1923, 12. Februar: Zeitungsanzeige über die Einleitung gerichtlicher Schritte gegen unbekannte Verleumder des Recklinghäuser Textilkaufmanns Otto Cosmann
Quelle: Stadt- und Vestisches Archiv Recklinghausen, Bestand Altregistratur Einwohnermeldeamt, Verfasser: Dr. Matthias Kordes, Leiter des Stadt- und Vestischen Archivs Recklinghausen.
Anfang 1923 stand das Ruhrgebiet im Mittelpunkt europäischer Politik. Es ging um unerfüllte deutsche Reparationsverpflichtungen, die sich aus dem Friedensvertrag von Versailles ergaben. Unter dem Vorwurf vorsätzlich ausgebliebener deutscher Lieferungen von Kohle, Holz, Telegrafenstangen und Pflastersteinen besetzte ab dem 11. Januar 1923 eine mehr als 60.000 Mann starke französisch-belgische Streitmacht nahezu das gesamte Ruhrgebiet. Schon bald nach dem Einmarsch waren über 2.000 französische Soldaten in Recklinghausens stationiert.
Um sich auf internationaler Bühne nicht dem Vorwurf einer völkerrechtswidrigen militärischen Aggression auszusetzen, wurde diese Maßnahme als bewaffnete Eskorte einer Kommission von 72 französischen, belgischen und italienischen Ingenieuren und Technischen Beamten deklariert: Diese sollte den Zustand von Zechen, Kokereien und Eisenbahnen prüfen und für französische und belgische Ansprüche nutzbar machen. Seit der Londoner Konferenz von August 1922 galt nämlich das Ruhrgebiet mit seiner leistungsstarken Montanindustrie als einträgliches Pfand für unbefriedigte alliierte Forderungen gegen das Deutsche Reich.
Die empörte deutsche Öffentlichkeit, die sich in einer unschuldigen Opferrolle sah, sprach hingegen von Ruhreinbruch und Ruhrkampf, ja sogar von Ruhrkrieg und Ruhrschlacht; feindselige Propaganda feuerte die Stimmung auch in Recklinghausen immer weiter an. In nationalistisch aufgeheizter Atmosphäre suchten völkisch-rechtsradikale Gruppierungen die Gelegenheit, antisemitische motivierte Gerüchte und Verleumdungen in Umlauf zu bringen: Es hieß hinter vorgehaltener Hand, national „unzuverlässige“ Juden im Ruhrgebiet würden – ähnlich wie auch polnischstämmige Bergleute – heimlich mit der völkerrechtswidrig agierenden Besatzungsmacht bzw. deren Spitzel und Agenten kollaborieren und zur Steigerung eigenen Profits lukrative Geschäfte mit den Eindringlingen machen.
Am 15. Januar 1923 wurde Recklinghausen von französischen Truppen besetzt. Die Recklinghäuser Kaufmannschaft und die Gewerbetreibenden hatten sich am 7. Februar 1923 darauf geeinigt, keine Geschäftskontakte mit französischen Militärs mehr zu pflegen, woraufhin der Stadtkommandant, Divisionsgeneral Laignelot, erhebliche Repressionen in Gang setzen ließ. Vieles spricht dafür, dass sich auf Betreiben anonymer Kreise dieser Boykottbeschluss vom 7. Februar nun gezielt gegen das Haus Cosmann richten sollte, und zwar durch üble, rufschädigende Nachrede im Sinne von Verrat und Kollaboration.
Dessen Chef Otto Cosmann reagierte darauf, indem er sich umgehend auch juristisch gegen diese haltlosen Lügen und Hetzreden wehren wollte. Er tat das nicht zum ersten Mal: Im Frühjahr 1920 war nämlich bereits kolportiert worden, die Cosmanns paktierten mit den Kommunisten von der sog. Roten Ruhrarmee, auch damals ging der Geschädigte gerichtlich dagegen vor. Im Februar 1923 wiederum bat Cosmann die Recklinghäuser Öffentlichkeit per Zeitungsannonce um Mithilfe bei Ermittlung unbekannter Verleumder und lobte Belohnungen für sachdienliche Hinweise aus. Die auffallend hoch bezifferten Geldbeträge waren freilich der damaligen Inflation geschuldet; die Entwertung der Mark-Währung, deren Parität zum US-Dollar Mitte Februar 1923 bei 27.800 : 1 stand, nahm nach Beginn der Ruhrbesetzung einen immer dramatischeren Verlauf. Über Gang und Ergebnis eines Gerichtsverfahrens, das bei erwiesener Verleumdung lt. § 187 Strafgesetzbuch (in der Fassung von 1871) bis zu zwei Jahre Haft gegen den Übelredner hätte bedeuten können, ist indes nichts weiter bekannt.
Otto Cosmann wurde am 3. Januar 1871 in Recklinghausen geboren, er gehörte in dritter Generation der seit 1815 (siehe unter 1815 und 1816) in Recklinghausen nachweisbaren und ansässigen Recklinghäuser Händlerfamilie Cosmann an, deren Begründer Jonas Cosmann ursprünglich Viehhändler in Castrop war. Otto Cosmann legte 1889 die Abiturprüfung am Gymnasium Petrinum ab, leistete Militärdienst und absolvierte seine kaufmännische Ausbildung u.a. in Bremen und München. 1905 wurde er Geschäftsführer des bereits 1867 gegründeten Textilkaufhauses Cosmann am Markt 11 (in einer damaligen Geschäftsanzeige hieß es: „Manufaktur- und Modewaren, Damen- und Herrenkonfektionen, Aussteuer, Gardinen“). Zusammen mit seinem Vater David Cosmann jun. führte er das Textilhaus bis 1929 zu hohem Ansehen und – bei anspruchsvoller architektonischer Neugestaltung des Kaufhauses – zu wirtschaftlicher Blüte; die Entwicklung der Einkaufsstadt Recklinghausen ist bis 1929 maßgeblich und unmittelbar mit der Familiengeschichte Cosmann verbunden.
Ebenfalls 1905 heiratete Otto Cosmann Anna geb. Weyl aus Elberfeld, wo in der Konfektionsindustrie jüdische Unternehmerfamilien schon seit dem 19. Jahrhundert eine besondere Rolle spielten. Aus der Ehe gingen drei Kinder hervor: Luisa, Lilli und Fritz. 1928 engagierte er sich für den Erhalt der Reste des Jüdischen Friedhofs am Börster Weg, 1929 verkaufte er sein Handelsunternehmen samt Kaufhaus an die Firma Althoff (Karstadt AG) und zog ins Rheinland, und zwar auf die Rondorfer Straße 9, gelegen im vornehmen Villenvorort Köln-Marienburg. Im April 1933 jedoch musste Otto Cosmann seine 1929 rechtmäßig erworbenen Vermögensanteile der Karstadt AG zurückerstatten, 1939 emigrierte er mit seiner Familie in die Niederlande und überlebte den Holocaust versteckt in Brüssel. 1948 erfolgte von dort aus die Emigration nach Israel, wo er 1963 im Kibbuz Yagur (Bezirk Haifa, gegründet 1922) starb.
Literatur:
Georg Möllers: Die Cosmanns: Der vergebliche Patriotismus einer liberalbürgerlichen jüdischen Familie aus Recklinghausen, in: Vestischer Kalender 2014, S. 167-180.