckter antisemitischer Plakate, die nach Absicht unbekannter Urheber mit der DVP und den Wahlen zur Weimarer Nationalversammlung in Verbindung gebracht werden sollten.
Quelle: „Recklinghäuser Zeitung“, Ausgabe vom 20. Januar 1919, Verfasser: Dr. Matthias Kordes, Leiter des Stadt- und Vestischen Archivs Recklinghausen.
Das Wochenende des 18./19. Januar 1919 war geschichtsträchtig. Es standen weitreichende Weichenstellungen für die innen- und außenpolitische Entwicklung Deutschlands und Europas an. Am Samstag, 18. Januar 1919, trafen sich im französischen Außenministerium erstmals Vertreter der Siegermächte des Ersten Weltkrieges, um über einen Friedensvertrag zu verhandeln. Die volle öffentliche Aufmerksamkeit in Deutschland richtete sich aber auf einen bedeutenden innenpolitischen Vorgang: nämlich auf die Wahlen zur Weimarer Nationalversammlung am Sonntag, dem 19. Januar 1919. Deren Hauptziel sollte die Erarbeitung einer demokratischen, freiheitlichen und republikanischen Verfassung für ganz Deutschland sein, die auch den Juden volle Gleichberechtigung bescheren würde.
Grundlage für die Wahl vom 19. Januar 1919 war die mit Gesetzeskraft versehene Reichswahlverordnung vom 30. November 1918, die von den Lokalzeitungen am 8. Januar 1919 ganzseitig und in vollem Wortlaut veröffentlich wurde. Auch Frauen und Soldaten sollten nun wählen können, das Wahlalter wurde von 25 auf 20 Jahre herabgesetzt. Nie zuvor gab es so viele Wahlberechtigte: knapp 37 Millionen Menschen, von denen 83 Prozent zur Wahl gingen.
Ende November 1918 hatte sich in Deutschland ein neues, erweitertes Parteienspektrum etabliert. Neben den bereits etablierten Parteien (Zentrum, SPD, USPD) stellten sich 1919 auch in Recklinghausen Parteien zur Wahl, die sich in den ersten Wochen nach dem Zusammenbruch der monarchischen Herrschaft in Deutschland formiert hatten (vor allem: DDP, DVP und DNVP), eine Ausnahme bildete nur die zur Jahreswende 1918/19 entstandene KPD, die sich zunächst dem parlamentarischen System völlig verweigerte.
Der politische Liberalismus trat ab Ende 1918 in zwei Parteien auf: Erstens in der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP), die auch von vielen Jüdinnen und Juden in Deutschland gewählt wurde, und zweitens in Gestalt der nationalliberalen DVP, die am 15. Dezember 1918 gegründet wurde und zu deren Vorstand auch der jüdische Rechtsanwalt Jakob Riesser aus Frankfurt am Main zählte. Ihre wohlhabende, konservative und nicht-katholische Wählerschaft bestand im Wesentlichen aus Industriellen, Bankiers, Angehörigen des Bildungs- und Wirtschaftsbürgertums und aus höherrangigen Beamten, die in mittleren und größeren Städten beheimatet waren. Die DVP, die in ihren Anfängen das Staatsmodell der konstitutionellen Monarchie favorisierte und unterschwellig auch völkisch-nationalistisches Gedankengut zuließ, verhielt sich gegenüber der neuen republikanischen Staatsform zunächst reserviert und kritisch. Unter dem Vorsitz von Gustav Stresemann, des späteren Reichsaußenministers, näherte sie sich aber ab 1919 dem modernen, demokratischen Staatskonzept der Weimarer Republik mehr und mehr an.
In Recklinghausen luden die Parteien zu zahlreichen Vorträgen und Kundgebungen in Wirtshäuser ein, im Anzeigenteil der Lokalzeitungen häufte sich Wahlwerbung. Der Januar 1919 offenbarte, forciert durch den Schock der deutschen Niederlage vom November 1918, das Schüren von Verschwörungstheorien über den plötzlichen Zusammenbruch des Kaiserreiches, durch bürgerkriegsähnliche Ereignisse in Berlin, aber auch eine Radikalisierung politischer Umgangsformen. Am rechten Rand des politischen Spektrums, vertreten durch die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) und unterstützt durch den Alldeutschen Verband bzw. den im Februar 1919 gegründeten „Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund“, wurde diffamierender und polarisierender Wahlkampf betrieben. In diesem Zusammenhang machte sich auch an manchen Orten in Westfalen aggressiver, lautstarker, schon in der zweiten Hälfte des Krieges virulent gewordener Antisemitismus breit, der sich gegen die sozialistischen Bestrebungen der Rätebewegung, gegen jüdische Bürger, die Novemberrevolution 1918, ihre vermeintlichen „Hintermänner“ sowie gegen jüdische Politiker der linken und liberalen Parteien richtete.
Recklinghausen blieb von dieser Entwicklung ebenfalls nicht verschont. Offenbar gab es in der Woche vor den Wahlen zur Nationalversammlung antisemitische Hetzparolen auf anonym gehaltenen politischen Plakaten, die man als gefälschte Druckerzeugnisse mit dem Wahlkampf der DVP in Verbindung bringen wollte. Die örtlichen Vertreter der DVP, angeführt von Josef Heitmann, dem Direktor der Recklinghäuser Filiale der „Essener Kreditanstalt“ (Königswall 24), sah sich sogar dazu genötigt, am Tag nach der Wahl zur Nationalversammlung (d.h. am Montag, dem 20. Januar 1919) in der „Recklinghäuser Zeitung“ eine öffentliche Stellungnahme zu platzieren, in welcher man die in „verletzender“ bzw. „verhetzender Weise“ geschehene Agitation „gegen unsere jüdischen Mitbürger“ ausdrücklich verurteilte und die DVP als Partei darstellte, welche die „Einigkeit des gesamten Volkes“ propagierte.
Die Wahl zur Nationalversammlung verlief in Recklinghausen ohne Zwischenfälle; gewählt wurden nicht Einzelpersonen, sondern „Listen“ von sog. Wahlvorschlägen einer bestimmten Partei. Direktkandidaten, die für einen bestimmten Stadt- oder Landkreis zu wählen waren, sah das Wahlrecht somit nicht vor. Recklinghausens Ergebnisse hatten bei einer vergleichsweise hohen Wahlbeteiligung von rund 78 Prozent ein Gepräge, das durch örtliche Sozialmilieus bestimmt war: der bürgerliche Norden grenzte sich deutlich vom montanindustriellen Süden ab, vorherrschend in der Stadt waren der Katholizismus und seine politisch-gewerkschaftlichen Organisationen. Die Wahlergebnisse in Zahlen: SPD: 37,2% (Reich: 37,9%), Zentrum: 44,9% (Reich: 19,7%), DDP: 8,2% (vermutlich auch von vielen Juden in Recklinghausen gewählt; Reich: 18,5%), DVP: 7,4% (Reich: 4,4%). Auffallend ist das schwache Abschneiden dezidiert antisemitisch-rechter bzw. linker Parteien: DNVP: 1,8% (Reich: 10,3%), USPD: 0,4% (Reich: 7,6%).
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