13. November 1921: Erinnerung an die Gefallenen des Ersten Weltkrieges aus Recklinghausen am neuen Mahnmal auf dem Jüdischen Friedhof
Quelle: „Recklinghäuser Zeitung“, Ausgabe vom 14. November 1921, Verfasser: Dr. Matthias Kordes, Leiter des Stadt- und Vestischen Archivs Recklinghausen.
In den ersten Jahren nach Ende des Ersten Weltkrieges gab es in Deutschland noch keine landesweit vereinheitlichte, vom Reich, den Ländern und den Kommunen mitgestaltete Gedenkkultur hinsichtlich der Opfer und Gefallenen des Ersten Weltkrieges. Ein Volkstrauertag, der regelmäßig und öffentlich am zweiten Sonntag vor Advent begangen wird, war noch nicht etabliert. Es gab auf lokaler Ebene Versammlungen und Trauerveranstaltungen meist auf Friedhöfen, die sich am Datum des Kriegsendes, d.h. des Waffenstillstandes vom 11. November 1918 orientierten, wiewohl auf den Friedhöfen in Deutschland ja so gut wie keine Gräber deutscher Soldaten des Ersten Weltkrieges zu finden waren.
Auch in Recklinghausen wählte man diese Vorgehensweise; auf eine amtlich ermittelte Übersicht über Zahl und Namen aller Kriegstoten aus Recklinghausen konnte man allerdings noch nicht zurückgreifen. Aus gegebenem Anlass kamen also Oberbürgermeister Sulpiz Hamm (seit 12. September 1919 im Amt, von August 1914 bis November 1918 selbst Offizier an der Westfront), Vertreter des Magistrates und der Stadtverordnetenversammlung sowie bestimmter Vereine (hier: Kriegervereine, Ortsgruppen des Vereins ehemaliger Kriegsgefangener sowie des Einheitsverbandes der deutschen Kriegsbeschädigten und Hinterbliebenen) zusammen, und zwar nicht im Rathaus, sondern auf drei Friedhöfen im Recklinghäuser Norden. Dort sollten Kränze niedergelegt sowie Trauergesänge, Reden und Gebete gehalten werden. Die Besonderheit des 13. November 1921 bestand darin, dass die Synagogengemeinde Recklinghausen auf ihrem seit 1904 bestehenden Friedhof am Nordcharweg der Öffentlichkeit ihr neues Mahnmal präsentierte, das für Recklinghausen das erste große und öffentlich sichtbare Zeichen des Gedenkens an die Kriegsgefallenen darstellte.
Die „Recklinghäuser Zeitung“ berichtete am Montag, dem 14. November darüber, dass sich die Trauerversammlung am Sonntagmorgen (13. November 1921) ab 8 Uhr erst auf dem evangelischen Friedhof an der Halterner Straße (eingeweiht 1903) einfand und dann
[…] „zum israelischen Friedhofe“ [weiterging], „wo im Anschluss an die Gedenkfeier gleichzeitig die Enthüllung des von der israelischen Gemeinde für die im Kriege gefallenen Gemeindeangehörigen errichteten Denkmals stattfand. Das Denkmal, in Sandstein gehauen – auf der Vorderseite sind die Namen der Gefallenen eingehauen – stellt eine recht schöne, künstlerische Leitung und eine würdige Form der Kriegerehrungen dar. Es ist nach dem Entwurfe von Architekt Schwieters aus der Werkstatt der Firma Lohmann und Frankenstein hervorgegangen. Der Vorsitzende des Vorstandes der Synagogengemeinde Herr Katz[1] eröffnete die Feier mit einem kurzen Hinweis auf ihren Zweck und ihre Bedeutung. Kantor Soffe sang vom Psalm 103 die Verse 15–17.[2] Dann folgte die Gedenkrede des Rabbiners Dr. Silberberg.[3] Wie er mitteilte, sind 16 Mitglieder aus der israelischen Gemeinde auf dem
Felde der Ehre geblieben, nicht einer habe sein Grab in heimischer Erde gefunden, daher könne man nicht an ihren Gräbern ihrer gedenken, die Erinnerung an sie solle dies Denkmal wachhalten. Er knüpfte sodann an die Worte der Schrift an: Wo Liebe und Treue sich begegnen, da umfangen sich Gerechtigkeit und Friede. Liebe und Treue, beides haben unsere Helden sterbend geübt und beides sollen auch wir lebend bestätigen, ob es auch Opfer kostet. Um dazu neuen Mut zu schöpfen, nicht um zu klagen, sind wir hier zu dieser Feier versammelt. Nach einem hebräischen Gebet für die Seelenruhe der Toten[4] erfolgte die Kranzniederlegung durch die gleichen Herren wie auf dem evangelischen Friedhofe; der Männerchor trug zwei Lieder vor, dann setzte sich der Zug in Bewegung zum katholischen Friedhofe […].“
[1] Richard Katz, Repräsentant der Synagogengemeinde Recklinghausen, vgl. hierzu: Opferbuch Verzeichnis | Stadt Recklinghausen.
[2] „Ein Mensch ist in seinem Leben wie Gras, er blüht wie eine Blume auf dem Felde; wenn der Wind darüber geht, so ist sie nimmer da, und ihre Stätte kennet sie nicht mehr. Die Gnade aber des H*RRN währt von Ewigkeit zu Ewigkeit über denen, die ihn fürchten, und seine Gerechtigkeit auf Kindeskind“
[3] Dr. Moritz Silberberg, geb. a, 16. Dez. 1867 in Posen, gest. März 1932 in Berlin. Abitur in Posen, theologisches Studium in Halle und Berlin; Rabbinatszeugnis 1893, Religionslehrer in Beuthen/Oberschlesien; Rabbiner in der Kreisstadt Grätz (Reg.-Bez. Posen), in der Kreisstadt Schrimm (Reg.-Bez. Posen), zweiter Rabbiner an der Neuen Synagoge Posen; ab Juni 1921 Nachfolger des Dr. Joseph Weiß beim Verein zur Wahrung des überlieferten Judentums in der Provinz Westfalen in Recklinghausen, ab 1928 Rabbiner und Religionslehrer in Berlin; Mitglied in der Vereinigung der traditionell-gesetzestreuen Rabbiner Deutschlands, im Bund jüdischer Akademiker und im Deutschen Reichsverband jüdischer Religionslehrer. vgl. hierzu: Biografisches Handbuch der Rabbiner. hg. von Michael Brocke und Julius Carlebach. Teil 2: Die Rabbiner im Deutschen Reich 1871–1945, berab. v. Katrin Nele Jansen; Bd. 2: Landau–Zuckermann, München 2009, S. 572. (online: BiogrHB_Rabbiner_Teil2_1_Titel.qxp (steinheim-institut.de).
[4] Gemeint ist das Kaddisch: vgl. hierzu: Das Kaddisch-Gebet – talmud.de; Kaddisch – Wikipedia; Das jüdische Kaddisch-Gebet – Leben, Tod und Inspiration (Archiv) (deutschlandfunkkultur.de)